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Neue alte Ungleichheiten: Berichte zur sozialen Lage der Bundesrepublik PDF

329 Pages·1986·11.337 MB·German
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Hans-Werner Franz· Wilfried Kruse· Hans-Gunter Rolff (Hrsg.) Neue alte Ungleichheiten Hans-Werner Franz· Wilfried Kruse· Hans-GUnter Raitt (Hrsg.) Neue alte Ungleichheiten Berichte zur sazialen Lage der Bundesrepublik Westdeutscher Verlag CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Neue alte Ungleichheiten: Berichte zur sozialen Lage der Bundesrepublik I Hans-Werner Franz ... (Hrsg.'. - Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986. ISBN-13:978-3-531-11818-5 e-ISBN-13:978-3-322-83755-4 001: 10.1007/978-3-322-83755-4 NE: Franz, Hans-Werner (Hrsg.) © 1986 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Umschlaggestaltung: Horst Dieter Burkle, Darmstadt Das Werk einschlieBlich alier seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzuliissig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfiiltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN-13:978-3-531-11818-5 VORWORT DER HERAUSGEBER Ungleichheit schien als Thema von Wissenschaft und Politik in den siebziger Jahren erie digt zu sein. Umso heftiger ist die Wiederkehr der Ungleichheits-Debatte in den achtziger Jahren. was seinerseits gewir.. politische Griinde hat: Die alten Ungleichheiten sind nicht nur wieder Thema. sie sind es in verscharfter Form. wie die Beispiele Einkommensvertei lung und Wohnungsversorgung deutlich machen. Wirklich neue Probleme gibt es nur wenige. Doch die haben es in sich. Nicht mehr gar so neu ist die "neue soziale Frage" der Dauerarbeitslosen. die -selbst Jugendliche miissen es befiirchten - zu Lebenslanglicharbeitslosen zu werden drohen. Dennoch besteht der begriindete Verdacht. dar.. dieses Problem so "bewaltigt" wird. wie in diesem unserem Lande hiiufig Vergangenheit bewiiltigt wird: durch Verdrangung. Durch Verdriingung an den Rand der Gesellschaft. in den Noch-nicht-Status der "So zialhilfeabhiingigen". Und welche Konsequenzen die mit der rationalisierenden Umwal zung gror..er Teile von Produktion und Dienstleistung verbundene "neue Spaltung" der lohnabhiingig Beschiiftigten haben wird. ist noch gar nicht in allen Weiterungen abzu sehen. Eine der Fragen: Was machen die Gewerkschaften ohne Facharbeiter? Und die anschlier..ende: Gibt es (soziale) Demokratie ohne Gewerkschaften? So neu. dar.. man sich zuniichst iiberwiegend in Vermutungen ergehen mur... ist die Frage. was wir unse ren Kindern antun. wenn wir sie der Flut der "Neuen Medien" aussetzen. Und noch immer neu ist die Frage. welche sinnvolle Beschiiftigung unsere Gesellschaft jener rasch wachsenden Gruppe von "Jungen Alten" zu bieten hat. die mit 50 bis 52 (Bergbau) oder 55 (Stahl) aus dem Erwerbsleben ausscheiden. wahrend pensionierte Bundeswehr offiziere da gerade ihre zweite Karriere beginnen.' Zuviel Freizeit als Problem von Ar beitslosen und Nicht-mehr-Erwerbstiitigen. auch das ist in der heutigen Form und Quan titiit neu. Die Versuchung war gror... Erklarungen fiir die Ursachen der alten und neuen Un gleichheiten zu erarbeiten. Wir kamen jedoch sehr bald zu der immer wieder erinne rungsbediirftigen Einsicht. dar.. wir uns bescheiden sollten mit einer Bestandsaufnahme und Untersuchung der Probleme anhand des verfugbaren oder beschaffbaren Materials. Wir - das sind rund vierzig (mit einer Ausnahme) Dortmunder Sozialwissenschaftler. die sich vor zwei Jahren das umfassende Querschnittsthema "Soziale Ungleichheit und neue Probleme in den achtziger Jahren" -so der urspriingliche Arbeitstitel - vornahmen. um es. jeder aus dem Blickwinkel seines Fachgebietes. gemeinsam zu bewiiltigen. Der Initiative der Herausgeber lagen zwei Einsichten zugrunde. die sich im Verlauf der Ar beit alles in allem als tragfahig erweisen sollten: dar.. soziale Gleichheit und .Ungleich heit zu Unrecht lange kein Thema wissenschaftlicher Anstrengung waren. in diesen Zeiten der politischen Wende aber verstiirkter Zuwendung bedurften; und dar.. es in der Dortmunder Sozialforschungs-Landschaft Wissensschiitze zu heben gab. die nur auf dem Forderband der Kooperation zutage treten wurden. Das Ergebnis unserer Arbeit sind "Berichte zur sozialen Lage der Republik". Der Plural steht fur Pluralitiit: der Herangehensweisen. der Bewiiltigungsformen. der Dar stellungsweisen. Er steht auch fur Pluralismus: Einig von Anfang an waren wir uns Ie diglich in dem Bestreben. dar.. die Ergebnisse unserer Arbeit der Information und Argu mentation fur eine den gesellschaftspolitischen Postulaten der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit verpflichteten Politik dienen sollten. D~esen. wie wir meinen Vorteilen einer solchen Vorgehensweise stehen Nachteile gegenuber. deren wir uns sehr wohl be wur..t sind. Pluralitiit bedeutet auch. dar.. die Herangehensweise der Materiallage des je weiligen Fachgebiets und der jeweiligen Fragestellung unterworfen ist; dar.. demnach 5 die Bewaltigung des Themas durch die Sammlung und Aufbereitung bekannten Materials, die Erschlier..ung entfernter und schwer zuganglicher Ouellen eben so wie durch die eigene Erhebung von Daten oder die Verarbeitung eigener Erfahrungen erfolgen konnte; und dar.. so auch die Bandbreite der Darstellungsweisen vom stark wissenschaftlich gepragten und statistisch dicht belegenden uber nahezu popular-wissenschaftlich verfar..te Artikel bis zum sozialpolitisch argumentierenden Beitrag reicht. An dieser Pluralitat konnten und wollten wir bis auf einige redaktionelle Glattungen nichts andern. Pluralismus bedeutet auch ein geruttelt Mar.. an Pragmatismus. Wir mur..ten uns mit dem letztlich unuberwindlichen Problem herumschlagen, dar.. es das fruhe Ende un serer Zusammenarbeit bedeutet hatte, wenn wir den Versuch unternommen hatten, zwei bei vergleichbaren Vorhaben geforderte Bedingungen zu erfullen: Wir durften uns nicht darauf einlassen, einen verbindlichen gesellschafts-theoretischen Bezugsrahmen herstel len zu wollen, und durften nicht den Versuch unternehmen, fur aile verbindlich bestim men zu wollen, was denn Ungleichheit sei, obgleich wir daruber ausfuhrlich diskutiert haben. Der Versuch der theoretischen Vereinheitlichung ansonsten voneinander unab han gig arbeitender Wissenschaftler ware zu einem Ritt auf dem Papiertiger geworden und hatte zum alsbaldigen Ende des Unterfangens oder zu einem Pyrrhus-Sieg im Papier krieg gefuhrt. Dennoch hat sich im Verlauf der gemeinsamen Diskussion - aile Beitrage wurden wiederholt in den Plena, viele auch in kleineren Gruppen kritisiert - ein Ver standnis von Ungleichheit herausgebildet, das eine Art gemeinsamen Nenner bildete. Demzufolge meint soziale Ungleichheit die ungleiche Verteilung von Lebensrisiken und Lebenschancen in erster Linie aufgrund gewordener gesellschaftlicher Strukturen und/ oder politischer Entscheidungen und nicht oder allenfalls in zweiter Linie aufgrund in dividueller Handicaps oder Fehlentscheidungen. Unterhalb dieser vergleichsweise allge meinen Definitionsebene mur..te soziale Ungleichheit fur jedes einzelne Gebiet sach und fachbezogen begriffen werden. Die erwahnte Einigkeit, dar.. die Arbeitsergebnisse einer sozialer Gleichheit und Ge rechtigkeit verpflichteten Gesellschaftspolitik zu Hilfe kommen sollten, wurde schon sehr fruh aus dem Einverstandnis bezogen, dar.. die Produktivkraftentwicklung der hochindu strialisierten kapitalistischen Lander einen Stand erreicht hat, der es moglich und auch deshalb legitim erscheinen lar..t zu verlangen, dar.. die aus gesellschaftlichen Strukturen und politischen Entscheidungen resultierende Ungleichheit uberwunden wird. Die Er fahrung, dar.. in vie len Bereichen und nicht immer erst mit der Wende eine Entwicklung in die entgegengesetzte R ichtung eingesetzt hat, war sicherlich der entscheidende Treib satz des Unternehmens "Sozialenquete", wie wir es etwas groP..spurig zu nennen pflegten. Was also haben wir trotz der theoretischen und praktischen Einschrankungen ge schafft? Die vorliegenden Berichte geben einen Oberblick uber fast aile wichtigen Berei che, die unter dem Stichwort soziale Ungleichheit zu behandeln sind. Sie versammeln die wichtigsten Sachverhalte, belegen sie mit z.T. schwer zugiinglichem Zahlenmaterial und berucksichtigen die entscheidenden Argumentationsfronten, wobei festgehalten werden muB, daB der RedaktionsschluB im April 1985 lag, so daB einige sozialpolitische Entwicklungen keine Berucksichtigung mehr finden konnten. Durch das angefugte Sach register erhalt der "Sozialbericht" den Charakter eines Nachschlagewerks, das auch uber die aktuelle Diskussion hinaus als Einfuhrung in das Labyrinth der sozialen Problem lage der Republik dienen kann. Hans-Werner Franz Wilfried Kruse Hans-Gunter Rolff 6 INHALT Vorwort der Herausgeber 5 Neue Ungleichheit durch Erwerbslosigkeit 9 Matthes Buhbe Einkommensungleichheit in den achtziger Jahren 23 Lutz Bellmann Armut - Analyse aktueller Verschiirfungen und staatlicher Reaktionen 37 Clemens Adam, Eckhard Rohrmann, Achim Vahle Auswirkungen dar aktuellen Sozialpolitik auf die Lebenslage von Frauen ....... 55 Herlinde Maindok (in Zusammenarbeit mit Sigrid Metz-Gockel und Ursula Miiller) Armut im Alter ............................................. 71 Gerhard Naegele Junge Alte - Soziale Probleme in der Lebenssituation einer neuen gesellschaftlichen Gruppe .................................................. 85 Elke Steven, Ludger Veelken . Soziale Ungleichheit von Jugendlichen - Lebenslagen, Foigeprobleme und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 103 Ursula Moller, Uwe Sielert Familienpolitische MaBnahmen ohne Konzept zur Oberwindung sozialer Ungleichheiten ............................................. 123 Siegfried Keil Behinderung als Lebensrisiko - Zunehmende Benachteiligungen fur Behinderte durch Sozialabbau und gesellschaftliche Ausgliederungen ................. 135 Clemens Adam, Eckhard Rohrmann, Achim Vahle, Petra Wolbert Ungleiche Verteilung gesundheitlicher Risiken und Chancen 151 Bernard Braun, Hartmut Reiners "Liberalisierung des Wohnungswesens" als Abkehr von einer sozialverpflichteten Wohnungspolitik ............................................ 171 Rolf v. Liide Freizeitprobleme durch unterschiedliche Zeitbudgets .................... 197 Wolf R. Klehm, Lilli Neumann, Klaus Winkler Rationalisierung und Ungleichheit - Ungleiche Verteilung von Chancen und Risiken im Verlaufe industrieller Rationalisierungsprozesse ................ 213 Heiner Minssen 7 Soziale Ungleichheit von Auslandern - Zur Lage auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben ............................................ 229 Peter Kuhne, Hermann Schafer Ungleichheit der Bildungschancen in Schule und Hochschule ............... 249 Klaus Klemm, Hans-Gunter Rolff Weiterbildung - Ein Beitrag zur "Aufhebung" sozialer Benachteiligung? ....... 263 Karl-August Faulenbach, Hans-Peter Kremer, Wilfried Muhlhaus, Raimund Pfundtner Kindheit und neue Medien - neue Ungleichheiten? 285 Peter Zimmermann Kultur und Ungleichheit ....................................... 297 Hubert Koch, Michael Kreisel, Karsten Lindloff, Konrad Pfaff, Detlev Schnoor Literatur ................................................. 313 Autoren .................................................. 335 Sachregister ............................................... 337 8 NEUE UNGLEICHHEIT DURCH ERWERBSLOSIGKEIT Matthes Buhbe Seit der Wirtschaftsrezession 1974/75 hat sich die Beschiiftigungssituation immer we iter von der Vollbeschiiftigung entfernt. Gegenstand der folgenden Oberlegungen sind die Hohe und die Verteilung des Risikos, arbeitslos zu werden und arbeitslos zu bleiben. Es soli untersucht werden, inwiefern die Beschiiftigungskrise eine besondere Form sozio aler Ungleichheit geschaffen oder soziale Ungleichheit vertieft hat. Ais Einstieg und als Ausblick sollen einige Oberlegungen zum Zusammenhang von (Un)Gleichheit, (Un)Gerechtigkeit und herrschender Wirtschaftspolitik angestellt wer· den. 1. Soziale Ungleichheit, Gerechtigkeit und Arbeitsmarkt Fur die Anhiinger der "sozialen Marktwirtschaft" gibt es eine Verknupfung von (Arbeits) Markt und sozialer Gerechtigkeit: Auf der Basis der grundgesetzlichen Rechte konnten Markt und Wettbewerb einerseits, Steuer- und Sozialgesetzgebung andererseits die zu· liissigen Lebenspliine und die Lebensliiufe der Menschen so vorstrukturieren, daIS das gesellschaftliche Zusammenleben zu sozialer Gerechtigkeit fuhre. Bei Gerechtigkeitsvorstellungen dieser Art geht es nicht um Gluck oder Tragik in einzelnen Lebensschicksalen. Soziale (Un)Gerechtigkeit ist vielmehr eine Eigenschaft des institutionalisierten Handlungssystems: Die Art und Weise, wie Grundrechte und Grundpflichten und die Fruchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilt werden. Die bekannten Gerechtigkeitsgrundsiitze "Freiheit, Gleichheit, Bruderlichkeit!" konnen bis zu einem gewissen Grade in einem reinen Marktsystem eingehalten werden. Freiheit im Sinne von Privatautonomie und Gleichheit der Verhandlungspositionen am Markt sind Idealvorstellungen, die den reinen Marktwettbewerb auszeichnen. Was im Wettbewerbs gleichgewicht von (Arbeits)Angebot und (Arbeits)Nachfrage zustandekommt, kann als eine gerechte Verteilung sozialer Beziehungen aufgrund von G leichheit und Freiheit im verwendeten Zuteilungsverfahren aQgesehen werden. Die Gerechtigkeit wiire also eine Eigenschaft des Marktprozesses. Reine Verfahrensgerechtigkeit liegt nach J. RAWLS vor, "wenn es keinen unabhiingigen MalSstab fur das richtige Ergebnis gibt, sondern nur ein korrektes oder faires Verfahren, welcher Art es auch sei, sofern das Verfahren ord· nungsgemiilS angewandt wurde" (RAWLS 1979, S. 107). Allerdings wurden nicht einmal die meisten Anhiinger der Marktwirtschaft behaup ten, ein Wettbewerbsgleichgewicht sei an sich schon gerecht. Die reine Marktwirtschaft wird als unfair kritisiert, weil sie in Wahrheit massive Ungleichheiten in Kauf nimmt: Man mulS zu Beginn des Marktprozesses etwas besitzen (Geld, naturliche Reichtumer, Fiihigkeiten), damit man im TauschprozelS etwas erhalten kann. Je ungleicher die An· fangsverteilung der materiellen und immateriellen Guter, desto ungleicher ist hochst wahrscheinlich auch die Endverteilung. Das (Arbeits)Marktgleichgewicht ist also mit ex· tremen sozialen Ungleichheiten vertriiglich. Nicht die blolSe Tatsache sozialer Ungleichheit ist bedeutsam; denn Ungleichheit zwischen Person en (gruppen) ist sicherl ich hiiufiger anzutreffen und manchmal sogar gerechter als Gleichheit. Eine vollkommene soziale und okonomische Gleichstellung ginge hochstwahrscheinlich auf Kosten der Freiheit, d.h., auf Kosten eines moglichst umfangreichen Systems gleicher Grundfreiheiten fur aile Personen(gruppen). Bedeutsam ist die Bewertung sozialer Ungleichheit aufgrund von Gerechtigkeitsvorstellungen. Aus 9 der unendlichen Menge sozialer Ungleichheitsrelationen gelten typischerweise nur die jenigen als sozial(wissenschaftlich) relevant, die ein Gerechtigkeitsproblem aufwerfen. Man kann die "soziale Marktwirtschaft" als ein institutionelles Experiment zur Erfullung von zwei fundamentalen Gerechtigkeitsgrundsatzen auffassen, die Rawls so zusammengefaBt hat: 1. Jeder hat das gleiche Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten, welches zu derselben Zeit fur aile m6glich ist. 2. Unter Be achtung des ersten Prinzips sind soziale Ungleichheiten zulassig und sind so einzurich ten, daB sie (a) den am wenigsten Begunstigten die bestm6glichen Aussichten bringen und (b) mit Positionen verbunden sind, die allen im Sinne fairer Chancengleichheit offenstehen. Der zweite Grundsatz berucksichtigt offenbar erstens, daB hohe wirtschaftliche Produktivitat nicht ohne Ungleichheit zu haben ist, und zweitens, dar., das aus der Un gleichheit resultierende Mehrprodukt nur unter Erfullung ganz besonderer Verteilungs kriterien gerechtfertigt werden kann. MiBt man die bisherigen Ergebnisse der "sozialen Marktwirtschaft" an diesem Ge rechtigkeitsprogramm, fallen bestimmte alte Ungleichheiten ins Auge, die aus der Konti nuitat der gesellschaftlichen Institutionen vor und nach dem Zweiten Weltkrieg resul tieren. Die Statistiken uber die personelle. Vermogensverteilung und uber die personelle Einkommensverteilung zeigen ein hohes Mar., sozialer Ungleichheit. Wenn ein Abbau dieser Ungleicnheit jemals zum Programm der sozialen Marktwirtschaft geh6rt hat. dann ist es in diesem Punkt miBgluckt. Beispielsweise hat sich die Schere zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen von Selbstandigen und dem von abhangig Beschattigten seit 1949 standig ge6ffnet (vgl. GLASTETTER/PAULERT/SPOREL 1983, S. 322). Das zur Um verteilung der Einkommen eingerichtete Transfersystem, das uber Steuern und Sozial leistungen zum Abbau von Ungleichheiten beitragen k6nnte, zeigt keineswegs eine ein deutige Umverteilungsrichtung. Verschiedene Beitrage in diesem Buch (vgl. z.B. BELL MANN) bestatigen diese These. Angesichts dieser Entwicklungstrends ist es bemerkens wert, dar., die neokonservative Wirtschaftspolitik der 80er Jahre auf eine Umverteilung von den Armen zu den Reichen setzt, um die wirtschaftlichen und sozialen Probleme dieses Jahrzehnts zu 16sen. Hierauf wird in den Schlu&lbschnitten zuruckzukommen sein. Eine andere alte Ungleichheit ist von 1949 bis 1960 kontinuierlich zuruckgegangen, was zur Festigung der "sozialen Marktwirtschaft" beigetragen haben durfte: Dauer unci Betroffenheitsrisiko von Arbeitslosigkeit. Verfahrensgerechtigkeit kann am Arbeitsmarkt kaum hergestellt werden, wenn das Arbeitsangebot standig gr6r.,er als die Arbeitsnach frage ist. In der Terminologie von Rawls ist der Marktprozer., unfair, wenn die Markt chancen der einen Seite von vornherein schlechter als die der anderen Seite sind. 1m Marktungleichgewicht ist soziale Gerechtigkeit im Sinne von Fairner., nicht erfullt. 1m Arbeitsmarktgleichgewicht herrscht Vollbeschaftigung (zur Problematisierung des Vollbeschaftigungsgleichgewichts vgl. BUHBE 1985, S. 4); dieser Zustand wurde zu Beginn der 60er Jahre annahernd erreicht und hielt bis 1973 bis auf kurze Unterbre chungen an. Die Vollbeschaftigung war ein groBer marktwirtschaftlicher Erfolg, wenn sie auch keineswegs fur Verfahrensgerechtigkeit hinreichend ist. Auch in der Vollbe schattigungssituation mag es ungerechtfertigte Formen von Chancenungleichheit geben. Immerhin aber sind die Dauer und das Betroffenheitsrisiko von Arbeitslosigkeit vernach lassigenswert gering gewesen, so dar., nur eine geringfugige Ungleichheit der Beschafti gungschancen bestand. Die Vollbeschi:iftigungsphase war historisch einmalig, wenn man von Kriegszeiten absieht. Die Geschichte ist seit der industriellen Revolution eine Geschichte des Wirt schaftswachstums mit relativem Massenelend aufgrund von Massenarbeitslosigkeit. Mit 10 der Beschiiftigungskrise seit 1974 wird an diese Entwicklung angeknupft. Damit steigt die Unfairner.. des Systems, solange die Arbeitslosen nicht in besonders hohem Mar..e dafur entschiidigt werden, dar.. sie an den Fruchten des Wirtschaftswachstums nicht direkt teilhaben. Der zweite Rawlssche Gerechtigkeitsgrundsatz verlangt jedenfalls, dar.. die okonomischen Ungleichheiten zu beseitigen sind, die nicht den am wenigsten Begunstigten die besten Aussichten bringen. Nun kann soziale Gerechtigkeit in der Marktwirtschaft nicht heir..en, dar.. niemand um seinen Arbeitsplatz zu furchten braucht. Die Moglichkeit von Arbeitslosigkeit ist system immanent. Man hat jedoch mit der Arbeitslosenversicherung, dem Arbeitsfor derungsgesetz, uberhaupt dem Aufgabenbereich der Bundesanstalt fur Arbeit und mit anderen iihnlichen institutionellen Vorkehrungen die Moglichkeit fur die Kompensa tion von Nachteilen geschaffen, die aus Arbeitslosigkeit entstehen. Herrscht deshalb Verfahrensgerechtigkeit auch bei hoher Arbeitslosigkeit? Diese Frage wird in den Schlur.. abschnitten d iskutiert. Zuniichst 5011 aber eine "neue" Form sozialer Ungleichheit untersucht werden: Die aus der zunehmenden Massenarbeitslosigkeit seit 1974 resultierende "neue" Chancenver teilung innerhalb der Gruppe der abhiingigen Erwerbspersonen. Es wird sich zeigen, dar.. die (schlechten) Chancen keineswegs gleichverteilt sind. 2. Das GesamtausmaR der Arbeitslosigkeit Die Wohnbevolkerung in der Bundesrepublik Deutschland ist von 1972 bis 1984 praktisch unveriindert geblieben, wiihrend die Zahl der Erwerbstiitigen um 1,6 Millionen zuruckge gangen ist. Die zwischen diesen Zeitpunkten beim Arbeitsamt im Jahresdurchschnitt registrierten Arbeitslosenzahlen sind in der zweiten Zeile von Tabelle 1 angegeben. Tabelle 1: Bestandsdaten zur Arbeitsmarktsituation von 1973 -1984 , 1973 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 841) Offene Stellen in Tsd. 572 315 236 235 231 246 304 308 208 105 76 87 Arbeitslose in Tsd. 273 582 1074 1060 1030 993 876 889 1272 1833 2258 2270 Stille Reserve in Tsd. 156 206 480 561 613 591 554 587 713 Arbeitslose in vH 1,2 2,5 4,7 4,6 4,5 4,3 3,7 3,7 5,3 7,6 9,3 9.4 Auslastungsgrad2) 96,2 94,5 90,8 91,2 90,7 90,6 91,1 90,6 88,5 85,8 83,6 83,5 1 ) Schiitzung 2) Schiitzung ab 1982 Quelle: Bundesanstalt fur Arbeit Diese Zahlenreihe liefert ein in vielerlei Hinsicht unscharfes Bild yom Ausmar.. des Arbeitsmarktungleichgewichts. Die Zahlen geben gleichsam den mittleren Kontostand eines Kontos mit laufenden Zu- und Abgiingen an. Nach den Angaben der Bundesanstalt fOr Arbeit kann man in den 70er Jahren mit jiihrlich 5 Millionen innerbetrieblichen Um setzungen und 6 Millionen sonstigen Stellenbesetzungen rechnen (vgl. REYI:iER/BACH 1980, S. 503). Ein Teil dieser 6 Millionen Neubesetzungen erfolgt mit zuvor Arbeits losen, oft allerdings mit Zeitverzug. Diese zeitliche Friktion schliigt sich in der Statistik 11

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