Erfahrung und Geschichte Narratologia Contributions to Narrative Theory Edited by Fotis Jannidis, Mat´ıas Mart´ınez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garc´ıa Landa, Peter Hühn, Manfred Jahn Andreas Kablitz, Uri Margolin, Jan Christoph Meister Ansgar Nünning, Marie-Laure Ryan Jean-Marie Schaeffer, Michael Scheffel Sabine Schlickers, Jörg Schönert 23 De Gruyter Erfahrung und Geschichte Historische Sinnbildung im Pränarrativen Herausgegeben von Thiemo Breyer Daniel Creutz De Gruyter ISBN 978-3-11-024042-9 e-ISBN 978-3-11-024043-6 ISSN 1612-8427 LibraryofCongressCataloging-in-PublicationData ErfahrungundGeschichte:historischeSinnbildungimPränarrativen/ editedbyThiemoBreyer,DanielCreutz. p.cm.(cid:2)(Narratologia;23) PaperspresentedatasymposiumheldinOct.2008attheFreibur- gerLiefmannhaus. Includesbibliographicalreferencesandindex. ISBN978-3-11-024042-9(alk.paper) 1.Literatureandhistory (cid:2)Congresses. 2.Historyinliterature(cid:2) Congresses. 3. Narration (Rhetoric) (cid:2) Congresses. I. Breyer, Thiemo. II.Creutz,Daniel,1978(cid:2) PN50.E74 2010 8091.93358(cid:2)dc22 2010017496 BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar. (cid:2)2010WalterdeGruyterGmbH&Co.KG,Berlin/NewYork Druck:Hubert&Co.GmbH&Co.KG,Göttingen (cid:3)GedrucktaufsäurefreiemPapier PrintedinGermany www.degruyter.com V Inhaltsverzeichnis THIEMO BREYER / DANIEL CREUTZ Einleitung ............................................................................................... 1 ERZÄHLTE ERFAHRUNGEN JONAS GRETHLEIN „Narrative Referenz“ Erfahrungshaftigkeit und Erzählung ...................................................... 21 MONIKA FLUDERNIK Experience, Experientiality, and Historical Narrative A View from Narratology ...................................................................... 40 EGON FLAIG Erleichterte Erkenntnis Wie man narratistisch den realen Ballast abwirft und die Wissenschaft loskriegt .............................................................. 73 HANS-JÜRGEN PANDEL Die wechselseitigen Erfahrungen von Erzähler und Zuhörer im Prozess des historischen Erzählens .................................................. 93 LEBENSWELTLICHE ERFAHRUNGEN FRIEDERIKE RESE Erfahrung und Geschichte Ein notwendiger Zusammenhang? ........................................................ 111 KORBINIAN GOLLA Die Erfahrung des bäuerlichen Jahreslaufs Form und Sinn des ‚Bauernkalenders‘ in Hesiods Erga ....................... 132 VI Inhaltsverzeichnis TOM GEBOERS Welt-Geschichte Raum- und Zeiterfahrung als Grunderfahrung von Geschichtlichkeit Eine Betrachtung im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger ....................................................................... 149 ERNST-CHRISTIAN STEINECKE Inkorporierung, Objektivierung, Akkumulation Über den Zusammenhang von Erfahrung und Geschichte aus Sicht einer historisch-kultursoziologisch orientierten Anthropologie des Ausdrucks ................................................................ 167 LÁSZLÓ TENGELYI In Verteidigung der Geschichtserfahrung Zur Auseinandersetzung von Paul Ricœur mit Hayden White .............. 185 TRADIERTE ERFAHRUNGEN THOMAS ARNE WINTER Sinnerfahrung Zur Dialektik von Tradition und Geschichte ......................................... 203 JOHANNA SPRONDEL Die Geschichte geht in Spuren Verfolgen, Neudeuten und Stolpern ....................................................... 217 OLAF SCHLUNKE Fireside storytelling beim Symposion Erfahrung und Geschichte im archaischen und frühklassischen Griechenland ......................................................... 237 CHRISTOPHER MEID „Unmögliche Antike“ Erfahrung von Kulturgeschichte in Hugo von Hofmannsthals Augenblicken in Griechenland .............................................................. 257 Inhaltsverzeichnis VII KRISENHAFTE UND IDENTITÄTSSTIFTENDE ERFAHRUNGEN JOHANNES NIEHOFF-PANAGIOTIDIS Telling the Unthinkable Niketas Choniates’ Account of the Fourth Crusade .............................. 277 MIGLENA HRISTOZOVA Die Erzählbarkeit der Erfahrung am Beispiel von Veda Slovena Die wandelbare Identität der Pomaken .................................................. 301 ANIELA KNOBLICH „Luftstrom aus alten Städten“ Geschichte und Erfahrung des Dichters bei Durs Grünbein .................. 317 THIEMO BREYER / DANIEL CREUTZ Historische Erfahrung Ein phänomenologisches Schichtenmodell............................................ 332 Personenregister ..................................................................................... 365 Über die Autoren ................................................................................... 369 VIII Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung THIEMO BREYER / DANIEL CREUTZ Erfahrung und Geschichte sind eng miteinander verknüpft: Wie jede neue Erfahrung ihre eigene Geschichte hat und überhaupt nur vor dem Hinter- grund historisch gewachsener Erfahrungsdispositionen auftreten kann, unterliegt die Historiographie dem Anspruch, ihre retrospektiven Kon- struktionen mit den Erfahrungen der historischen Akteure abzugleichen und sie durch die fortgesetzte Prüfung ihres Empiriegehalts als Rekon- struktionen auszuweisen. Ihr Gegenstand zeichnet sich zunächst durch eine rein temporale Bestimmung aus, nämlich die, ,vergangen‘ zu sein. Deshalb greift Historiographie zum Zwecke ihrer Erfahrungsbindung auf ,Quellen‘ zurück, die ein vielfach angemahntes Vetorecht für ihre Repräsentations- absicht besitzen. Die historiographische Textproduktion muss sich dem- nach stets dem potentiellen Einspruch anderer Texte und den von ihnen transportierten Bedeutungen und Erfahrungen stellen, die selbst in einem engen Bezug zu historisch bedingten Deutungen stehen. Das Verhältnis von Erfahrung und Geschichte ist komplex und keineswegs linear. Dieser Ausgangsbefund wird erhärtet, sobald eine dritte Größe hinzu- tritt: die Erzählung. Dass Geschichte kein fester Bestand empirischer Fak- ten ist, sondern sich als Geschichte überhaupt nur in vielfältigen Deutun- gen, Brechungen und Medialisierungen konstituieren kann, dass sie sich im Einzelgedächtnis oder im Zuge kollektiver Praktiken unter Maßgabe ihrer eingeschliffenen Auslegungsmuster aktualisiert und dass die wichtigste mediale Grundform solcher Vergegenwärtigungen diejenige der Erzählung ist – diese Einsichten gehören zum Grundbestand des heutigen Diskurses über Historiographie und Geschichte als Gegenstand geschichtstheoreti- scher Besinnung sowie literaturwissenschaftlich-narratologischer For- schungen. Sie neu und auf gefestigter kategorialer Basis zur Geltung ge- bracht zu haben ist insbesondere das Verdienst der sogenannten ,Narrati- visten‘ unter den Geschichts- und Literaturtheoretikern, die, ursprünglich aus so unterschiedlichen Lagern wie der angelsächsischen analytischen 2 Thiemo Breyer / Daniel Creutz Philosophie oder der strukturalen Semiotik stammend, seit den 1960er Jahren die Reflexion auf die narrative Formung von Geschichte sowie die kontingenzkompensierende und kontinutiätsstiftende Sprachhandlung des Erzählens als Grundstruktur des Geschichtsbewusstseins maßgeblich vo- rangetrieben haben. Allerdings zog die Rehabilitierung der im Zuge me- thodischer Verwissenschaftlichungsprozesse lange Zeit marginalisierten Erzählstrukturen der Geschichtsschreibung und die gleichzeitige Betonung der strukturellen Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zwischen Hi- storiographie und Literatur auch wieder eine gewisse Verkürzung des Ge- schichtsbegriffs nach sich. Besonders deutlich wurde das in den mitunter harsch und hektisch geführten Diskussionen um Hayden Whites Projekt einer Tropologie und Poetik der Geschichtsschreibung, das sich ausgehend von der synthetisierenden Funktion der Einbildungskraft seitens des Histo- rikers, die stets von ästhetischen, kognitiven und ideologischen Präferen- zen bestimmt ist, auf eine Analyse der nicht aus dem zu bearbeitenden historischen Feld selbst zu entnehmenden ,Tiefenstrukturen‘ historischer Erzählungen konzentrierte. In letzter Konsequenz führte dies dazu, Schei- delinien zwischen Historiographie und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit zu verwischen und der Geschichte unter Anlegung eines selbst wiederum empiristischen Wissenschaftsbegriffs ihren Status als Wissenschaft erneut abzusprechen.1 Die bei White und anderen (postmodernistischen) Anwälten des ,linguistic turn‘ zu beobachtende Tendenz zu einer einseitigen Konzentra- tion auf die literarischen, fiktionalen und rhetorischen Elemente histori- scher Sinnbildung, die sich aus einer Infragestellung der Transparenz sprachlicher Repräsentationsmedien speist und auf eine Hervorhebung ihrer Eigenintentionalität zielt, werden hier – ungeachtet der unterschiedli- chen Intensitätsgrade und argumentativen Nuancen der einzelnen Positio- nen – indikatorisch unter der Sammelbezeichnung eines ,narrativistischen Paradigmas‘ zusammengefasst.2 Bleibt es ohne Korrektur, so führt es in eine im Anschluss an Lyotard zu konstatierende „Repräsentationskrise“3, wie sie besonders in den Debatten um den Status ,historischer Wirklich- –––––––––––––– 1 In aller wünschenswerten Deutlichkeit bringt White 1991 [1974] diese Tendenz auf den Punkt. Für eine Rekapitulation der Grundthesen seines für die geschichts- theoretische Narrativitätsdiskussion einschlägigen Werks Metahistory (1973) so- wie der theorieimmanenten Gründe für die darin auszumachende Vernachlässi- gung des Problems ,historischer Referenz‘ vgl. den Beitrag László Tengelyis in diesem Band. 2 Für einen Überblick über die relevanten Positionen vgl. Meuter 2004. 3 Ankersmit 1997: 99.