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Napoleons Kolonialtraum und Kleists „Die Verlobung in St. Domingo“: 430. Sitzung am 19. Juli 2000 in Düsseldorf PDF

35 Pages·2000·1.215 MB·German
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Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vorträge· G 372 Herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften PAUL MICHAEL LÜTZELER Napoleons Kolonialtraum und Kleists "Die Verlobung in St. Domingo" Westdeutscher Verlag 430. Sitzung am 19. Juli 2000 in Düsseldorf Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. Alle Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden, 2000 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbe sondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem Papier. Herstellung: Westdeutscher Verlag ISSN 0944-8810 ISBN 978-3-663-01783-7 ISBN 978-3-663-01782-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-01782-0 Inhalt 1. Kleist als Dichter des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Napoleon und Santo Domingo ............................... 10 3. Binnenerzählungen von der Französischen Revolution ............ 17 4. Exempla: Binnenerzählungen des missionierenden Kolonialismus ... 22 5. Grundmuster kolonialer Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 29 1. Kleist als Dichter des Widerstands Kleise:- war der Dichter des Widerstands par excellence: des Widerstands des einzelnen oder von Gruppen, von Nationen und Rassen gegen die Unter drückung durch andere einzelne, Gruppen, Nationen und Rassen. In seinen Novellen, Dramen, Pamphleten und Briefen geht es immer wieder um die Behauptung individueller und kollektiver Identitäten gegenüber Personen und Institutionen, die danach trachten, ihren Machtbereich gewaltsam auszudeh nen. Immer aber wird auch die Dialektik des Widerstands mitbedacht: die Möglichkeit einer legitimationslos werdenden Verselbständigung bzw. eines Umkippens in neuen Terror. Michael Kohlhaas1 wurde zur prototypischen Widerstands-Dichtung in der deutschen Literatur: Der Titelheld führt als bür gerlicher Rebell und Selbsthelfer einen Privatkrieg gegen die seine Existenz bedrohenden Adligen, setzt sich aber bei der Verteidigung seines Rechts in größtes Unrecht. Prinz Friedrich von Homburg schildert, wie die Schweden in Brandenburg einfallen, um das Land zu okkupieren. Die Besatzer sollen ver trieben werden, und diese Forderung bestimmt den Verlauf der dramatischen Handlung. Im Zerbrochnen Krug zeigt das opus delicti die Übergabe der Herr schaft der Niederlande von Karl V. an seinen Sohn Philipp H. Damit ist jenes historische Datum bezeichnet, an dem die spanische Unterdrückung und Aus beutung der Niederlande wie auch der Widerstand der holländischen Geusen begann. Der Richter Adam verhält sich so, "als ob die Spanier im Lande wären" (2:59), wird also als eine Art interner Besatzer gesehen. Um einen klassischen Befreiungskrieg geht es auch im Gründungsmythos der Amazonen, wie er in Penthesilea erzählt wird: Die skythischen Frauen schütteln das Besatzungsjoch der Äthiopier ab, werden aber selbst zu einer Geißel der umliegenden Völker. Die radikalste Version des Widerstands gegen die Okkupation einer fremden Macht findet sich in der Hermannsschlacht: Hermann ist der Machiavellist, ". Zitiert wird in der Folge nach: Heinrich von Kleist, dtv Gesamtausgabe, herausgegeben von Helmut Semdner (München: dtv, 1966, sieben Bände). Dabei werden die Bandnummer und die Seitenzahlen in Klammern angegeben I Paul Michael Lützeler, "Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas (1810)", Romane und Er7äh lungen der deutschen Romantik. Neue Interpretationen, hrsg. v. Paul Michael Lützeler (Stutt gart: Reclam, 1981),213-239. 8 Pau! Michael Lützcler dem alle Mittel der Intrige und Machtpolitik recht sind, die römische Okku pation loszuwerden. Vergleichbar entschlossen und rabiat geht nur noch der General Dessalines vor, die häufig genannte Figur in der Verlobung in St. Domingo. Er führt einen Unabhängigkeitskrieg der Schwarzen gegen die fran zösische Kolonialmacht, weil Napoleon die Sklaverei wieder einführen will. Die literarische Ausprägung, die Wahl des Stoffs, die Direktheit oder Indi rektheit, mit der das Widerstandsthema formuliert wird, hängt bei Kleist von der historischen Situation ab. Sein Oppositionsgeist entzündet sich schon früh an der Expansionspolitik Napoleons. Bereits im Sommer 1801 stellt er fest, daß die Feier des Revolutionstages, des 14. Juli, unter Bonaparte auch nicht entfernt an die "Göttergaben Freiheit und Frieden" (6:191) erinnert. Wegen seiner "Sittenlosigkeit" hält der Autor das Frankreich unter dem Ersten Kon sul für "reifer zum Untergange als irgend eine andere europäische Nation" (6:207). Kleists Versuch, sich im Herbst 1801 und Frühjahr 1802 in der Schweiz eine rousseauistische Landidylle zu schaffen, ist eine Reaktion auf die Erlebnisse im "ungezügelten, ungeheuren Paris" (6:187). Aber auch in der Schweiz läuft seit dem Ende des Jahres 1800 nichts mehr ohne Bonaparte; die Geschicke des Landes werden in Paris entschieden. Kleist erkennt ganz rich tig, daß der, wie er ihn nennt, "Allerwelts-Konsul", dabei ist, aus der Schweiz einen Vasallenstaat zu machen. "Mich erschreckt", so berichtet er seinem in der Schweiz lebenden Freund Zschokke im März 1802, "die bloße Möglichkeit, statt eines Schweizer Bürgers durch einen Taschenspielerskunstgriff ein Fran zose zu werden" (6:242). Kleists Traum von einem Schweizer Bürgerleben in "Freiheit und Frieden" war rasch ausgeträumt. Seine Einstellung zu Napoleon2 war nicht ohne irrationale Sprünge. Aus "Lebensüberdruß" - so sieht er es ein Jahr später - begeht er im Herbst 1803 den "rasenden Streich" (6:266), sich dem (geplanten, aber nie stattgefundenen) Landeunternehmen des Ersten Konsuls gegen England anschließen zu wollen. Nichtsdestoweniger hat Kleist politischen Durchblick, und seine Kritik an Napoleon ist rational begründet. Er erkennt, daß Napoleon zwar "den Um sturz der alten" Regierungen betreibt, ohne jedoch "eine neue Ordnung" her beizuführen. Was ihn stört, ist die reine Machtpolitik ohne die Vision von Freiheitserweiterung und Friedensgarantie. Die "Throne", beobachtet Kleist im November 1805 richtig, werden "mit neuen, von Frankreich abhängigen, Fürstendynastien besetzt". In der Konzentration europäischer Macht in der Hand des französischen Kaisers erschöpfe sich die napoleonische Politik. Bereits einjahr bevor Preußen besiegt wird, fragt sich der Widerständler Kleist 2 Vgl. zur Einstellung der Romantiker zu Napoleon allgemein: Paul Michael Lützcler, "Napo leon-Legenden von Hölderlin bis Chateaubriand (1798-1848)", Geschichte in der Literatur. Studien zu Werken von Lessing bis Hebbel (München: Piper, 1987),264-299. Napoleons Kolonialtraum und Kleists "Die Verlobung in St. Domingo" 9 im November 1805, "warum sich nur nicht einer findet, der diesem bösen Geiste der Welt die Kugel durch den Kopf jagt" (7:16). Die Niederlage Preußens und die anschließende französische Besatzungspolitik im Heimat staat haben Kleists Haß auf Napoleon noch intensiviert. Unmittelbar nach der Schlacht von Jena schreibt er im Oktober 1806 an seine Schwester: "Es wäre schrecklich, wenn dieser Wüterich sein Reich gründete. Nur ein sehr kleiner Teil der Menschen begreift, was für ein Verderben es ist, unter seine Herrschaft zu kommen. Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Aus plünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen." (7:26) Als er Anfang 1807 aus Königsberg nach Berlin zurückkehrt, müssen er und seine beiden Begleiter sich ostentativ oppositionell verhalten haben. Sie werden vom französischen Besatzungsmilitär aufgegriffen und als Spione auf das berüchtigte Gefängnis Fort Joux im Juragebirge, unweit der Schweizer Grenze, verbracht. Dort war vier Jahre zuvor der Freiheitskämpfer Toussaint Louverture aus Saint Domingue (dem heutigen Haiti) auf Befehl Napoleons eingekerkert und zu Tode geschunden worden. Wie alle antinapoleonischen europäischen Intellektuellen hatte auch Kleist den Kampf der ehemaligen Skla ven auf der Karibikinsel Santo Domingo gegen Bonapartes Kolonialregime aufmerksam verfolgt. Die einmonatige Haft in Fort Joux muß die Erinnerung an die Gefangennahme Toussaint Louvertures im Jahre 1802 wie auch an den ein Jahr später erfolgten Sieg des General Dessalines belebt haben. Schließlich war Dessalines Krieg gegen Bonapartes General Rochambeau die erste erfolg reiche militärische Befreiungsaktion gegen das napoleonische Unterdrückungs system. Kleist, auf der Suche nach Beispielen aus der Geschichte erfolgreicher Unabhängigkeitskriege, fand hier einen Stoff, den er bei Gelegenheit bearbei ten würde. Nach dem preußisch-französischen Friedensschluß von Tilsit im Juli 1807 wird Kleist aus der Haft entlassen. Im Oktober 1807 wohnt er in Dresden, der Hauptstadt des rheinbündischen Sachsens. Vorübergehend scheint sich der antinapoleonische Sturm in seiner Seele gelegt zu haben, will er doch "den Kodex Napoleon zum Verlag bekommen", ja sogar die "Publi kationen" der "französischen Regierung" in "Deutschland ( ... ) verbreiten" (7:45). Schwer vorzustellen, wie sein Leben in der Folge verlaufen wäre, hätte sich die französische Gesandtschaft in Dresden für Kleist als ihren verlege rischen Gewährsmann eingesetzt. Daran dachte - bei der anschwellenden Akte des Autors - in Dresden und Paris niemand im Ernst. Anderthalb Jahre später hat den Autor der furor teutonicus erfaßt. Jetzt geht es Schlag auf Schlag: anti französische Pamphlete werden verfaßt (Katechismus der Deutschen), patrioti sche Gedichte geschrieben (Germania an ihre Kinder), Zeitschriftenprojekte geplant (Germania) und ein nationales Drama geschrieben (Die Hermanns schlacht). Alles wird auf die Karte eines möglichen Sieges der Österreicher 10 Paul Michael Lützelcr über Napoleon gesetzt, eine Hoffnung, die sich vorübergehend mit dem Sieg des Erzherzogs Karl in der Schlacht von Aspern vom 21./22.5.1809 zu erfüllen scheint. Etwas voreilig hatte Kleist den Erzherzog damals bereits als den "Überwinder des Unüberwindlichen" (1:38) gefeiert. Wenn Worte töten könn ten, wären ganze französische Regimenter von Kleists Haßtiraden hingernäht worden. Aber im Grunde schreibt der Autor das alles für die Schublade und für spätere Gesamtausgaben. Irgendeine Wirkung haben seine agitatorischen Schriften im Jahre 1809 nicht gehabt. Napoleon ist der "Erzfeind" (5:84), der das "Geschäft der Unterjochung der Erde" (5:86) betreibt. Stärker dämonisiert als bei Kleist wurde Napoleon wohl nirgends, nicht einmal bei GÖrres. Im "Katechismus der Deutschen" wird der französische Kaiser für "den Anfang alles Bösen und das Ende alles Guten" gehalten, "für einen Sünder, den anzuklagen, die Sprache der Menschen nicht hinreicht", ja bei dieser Anklage werde gar "den Engeln einst, am jüngsten Tage, der Odem vergehen". Er hält ihn für "einen, der Hölle entstiegenen, Vatermördergeist, der herumschleicht, in dem Tempel der Natur, und an allen Säulen rüttelt, auf welchen er gebaut ist" (5:86). Das radikalste dichterische Dokument seiner patriotischen Widerstandstexte aus dieser Zeit bleibt Die Hermannsschlacht. Anders als im Michael Kohlhaas wird das Recht auf Wider stand nicht mit religiösen Argumenten relativiert, und im Unterschied zum Prinzen von Homburg wird es nicht durch andere Problematiken überlagert. Der Widerstand gegen den Kolonisator, Eroberer, Unterdrücker ist hier total, bedingungslos, skrupellos. Hermann ist die Inkarnation dieses Geistes radika ler Resistance: Der Bekriegte wird zum Krieger, der Bedrückte zum Unter drücker, der Betrogene zum Betrüger. Von Kleist bewußt als Agitationsstück geschrieben und "allein auf diesen Augenblick" der Erhebung gegen die Fran zosen "berechnet" (7:75), fand sich keine Bühne, die diesem Fanal den Reso nanzboden gewährt hätte. Die historischen Gewänder, die Kleist seinen Dra menfiguren hier übergeworfen hatte, konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit den Kolonial-Römern die Besatzungsfranzosen und mit den frondie renden Germanen die Befreiungsdeutschen gemeint waren. Schon 1801, als erst wenige das Expansionskonzept Bonapartes durchschauten, hatte Kleist nach einem Arminius redivivus gerufen (6:224). 2. Napoleon und Santo Domingo Wann Kleist seine Novelle Die Verlobung in St. Domingo geschrieben hat, konnte bisher nicht eruiert werden. Als sie im Frühjahr 1811 erstmals erschien, hatten sich alle Hoffnungen auf eine Zurückdrängung der napoleo- Napoleons Kolonialtraum und Kleists "Die Verlobung in St. Domingo" 11 nischen Truppen auf das Gebiet Frankreichs zerschlagen. Kleists Widerstands geist war aber vorläufig ungebrochen, wenn man unter den gegebenen Bedin gungen Opposition auch nur indirekt betreiben konnte. 1811 ist Napoleon der unbestritten mächtigste Herrscher auf dem europäischen Kontinent; er hat den Zenith seiner Laufbahn erreicht. Ohne Erlaubnis aus Paris traut sich der preußische König in seinem Rumpfstaat nicht einmal zu husten. Die außen politisch ohnmächtige Situation wird allerdings in Preußen zu nachhaltigen Reformen im Inneren genutzt. Die Intelligenz widmet sich den Verwaltungs-, Heeres- und Universitätsreformen. An offen-direkte antifranzösische Pam phlete und Agitationsdichtungen ist kein Denken; so etwas würde die preu ßische Zensur mit ihrem vorauseilenden Gehorsam unter dem Staatskanzler Hardenberg nicht durchgehen lassen. Mit den politisch-gesellschaftlichen Bedingungen des Jahres 1811 hat die Ästhetik der Novelle Die Verlobung in St. Domingo zu tun: ihre Erzählstruktur, ihre Anspielungstechnik, d. h. die Art der indirekten Kritik, die Konturierung des geschichtlichen Hintergrun des, das Ineinander von historischem Bericht und fiktionaler Handlung, die Zerstörung der Romanze durch Politik. Berücksichtigt man die Produktions und Rezeptionsbedingungen, die der Autor Kleist 1811 vorfand, läßt sich die Brisanz der Erzählung als Dokument des Widerstands erkennen. In seinen politischen Pamphleten von 1809 hatte er betont, daß es "Gott" ein "Greuel" sei, "wenn Sklaven leben" (5:92), hatte den "Tag der Rache" (1:33) für die erlit tene Unterdrückung durch Napoleon angesagt. Um die Rache der Sklaven aber geht es auch in der 1811 erschienenen Novelle. Kleist war nicht der ein zige Schriftsteller, der eine Beziehung zwischen dem Unabhängigkeitskrieg in Santo Domingo und aufständischen Aktionen in Europa sah. Sein Gesinnungs genosse Ernst Moritz Arndt hatte sich schon 1803 gefragt: "Zitterte der Kon sul vielleicht, Skt. Domingo und Toussaint, der dort mit eben dem Rechte Herr war, wie er in Frankreich, mögten auch auf Europa rückwirken?"3 Hier gehe ich den Hinweisen auf geschichtliche Ereignisse in der Erzählung Die Verlobung in St. Domingo nach, versuche, das historische Geschehen, auf das angespielt wird, zu rekonstruieren, um so zu einem besseren Verständnis der Intention wie der zeitgenössischen Rezeptionsgegebenheiten zu gelangen. Die Verlobung in St. Domingo ist der einzige 1:ext Kleists, in dem das Problem des Kolonialismus in einem außereuropäischen Land explizit thematisiert wird.4 Schon alleine die Nennung der Insel Santo Domingo im Titel der Novelle mußte bei zeitgenössischen Lesern an eine Phase französischer Außenpolitik 3 Ernst Moritz Arndt, Germanien und Europa (Altona: Hammerich, 1803), 159. 4 Zum Zusammenhang von Literatur und Kolonialismus vgl. die Studie von Edward W. Said, Culture and Imperialism (New York: Vintage, 1993).

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