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Narcissus: Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace PDF

181 Pages·2002·2.78 MB·German
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Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace Herausgegeben von Almut-Barbara Renger Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar © Walker Art Gallery, Liverpool Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Narcissus : ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace / hrsg. von Almut-Barbara Renger. - Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2002 ISBN 978-3-476-01861-8 ISBN 978-3-476-01861-8 ISBN 978-3-476-02811-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-02811-2 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi- kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2002 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J . B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2002 www.metzlerverlag.de [email protected] V Inhalt Vorwort: Narcissus –»Selbsterkenntnis« und »Liebe als Passion«. Gedankengänge zu einem Mythos....................................................... 1 Almut-Barbara Renger Narziß und der Spiegel. Selbstrepräsentation in der Geschichte der Optik............................................................................................ 13 Thomas Macho Der Blick und die Stimme: Ovids Narziß- und Echomythos im Kontext römischer Anthropologie .................................................. 27 Gregor Vogt-Spira Narcissus im Mittelalter: nach Ovid – vor Freud.................................. 41 Christine Walde Narziß als Androgyn: Die Modellierung des jungen Mannes in Rousseaus KomödieNarcisse (1752/53)........................................... 63 Bettina Rommel »Was du hier siehest, edler Geist, bist du selbst.« Narziß-Mythos und ästhetische Theorie bei Friedrich Schlegel und Herbert Marcuse.......................................................................... 79 Stefan Matuschek »Wundervolle Augenblicke«– Narziß um 1900.................................... 99 Walter Erhart Freuds Narziß: Reflexionen über einen Selbstbezug............................. 117 Glenn W. Most »…eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen«? Narziß in der deutschsprachigen Lyrik der Gegenwart (1945–2001) .... 133 Almut-Barbara Renger Erkennen als Verkennen. Der mythische Narziß in der medialen Endlosschleife...................................................................................... 167 Thomas Wegmann Namenregister..................................................................................... 181 1 Vorwort: Narcissus – »Selbsterkenntnis« und »Liebe als Passion«. Gedankengänge zu einem Mythos Almut-Barbara Renger (Greifswald) Arthur Schopenhauer fand, »die griechische Mythologie« sei »wie ein Schema, an dem man fast jeden Gedankengang veranschaulichen kann.«1 Daß er mit seiner Ansicht nicht alleine stand, zeigen die ungezählten Überlegungen von der Antike bis heute, die Mythen zum Gegenstand haben. Hans Blumenberg for- mulierte es so: »Der durch die antiken Quellen vermittelte Mythos hat Phantasie und formale Disziplin der europäischen Literaturen in einzigartiger Weise be- wegt, angetrieben und gereizt […]«.2 Die Erzählung von Narziß gehört zu den Mythen, an die Künstler und Lite- raten sowie Gelehrte und Wissenschaftler bis heute die unterschiedlichsten Ge- dankengänge knüpfen. Die Geschichte vom schönen Jüngling, der zwar andere ihn begehrende Personen verschmäht, aber passioniert in Liebe entbrennt, als er im Spiegel einer Quelle sein eigenes Bild erblickt, und in der Folge zugrunde geht, wurde nach Ovids kanonisch gewordener Formulierung in den Metamor- phosen (3, 339–512) vielfach be-, ver- und umgearbeitet sowie gedeutet.3 Die in ihr enthaltenen Themen Spiegelung und (Ich-)Identität, Täuschung und Trug- bild, (Selbst-)Erkenntnis und Tod, Begehren und Ablehnung, maßlose Fremd- und heillose Selbstliebe sowie das Motiv der Blume (Narzisse),4 die nach Nar- ziß’ Tod als Substitut seines Körpers (pro corpore 509f.) gefunden wurde, sind in mannigfachen Aneignungen und Verarbeitungen der Geschichte variiert wor- den. Dabei traten dem Narziß, je nach Bedarf und Intention der Schaffenden und ihrer Leser- oder Hörerschaft, (ein oder) mehrere unglücklich Verliebte bei- derlei Geschlechts – am bekanntesten ist die durch Ovid prominent gewordene 1 A. Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß, Bd. 3: Berliner Manuskripte, hrsg. von A. Hübscher, München 1985, 286. 2 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 1979, 239. 3 Vgl. L. Vinge, The Narcissus Theme in Western European Literature up to the Early 19th Century, Lund 1967 (vgl. die ausführliche Bibliographie ebd., 417–38); E. Pellizer, »Re- flections, Echos and Amorous Reciprocity: On Reading the Narcissus Story«, in: J. Brem- mer (Hrsg.), Interpretations of Greek Mythology, London u.a. 1987, 107–20; U. Orlowsky/ R. Orlowsky (Hrsg.), Narziß und Narzißmus im Spiegel von Literatur, Bildender Kunst und Psychoanalyse, München 1992; A.-B. Renger (Hrsg.), Mythos Narziß. Texte von Ovid bis Jacques Lacan, Leipzig 1999. 4 Vgl. F. Wieseler, Narkissos. Eine kunstmythologische Abhandlung nebst einem Anhang über die Narcissen und ihre Beziehung im Leben, Mythos und Cultus der Griechen, Göttingen 1856, 99–135. 2 Almut-Barbara Renger Echo5– sowie göttliche Personen mit bestimmten Eigenschaften und Funktio- nen gegenüber bzw. an die Seite.Die Mannigfaltigkeit dieser Fortschreibungen findet ihren Reflex in der reichen Sekundärliteratur zum Narziß-Mythos, die philologische und literaturtheoretische, philosophische und psychologische Aspekte behandelt.6 I. Von der Antike bis zum Cyberspace Wiederholt zu eigenen Aussagen bemüht wurde im Verlauf der variantenreichen Rezeptions- und Interpretationsgeschichte des Mythos vor allem das Kernstück der Ovidischen Fassung, das Motiv der optischen und – in Ovids Integration der Echo-Geschichte pointiert dargestellten – akustischen Doppelung und Spiege- lung (vgl. in diesem Band G. Vogt-Spira, »Der Blick und die Stimme: Ovids Narziß- und Echomythos im Kontext römischer Anthropologie«). Die Irritatio- nen der Spiegelerfahrung, die keinen eindeutigen Blick auf die Wirklichkeit 5 Zu Echo vgl. F.Wieseler, Die Nymphe Echo.Eine kunstmythologische Abhandlung zur Feier des Winckelmannstages 1854, Göttingen 1854, passim; A. Hermann, »Echo«, in: Reallexi- kon für Antike und Christentum, Bd. 4 (Dogma II – Empore), Stuttgart 1959, 500–05; F. Graf, »Echo, die Nymphe«, in: Der Neue Pauly, hrsg. v. H. Cancik und H. Schneider, Altertum, Bd. 3 (Cl – Epi), Stuttgart u.a. 1997, 873. Fachübergreifend: J. Hollander, The Figure of Echo, Berkeley 1981. 6 Allein die Forschungsliteratur zu Ovids Fassung ist ausnehmend umfangreich. Genannt seien hier nur Wieseler, Narkissos(wie Anm. 4), 1ff.; L. Castiglioni, Studi intorno alle fonti e alla composizione delle Metamorfosi di Ovidio, Pisa 1906, (Nachdr.) Rom 1964, 209–54; S. Eitrem, »Narkissos«, in: Paulys Realenzyklopädie der classischen Altertumswissenschaft, Bd. 16 (Molatzes– Nereae), Stuttgart 1935, 1721–33;A. Wesselski, »Narkissos oder das Spie- gelbild«, in: Archiv orientálni7 (1935), 37–63, 328–50; H. Fränkel, Ovid. A Poet between Two Worlds, Berkeley u.a. 1945, 82–85; P. Zanker, »›Iste ego sum‹. Der naive und der bewußte Narziß«, in: Bonner Jahrbücher 166 (1966), 152–70; H. Cancik, »Spiegel der Erkenntnis (zu Ovid, Met. III, 339, 128–255)«, in: Der altsprachliche Unterricht 10, 1 (1967), 42–53; H. Dörrie, »Echo und Narcissus«, in: Der altsprachliche Unterricht 10, 1 (1967), 54– 75; F. Bömer, P. Ovidius Naso, Metamorphosen: Kommentar I–III, Heidelberg 1969, 536–70; K. Hilbert, »Der gespaltene Narziß«, in: G. Dietz/K. Hilbert, Phaeton und Narziß bei Ovid, Heidelberg 1970, 48–80; B. Manuwald, »Narcissus bei Konon und Ovid (Zu Ovid, met. 3, 339–510)«, in: Hermes 103 (1975), 349–72; A. Borghini, »L’inganno della sintassi: il mito ovidiano di Narciso (met. 3, 339–510)«, in: Materiali e discussioni per l’analisi dei testi classici 1 (1978), 177–92; K.J. Knoespel, Narcissus and the Invention of Personal History, London u.a. 1985, 1–22; W. McCarty, »The Shape of the Mirror: Meta- phorical Catoptrics in Classical Literature«, in: Arethusa 22 (1989), 161–95; C. Nouvet, »An Impossible Response: The Disaster of Narcissus«, in: Yale French Studies 79 (1991), 103–34; E. Milowicki, »Reflections on a Symbolic Heritage: Ovid’s Narcissus«, in: Syl- lecta Classica 7 (1996), 155–66; F. Frontisi-Ducroux/J.-P. Vernant, Dans l’oeil du miroir, Paris 1997, 200–41; A.-B. Renger, »Mythos Narziß: Lektürehinweise«, in: Mythos Narziß (wie Anm. 3),265–70; S. Bartsch, »The Philosopher as Narcissus«, in: R.S. Nelson, Visu- ality before and beyond the Renaissance: Seeing as Others Saw, Cambridge 2000, 70–97. Vgl. imübrigen Anm. 15. Vorwort: Narcissus –»Selbsterkenntnis« und »Liebe als Passion« 3 erlauben, haben hierbei zu verschiedenen Lesarten des Narziß-Mythos geführt. Sie bezeugen die menschliche Faszination durch den Spiegel und verdeutlichen, daß Spiegelbilder sich immer wieder als offene experimentelle Bildräume mani- festieren, in denen sich Orte und Zeiten, Wünsche und Ängste, Träume und Wirklichkeiten imaginär verschränken lassen (zum Thema »Narziß und der Spie- gel. Selbstrepräsentation in der Geschichte der Optik« vgl. in diesem Band T.Macho). So erscheint in anderen (nicht-Ovidischen) antiken und spätantiken Versionen der Narziß-Geschichte das Spiegelbild von Mann wie Frau als Abbild der Seele, Idealbild oder Fratze im Sinne einer Verkörperung der vergänglichen Welt der Sinne. Durch Überblendung mit philosophischem, insbesondere neu- platonischem, und christlich-ethischem Gedankengut wurde Narziß seit Ende der Spätantike vielfach allegorisch-moralisierend gelesen,7 und der Spiegel wurde im Mittelalter zum Spiegel der Eitelkeit (zu »Narcissus im Mittelalter – nach Ovid, vor Freud« vgl. in diesem Band C. Walde). Noch im 17. Jahrhundert, zumal im spanischen Theater des Barocks, spielte das Motiv der Eitelkeit (vanitas/Vani- tas) und Spiegelsucht eine große Rolle. Im 18. Jahrhundert, das für die Transformierung des Mythos in die Welt der Moderne eine entscheidende Zeitspanne bildet, verflüchtigten sich die dem Mythos aufgepfropften moralisch aufgeladenen Bedeutungen weitgehend. Zu- rückzuführen ist dies auf die komische Wendung der Narziß-Geschichte im 17. Jahrhundert. Damals geriet die allegorische Deutung von Mythen, die im Mit- telalter und in der frühen Neuzeit üblich gewesen war, ins Wanken. Erheiternde Travestien mythologischer Stoffe entstanden und der Narziß-Mythos streifte das ›enggestrickte‹ moralische Gewand wieder ab. Berühmt ist die untragische Be- handlung des Stoffes in der Komödie Narcisse ou l’amant de lui-même (uraufge- führt 1752, publiziert 1753) von Jean-Jacques Rousseau, der in der ästhetischen Debatte um autobiographische Selbstbetrachtung und -darstellung Ende des 18. Jahrhunderts, gleichsam als Narziß, vieldiskutiert war. In seiner modernen Sit- tenkomödieNarcissegeht es um Selbstliebe aufgrund einer Täuschung. Ein jun- ges Mädchen will ihren eitlen Bruder durch ein Porträt, das ihn in Mädchen- kleidern zeigt, verspotten, um ihn von seiner Eitelkeit zu heilen. Sie stiftet damit jedoch Verwirrung, da sich der Eitle in das Porträt verliebt und von seiner Ver- lobten solange zurückzieht, bis diese ihn eifersüchtig macht und dadurch zur Liebe zurückgewinnt (vgl. in diesem Band »Narziß als Androgyn: Die Modellie- rung des jungen Mannes in Rousseaus Komödie Narcisse (1752/53)« von B.Rommel). Erheblich an Resonanz gewann die Narziß-Thematik durch die Herausbil- dung des modernen Subjektbegriffs. Unter ihrem Einfluß entstand nach und nach eine immense Fülle poetischer und theoretischer Texte, in denen Narziß eine Schlüsselposition zukommt. Eine Pioniertat vollbrachte Friedrich Schlegel, indem er dem mythischen Jüngling durch Ausblendung der herkömmlich an 7 Vgl. Knoespel, Narcissus (wie Anm. 6), 23–58. 4 Almut-Barbara Renger ihm beanstandeten Eitelkeit eine neue Deutung als exemplarische Figur der Selbstreflexion gab (vgl. in diesem Band S. Matuschek, »Narziß-Mythos und ästhetische Theorie bei Friedrich Schlegel und Herbert Marcuse« ). Viele der Narziß-Texte, die fortan entstanden, verbinden den in die eigene Betrachtung versunkenen Jüngling mit der Weltabwendung des romantischen Dichters: mit der Ablehnung der sich industrialisierenden und der dadurch als banalisierend empfundenen Gesellschaft und mit der Hinwendung zur eigenen Persönlich- keit, zu Traum, Kult und Mythos. In Herbert Marcuses Werk endlich steht Nar- ziß, zu einer Sehnsuchtsfigur geworden, für eine andere Wirklichkeit. Eine wichtige Schaltstelle in dieser Entwicklung bildet die Wende zum 20.Jahrhundert. Seit Ende des 19. Jahrhunderts verkörpert Narziß eine Form der Abweichung und Gegenerzählung, die sich gegen die kulturelle Ordnung der Vorfahren und Väter erhebt (vgl. in diesem Band »›Wundervolle Augenbli- cke‹«– Narziß um 1900« von W. Erhart). Das literarische Fin de Siècle beziehtdie bei Ovid versammelten Basiselemente der Erzählung auf das Thema Kunst/Dich- tung und Künstler/Dichter, indem es Bilder einer Welt diesseits und jenseits paternaler Strukturen beschreibt, die im Zeichen einer »morbiden Narcissus- Schönheit« (Hugo v. Hofmannsthal) stehen. Immer mehr Texte über die Künst- lerseele als Spiegel der Welt und das Problem künstlerischer Selbstbespiegelung entstehen; viele von ihnen zeigen, daß die Gewißheit dessen, was als maskulin gilt, zunehmend zu schwinden beginnt. Dergestalt wird Narziß zum Symbol des Dichters schlechthin, der nur durch Versenkung in sich selbst etwas über die Welt erfahren kann. Bei Valéry, Gide und Rilke wird der Spiegel zum Medium, das die echte Wirklichkeit zu entdecken hilft: Die Spiegelung hat Erkenntnisfunktion. Gide bringt dies bereits 1891 programmatisch in seinem Traité du Narcisse zum Ausdruck. Der Dichter erscheint als grandioser Narziß, der in seinem Kunst- werk die Welt aus sich heraus schafft. Träumerische Zugriffe dieser Kreativität kraft Transgression herkömmlicher Grenzen sind Reflexion undSelbsterkenntnis. Um 1900 geht der derart poetisch ins Recht gesetzte Narziß als Fallbeispiel der Problematik neuzeitlicher Subjektivität in moderne – und von dort in post- moderne – Theorien vom Ich ein.8 Diese sind gleichsam leitmotivisch von der Einsicht bestimmt, daß das Subjekt im Verhältnis zum Objekt keine abschlie- ßend einheitliche Wesenheit oder Konstruktion darstellt. Diskutiert werden demgemäß Themen wie die Doppelnatur des Menschen, Geschlechter-Trans- gression, Seins-Ich und Schein-Ich, die Verwischung der Subjekt-Objekt-Gren- zen und die Gespaltenheit von Charakteren, die vom Intellekt her scheinbar überlegen, vom Unbewußten aber gehemmt oder gar bestimmt sind. Im Rahmen dieser Theorienbildungen entstand nicht zuletzt unter Rekurs auf den antiken Mythos der Begriff »Narzißmus«. Nervenärzte und Sexualwis- senschaftler, Havelock Ellis in den USA und Paul Näcke in Deutschland, präg- 8 Vgl. Orlowsky/Orlowsky (wie Anm. 3), Narziß und Narzißmus, 361–411; Renger, My- thos Narziß (wie Anm. 3), 174–244, 282–92. Vorwort: Narcissus –»Selbsterkenntnis« und »Liebe als Passion« 5 ten den Neologismus Ende des 19. Jahrhunderts, um ihre Diagnosen von Ner- venschwäche, Effeminierung und Homosexualität begrifflich zu untermauern. Im Anschluß hieran verwendete Sigmund Freud den Begriff je nach Kontext in vielfältigen Bedeutungen (vgl. in diesem Band »Freuds Narziß: Reflexionen über einen Selbstbezug« von G. W. Most). Im Zusammenhang mit der Libido- Theorie popularisiert, besagt er bei Freud, daß der Mensch in der frühen Kind- heit – in einem Stadium ohne Beziehung zur Außenwelt – insofern narziß- tisch lebe, als er alle vorhandene Libido dem eigenen Ich zuwende. Überwinde das Kind diesen »primären Narzißmus« nicht, indem es später libidinöse Be- ziehungen zur Außenwelt aufnehme, wende es seine Libido also erneut dem eigenen Ich zu, so sei an ihm ein »sekundärer Narzißmus« diagnostizierbar. Diesen faßt Freud, wenngleich jeder Mensch zeitlebens gesunde narzißtische Züge beibehalte, als krankhafte Entwicklung auf. Daß ein Subjekt in der Ob- jektwahl nicht sich selbst, sondern ähnliche Personen bevorzugt, deutet er als Kennzeichen von Homosexualität. Damit bringt er die von Ovid verdrängte ursprüngliche Homoerotik der griechischen Fassung Konons, eines mit Ovid etwa zeitgleichen Mythographen, wieder auf die Oberfläche der Erzählung zurück. Die Ungereimtheiten, die Freuds Theoretisierung der Homosexualität und seine Erörterungen zur Heterosexualität im Kontext »Narzißmus« enthalten, die Spannungen und Widersprüche der Ausführungen (auch im Verhältnis zum an- tiken Mythos), haben den begrifflich unscharfen Terminus ungeheuer produktiv werden lassen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde »Narzißmus« zu einem pro- totypischen Erklärungsmuster zeitgenössischer Kultur. Zahlreiche Theoretiker haben– teils affirmativ-erweiternd, teils um eine Alternative zur psychologisch begrifflichen Fixierung des Mythos bemüht – an ihn angeknüpft. Zu nennen sind nur Jacques Lacan (vgl. in diesem Band G. W. Most), Herbert Marcuse (vgl. in diesem Band S. Matuschek) und Marshall McLuhan (vgl. in diesem Band T.Wegmann), deren Arbeiten wiederum eine Flut von Studien zum Thema nach sich gezogen haben. In Ermangelung einer verbindlichen Definition wird heute, ob in privaten oder öffentlichen Kontexten, ob in Wissenschaft, Feuilleton oder Unterhaltung, mit Narzißmus nahezu jede Form der Ich- oder Selbstbezogen- heit belegt. Dabei wird der Begriff in der Regel nicht neutral verwendet. Viel- mehrüberwiegt, gestützt durch Psychoanalyse und Kulturkritik – Marcuses Buch Eros and Civilisation (1955) z.B. bildet eine Ausnahme –, der pejorative Gebrauch; er dominiert insbesondere dort, wo nicht Erklärungen menschlicher Verhaltens- weisen und gesellschaftlicher Zustände gegeben werden, sondern deren mythi- sierende Bewertungen. Dem inflationären Begriffsgebrauch in nicht-literarischen Texten vergleich- bar ist die häufige Verwendung der mythischen Figur in der zeitgenössischen Literatur. Der Bezug auf den Narziß-Mythos liegt hier nicht zuletzt deshalb nahe, da sein Motivinventar der derzeit starken Orientierung zum Ich entgegen- kommt. Auffallend viele deutschsprachige Schriftsteller, insbesondere Lyriker, rekurrieren in denkbar unterschiedlicher Art auf Narziß (vgl. in diesem Band

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Der von Ovid erzählte Mythos von Narcissus, der sich in sein Spiegelbild verliebt, hat von der Antike an eine außerordentliche Wirkungsgeschichte gehabt. Dieser Band stellt in zehn Studien die Rezeption des Mythos dar und verfolgt, wie Narziß zu einem der zentralen Mythen im 20. Jahrhundert werde
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