Aidan Chambers Nachricht aus dem Niemandsland Aidan Chambers, 1934 in Durham, England geboren, arbeitete zunächst als Lehrer, ging dann für sieben Jahre als Mönch des Anglikanischen Ordens ins Kloster und lebt seit 1968 als freier Schriftsteller in einem Dorf in der Grafschaft Gloucestershire. Seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. In Deutschland kam er zweimal auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Für sein Gesamtwerk zeichnete ihn die IBBY-Jury 2002 mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis aus. Von Aidan Chambers sind in den Ravensburger Taschenbüchern außerdem erschienen: RTB 52006 Wer stoppt Melanie Prosser? RTB 52212 Seehundbaby in Gefahr RTB 58055 Tanz auf meinem Grab RTB 58149 Fingerspitzengefühle RTB 58195 Die Brücke Aidan Chambers Nachricht aus dem Niemandsland Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann Ravensburger Buchverlag Als Ravensburger Taschenbuch Band 58218 erschienen 2006 Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Postcards from No Man’s Land« bei Bodley Head Children’s Books, London © 1999 Aidan Chambers Die deutsche Erstausgabe erschien 2001 in der Ravensburger Jungen Reihe © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Umschlag: Init GmbH, Bielefeld Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Printed in Germany 1 2 3 4 09 08 07 06 ISBN 3-473-58218-2 www.ravensburger.de Alles Schreiben ist Erinnern POSTKARTE Amsterdam ist eine alte Stadt, die von der Jugend okkupiert wurde. Sarah Todd Da er sich nicht auskannte, schlug er den Weg ein, den er gekommen war. Nahm dann aber doch keine Straßen‐ bahn zum Bahnhof, um von dort nach Haarlem zurück‐ zufahren, sondern marschierte einfach weiter die Prinsen‐ gracht entlang, noch zu aufgewühlt von dem, was er gerade gesehen hatte, um seine Umgebung wahrzuneh‐ men, und zu gedankenverloren, um darauf zu achten, wo er hinging. Nach etwa zehn Minuten kam er zu sich, als eine Straßen‐ bahn unmittelbar vor ihm vorbeirumpelte. Plötzlich wollte er unter Menschen sein, wollte Lärm und Ablenkung, wollte aus sich selbst herausgeholt werden – die letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihn ganz schön gebeutelt –, wollte etwas trinken, wollte es an einem Tisch in einem Touristen‐StraßenCafé trinken und dabei das Treiben der Passanten beobachten. Und er suchte, auch wenn er sich das in diesem Moment nicht eingestehen konnte, ein Abenteuer. Er hatte ein Gänsehautgefühl und zitterte, ohne dass er wusste warum, denn es war zwar bewölkt und 9 regnerisch, aber ein warmer Mittseptembertag, und er schwitzte ein bisschen in seinem Anorak und bereute, ihn angezogen zu haben, aber die großen Taschen waren praktisch für Geld und Adressen, Sprachführer, Stadtplan und was man sonst noch alles brauchte, wenn man einen ganzen Tag lang allein in einer fremden Stadt war. Als er sich entschieden hatte, nach rechts über die Brücke zu gehen, fand er sich gleich darauf auf einem weiten, offenen Platz, der von der mächtigen Front eines Theaters dominiert wurde und Treffpunkt vieler Straßen und Straßenbahnen war. Leidseplein. Auf der einen Seite des Theaters lag, dem Rest des Plein zugewandt wie ein Zuschauerraum der Bühne, ein Mini‐ Platz, voll gepfropft mit Tischen, an denen Kellner be‐ dienten, die aus den Cafeeingängen unter den Markisen geflattert kamen wie Vögel aus ihren Nistkästen. Er wählte einen Tisch auf der Theaterseite, dritte Reihe vom Rand, setzte sich hin und wartete. Und wartete. Aber niemand kam. Was sollte er tun? Du bist der verflixte Gast, es ist ihr Job, dich zu bedienen, also sei nicht so ein Waschlappen, setz dich durch. Die Stimme seines Vaters. Schüchternheit, diese halsabschnürende Schüchternheit, hinderte ihn etwas zu sagen. Also tat er gar nichts, aber das machte nichts, weil es eine Menge zu gucken gab. Und dazu die Spontanmusik eines Trios mitten auf dem Plein, zwei Jungen, etwa in seinem Alter, der eine weiß und mit einer Fiedel, der andere afro‐schwarz mit einer Blechflöte, sowie ein dickliches Mädchen, das als Blickfang in der 10