Michael von Hauff Neue Selbsthilfebewegung und staatliche Sozialpolitik Michael von Hauff Neue unci staatrKhe Sozialporlllll Eine analytische Gegeniiberstellung r[)'fll:\n DeutscherUniversitiitsVerlag ~ GABLER 'VIEWEG ·WESTDEUTSCHER VERLAG CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hauff, Michael von: Neue Selbsthilfebewegung und staatliche Sozialf>Olitik : eine analytische Gegenuberstellung / Michael von Hauff. - Wiesbaden : Dt. Univ.-Verl., 1989 Zugl.: Stuttgart, Univ., Habil.-Schr., 1987 ISBN-13: 978-3-82444009-2 e-ISBN-13: 978-3-322-83907·7 DOl: 10.1007/978-3-322·83907-7 Institut Arbeit und Technik -Bibliothek- Der Deutsche Universitats-Verlog ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann. © Deutscher Universitats-Verlog GmbH, Wiesbaden 1989 Dos Werk einschlieBlich aller seiner Te ile ist urheberrechtlich ge schutzt. Jede Verwertung ouBerhalb der engen Grenzen des Ur heberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzul.9ssi9 und strofbar. Das gilt insbesondere fUr Vervielfaltigungen, Uber setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verar· beitung in elektronischen Systemen. ISBN-13: 978-3-82444009-2 Vorwort Die Bundesrepublik Deutschland gilt im intemationalen Vergleich als hochentwickelter Sozialstaat, in dem ein umfassendes sozialpolitisches Leistungsangebot bereitsteht. Dennoch kommt es z.T. offensichtlich nicht zu einer befriedigenden Versorgung mit sozialpolitischen Dienstleistungen: seit Mitte der 70er Jahre entwickelte sich eine Oberwiegend sozialpolitisch ausgerichtete Selbsthilfebewegung. Wahrend die neue Selbsthilfebewegung in zunehmendem Mafie wissenschaftlich erschlossen wird, fehlt es bisher an grundlegenden Analysen der ~ntstehungsursachen der neuen Selbsthilfebewegung in dem Sozialstaat Bundesrepublik. Dabei stellt sich besonders die Frage nach der Leistungsfahigkeit und auch der Leistungsgrenze eines hochentwickelten Sozialstaates einerseits und jener der neuen Selbsthilfebewegung andererseits. Ferner ist yon Interesse, ob und wie es zwischen diesen sozialpolitischen Sektoren zu produktiven Kooperationsebenen kommen kann. Die vorIi egende Untersuchung ist die gekOrzte Fassung meiner Habilitationsarbeit, die 1987 an der Universitat Stuttgart eingereicht und angenommen wurde. FOr besonders anregende Diskussionen danke ich Frau Prof. Endress und Herm Prof. Schnabl. Ferner gilt meln Dank einer Reihe von Selbsthllfelnstitutionen und ·Selbsthilfefachleuten" fOr vielfaltige Anregungen und Unterstotzungen, wobei ich die Selbsthilfezentren in Berlin und MOnchen hervorheben mochte. FOr die mOhevolle und geduldige Anfertigung des Manuskriptes danke ich besonders Frau Prag und Herm Beine. Stuttgart, Juli 1988 Michael v. Hauff VII Inhalt I. Einleitung 2. Die neue Selbsthilfebewegung und ihre sozial politische Bedeutung 7 2. I Historischer Exkurs: Die soziale Bewegung im 19. Jahrhundert 15 2.2 Ursachen und Motive der neuen Selbsthilfebewegung 17 2.3 Theoretischer Bezugsrahmen 22 2.4 Sozialpolitische Selbsthilfebereiche 31 2.4.1 Selbsthilfe im Gesundheitsbereich 34 2.4.2 Selbsthilfe alter Menschen 41 2.4.3 Selbsthilfe und Sozialhilfeempfanger 46 2.5 Die sozialpolitische Relevanz der neuen Selbst- hilfebewegung 51 3. Strukturmerkmale und Aktionsrahmen staatlicher Sozialpolitik 58 3.1 Das Problem der Abgrenzung und inhaltlichen Konkretisierung des Sozialstaates 59 3.2 Funktionen staatlicher Sozialpolitik im Modell des sozialen Kapitalismus 63 3.3 Sozialpolitische Prinzipien 71 3.3.1 Individuelle Freiheit und soziale Sicherheit 72 3.3.2 Soziale Gerechtigkeit 71 3.3.3 Solidaritat und Subsidiaritat 81 3.4 Aktionsrahmen staatlicher SozialpoHtik 90 VIII 3.5 Elne krltlsche 8estandsaufnahme der staatllchen SozlalpoJltlk 99 3.5.1 Dte sozlalpoHtlsche Restauratlon nach 1945 100 3.5.2 Okonomlslerung und Verrechtllchung 103 3.5.3 Unbewlltlgte Probleme der neueren SozlalpoHtlk 106 3.5.3. IDle mange Inde Transparenz der Sozlal1eistungen 107 3.5.3.2 Der incrementale Charakter der Sozialpolitik 110 3.5.3.3 EntsenstbiHsierung durch die Starr- heit sozialstaatltcher 8urokratien III 3.5.4 Abschlie8ende 8eurteilung 114 4. Die Entscheidungsflndung im Rahmen der staatlichen Sozialpolitik I 17 4.1 Sozialpolltlsch relevante 8edurfnisstrukturen und thre Artikulatlon - Die Nachfrageseite 126 4.1.1 Entstehung von sozialpolitisch relevanten 8edurfnissen 131 4.1.2 Erwartungen und Artikulation 137 4.2 Partejen als Adressaten sozialpolitisch relevanter 8edurfnisse 143 4.2.1 Parteipolitische Maximen 146 4.2.2 Ole 8ezlehungen zwischen Parteien und Wihlern 150 4.3 Interessenorganisattonen als Obermtttier sozialpolitischer Interessenlagen 154 IX 4.3.1 Die sozialpolitisch relevanten Interessen- organ i sati onen 156 4.3.2 lobbyistische Aktivitaten als Interessen- politik 159 4.3.3 Die sozialpolitischen Adressaten der lobbyisten 159 4.3.3.1 Parlament und AusschOsse 160 4.3.3.2 Regierung und MinisterialbOrokratie 162 4.3.4 Beurteilung der lobbyistischen Aktivitaten 163 4.4 Die Regierung als Entscheidungsorgan - Die Angebotsseite 168 4.4.1 Systematisierung und Wirkungsweise sozialpolitischer Regierungsinstitutionen 173 4.4.2 Entscheidungsmaximen politischer Akteure 179 4.5 Defizite staatlicher Entscheidungsfindung 185 5. Die Beziehung staatlicher Sozlalpolitik zur neuen Selbsthilfebewegung 189 5.1 Sozialpolitische Prinziplen und Selbsthilfe 191 5.1.1 Subsidiaritat und neue Selbsthilfebewegung 192 5.1.2 Solidaritat und neue Selbsthilfebewegung 198 5.2 Alternative Beziehungsverhaltnisse 201 5.2.1 Die Kompensationsthese 202 5.2.2 Die UnterstOtzungsthese 205 5.2.3 Die Vereinnahmungsthese 210 5.3 Organisationsformen der Selbsthilfe 212 5.3.1 Der gemeinwirtschaftliche bzw. genossen- schaftliche Ansatz 214 x 5.3.2 O1e Sozialgemeinde als O1ensUeistungs- verband 216 5.3.3 O1e Ankoppelung an Wohlfahrtsverbinde 219 5.3.4 Nationale Vereinigung von Selbsthi1fe- zusammenschl0ssen 220 5.3.5 Selbsthi1fe-lnformationszentren 222 5.4 Der Rahmen eines Kooperationskonzeptes 232 5.4.1 Theoretische Grundlagen eines Kooperationskonzeptes 233 5.4.2 Probleme einer Selbsthi1feinfrastruktur 237 5.4.3 Die Struktur eines Kooperationskonzeptes 240 6. ResOmee 245 Uteratur 251 I. Einleitung In entwickelten kapitalistischen U~ndern werden sozialpolitische Leistungen in vielfaltiger Weise und von unterschiedlichen Tragern erstellt. Die staatliche Sozialpolitik dominiert zweifellos sowohl qualitativ als auch quantitativ. Dabei steJJt sich prinzipiell die Frage, welchen Stellenwert die Selbsthilfe hat. Das gilt besonders fOr die Bundesrepublik Deutschland, in der neben einem sehr umfangreichen sozialpolitischen Leistungsangebot in den letzten Jahren - auf den ersten Blick etwas unvermittelt eine beachtliche Selbsthilfebewegung aufkam. Sie konnte in ihrer ganzen Tragweite bisher nicht erfaJ3t werden. Das gilt auch hinsichtlich der Auswirkungen bzw. Konsequenzen fOr die staatliche Sozialpolitik. Eine Erklarung dieses Phanomens erfordert daher eine grundlegende Analyse beider Komplexe "neue Selbsthilfebewegung" und "staatliche Sozialpolitik", um eine Darstellung und Bewertung vornehmen zu konnen. Auffallend ist u. a., daB sozialpolitisch relevante Selbsthilfeaktivitaten in der Bundesrepublik bis Mitte der 70er Jahre von untergeordneter Bedeutung waren, obwohl sie gerade in Deutschland eine groBe Tradition haben. Es soli hier nur an das Gewerkschaftswesen erinnert werden, das wohl bis heute die bedeutendste Selbsthilfeorganisation ist. Auch in der staat lichen Sozialpolitik der Bundesrepublik wird die Selbsthilfe beispielsweise in der Sozialhilfe explizit gefordert. Dennoch kam es bei der umfassenden staatlichen Sozialpolitik bis Anfang der 70er Jahre nur zu vereinzelten Selbsthilfeinitiativen. Daher ist die neue Selbsthilfebewegung, die seit Mitte der 70er Jahre eine zunehmende Verbreitung verzeichnen kann, beachtenswert. Sie hat sich als eigenstandige Bewegung neben der staatlichen Sozialpolitik entwickelt und ist heute in allen wichtigen sozialpolitischen Bereichen anzutreffen. So ist auch der Begriff "Selbsthilfebewegung" zutreffend. 2 Seit Beginn der BOer Jahre fand die neue Selbsthilfebewegung auch in der wissenschaftlichen Diskussion und Literatur vermehrt Beachtung. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob die wissenschaftliche Zuwendung und ErschlieJ3ung sinnvoll und angemessen ist, da sowohl das Selbsthilfepotential als auch die Selbsthilfebewegung ausgesprochen sensible (Forschungs-)Bereiche sind. Die Gefahr einer Belastung bzw. ScMdigung der Selbsthilfegruppen oder der -bewegung ist jedoch von der wissenschaftlichen Intention und den angewandten Methoden abMngig. Es ist ein Unterschied, ob primar die Selbsthilfebewegung in ihrer Gesamtheit analysiert oder ob die Funktionsweise und Effizienz einzelner Selbsthilfegruppen erforscht wird. Bisher kann festgestellt werden, daJ3 der Selbsthilfebewegung - auch die wissenschaftliche - Aufmerksamkeit eher genOtzt als geschadet hat. In einer ersten Standortbestimmung kann die neue Selbsthilfebewegung als eine Form der informellen bzw. nichtstaatlichen sozialen Sicherheit klassifiziert werden. Damit ist die neue Selbsthilfebewegung kein Bestandteil staatlicher Sozialpolitik: Sie bewegen sich - auch in der Praxis - "nebeneinander" her. Bei einer ersten Betrachtung ist keine eindeutige Beziehungsstruktur zu erkennen. Dennoch gibt es bis heute nur wenige Beitrage, die sich den strukturellen und ordnungstheoretischen bzw. -politischen Rahmenbedingungen zuwenden. Daraus erklart sich auch das groJ3e Defizit hinsichtlich der faktischen und/oder potentiellen Beziehungsstrukturen zwischen neuer Selbsthilfebewegung und staatlicher Sozialpolitik. Das erklart sich u. a. daraus, daJ3 der Sozialpolitik als wirtschaftswissenschaftlicher Disziplin, im VerMltnis zu anderen Politikbereichen, eher eine untergeordnete Bedeutung zukam, was objektiv nicht gerechtfertigt ist. In der Bundesrepublik gilt das Sozialstaatsprinzip als tragendes Prinzip des Wirtschaftssystems. Damit kommt der staatlichen Sozialpolitik eine zentrale