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Mythen und Realitäten des Anders-Seins: Gesellschaftliche Konstruktionen seit der frühen Neuzeit PDF

255 Pages·2007·60.931 MB·German
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Eckhard Rohrmann Mythen und Realitäten des Anders-Seins Eckhard Rohrmann Mythen und Realitäten des Anders-Seins Gesellschaftliche Konstruktionen seit der frühen Neuzeit Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1.Auflage Juni 2007 Alle Rechte vorbehalten ©VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2007 Lektorat:Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich allerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Ver- wertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Verviel- fältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Ver- arbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigtauchohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sin- ne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15527-2 Inhalt Vorbemerkung ..................................................................................................... 9 Anliegen und Aufbau der Untersuchung ............................................................... 9 Erkennmistheoretische Aspekte .......................................................................... 11 II Diimonologisch-theologische Erkliirungsansiitze des Anders-Seins .............. 13 1 Theoretische Grundlagen und Pr~imissen der Theologie trod D~imonologie des Anders-Seins ................................................................................................. 14 1.1 Gottes Engel und Luzifers D~imonen. ............................................................ 15 1.2 Satanische Wollust: lJber Erbsfinde, Teufelspakt und Teufelsbuhlschaft ..... 20 1.3 Die Frau als Teufel in Menschengestalt - D~imonologisch-theologischer Sexismus ....................................................................................................... 25 Zur Ph~inomenologie und Atiologie des Anders-Seins in theologisch- dfimonologischer Sicht ........................................................................................ 28 2.1 Hexen ............................................................................................................ 29 2.1.1 Ketzerei, H~iresie und die Entstehung der Inquisition ............................. 29 2.1.2 Die Verwissenschaftlichung des Hexenwesens ....................................... 32 2.1.3 ,,Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen" - Zur Praxis der Hexen-Inquisition ........................................................... 38 2.2 Besessene ..................................................................................................... 43 2.2.1 Ph/inomenologie und A.tiologie .............................................................. 44 2.2.2 Zum Umgang mit Besessenen: Der Exorzismus ..................................... 46 2.3 Narren .......................................................................................................... 51 2.3.1 Phgnomenologie und Atiologie .............................................................. 51 2.3.2 Die Behandlung der Naln'en .................................................................... 54 2.4 Wechselbfilger und Monstra ......................................................................... 57 2.4.1 Ph~inomenologie und Atiologie .............................................................. 57 2.4.2 Namrwissenschaftliche Betrachtungen fiber Wechselb~lger .................. 58 2.4.3 Zur Praxis im Umgang mit Wechselb/ilgem und Monstra ...................... 62 III Von der Diimonologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins ................................................................................................ 65 1 Begriffsbestimmung: Was ist ein Paradigma? .................................................... 65 2 Der Paradigmenwechsel ..................................................................................... 68 2.1 Von der Metaphysik zur Physik und vom Sch6pfungsmythos zur Evolutionsbiologie ....................................................................................... 69 6 lnhalt 2.2 Dialektik der Evolution und ihre Verkiirzung in Biologismus und Sozialdarwinismus ....................................................................................... 73 Exkurs: Fortbestand und Bedeutung des tiberkommenen Paradigmas nach dem Paradigmenwechsel .................................................................................... 77 IV Mechanistisch-naturwissenschaftliche Erkl~irungsans~itze des Anders-Seins .............................................................................................. 81 1 Zur Fragmentierung der Menschheit nach Rassen ............................................. 82 1.1 Von edlen Europfiern und primitiven ,,Eingeborenen" . ............................... 85 1.2 Schmarotzer und ihr Wirtsvolk: Zum naturwissenschaftlich begrtindeten Antij udaismus .......................................................................... 94 1.3 Die kranke Rasse: Zur Pathologisierung der Juden ..................................... 95 1.4 Rassenkunde heute ....................................................................................... 98 2 Das kranke und moralisch defekte Geschlecht - Medizinisch- naturwissenschaftlicher Sexismus .................................................................... 101 3 Maschine Gehirn und die kranke Seele ............................................................ 105 3.1 Das Gehirn als Seelenorgan ....................................................................... 106 3.2 Von der Deszendenz zur Degeneration ...................................................... 109 3.3 Von der biologischen Psychiatrie zur biologistischen Krankheitslehre ..... 112 3.4 Von der Nosologie zur anosologischen Klassifikation .............................. 118 4 Exkurs: Andere Ansichten von der Seele ........................................................ 122 4.1 Das Psychische und seine Verbannung in die Black Box .......................... 125 4.2 Zur Konstruktion und Analyse des psychischen Apparats ........................ 131 5 Ausgew~ihlte Ph~inomenologien und Atiologien seelischen Anders-Seins ...... 137 5.1 Schizophrenien und das Axiom der Unverstehbarkeit ............................... 138 5.2 Das Idiotengehirn als defekter Apparat (Eugen Bleuler) - Oligophrenien oder geistige Behinderungen .............................................. 145 5.3 Moralische Oligophrenie: ,,Der geborene Verbrecher" . ............................ 151 5.4 Poriomanie oder der ,,Wandertrieb" . ......................................................... 154 5.5 Exkurs: Zwischen Kriminalisierung und Pathologisierung - deutsch - deutsche Gemeinsamkeiten ........................................................................ 157 5.6 ,,Der gr613te therapeutische Erfolg": Zur Pathologisierung und Entpathologisierung der Homosexualit/it .................................................... 159 5.7 ,,Erfundene" Krankheiten ........................................................................... 160 5.8 Exkurs: Zur Pathologisierung der D~imonologisierung ............................... 162 5.9 Verrfickt oder normal ................................................................................. 163 5.9.1 Der St6rfall als Normalfall ................................................................... 163 5.9.2 Zur Validit~it psychiatrischer Diagnosen ............................................... 165 6 Zur Praxis im Umgang mit den Andersartigen ................................................ 173 6.1 Psychiatrische Erbgesundheitspflege und Eugenik .................................... 173 6.2 Heft- und Sonderpfidagogik ....................................................................... 179 6.2.1 Eine besondere P~idagogik fiir besondere Menschen? .......................... 179 6.2.2 Heilp~idagogik und der Wandertrieb ..................................................... 183 6.3 Die therapeutische Zerst6rung des Gehirns ............................................... 184 6.3.1 Somatische Therapieformen und Krampfbehandlungen ...................... 185 inhalt 7 6.3.2 Psychochirurgie ....................................................................................... 6.3.3 Pharmakotherapie ................................................................................. 193 ,,Es kam auch vor, dab man ein besonderes Krankheitsbild konstruierte" (Eugen Bleuler) - ein kritisches Fazit .............................................................. 196 V Kontinuitliten die den Paradigmenwechel iiberdauert haben .................... 203 1 Erkelmtnistheoretische Kontinuitiiten: Verdinglichung und Fragmentierungen der Menschheit ................................................................... 203 2 Zur Komplementaritiit der Paradigmen ............................................................ 205 2.1 Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus ................................................... 206 2.2 Vom religi6s gepr~igten Judenhass zur rassistisch begrtindeten Judenfeindlichkeit ...................................................................................... 210 2.3 Homosexualit~it .......................................................................................... 215 2.4 Wechselseitige Erg~inzung und praktische Allianz ..................................... 216 3 Praktische Kontinuit~iten .................................................................................. 218 3.1 Kriminalisierung, Marginalisierung, Asylierung ........................................ 219 3.2 Liquidierung ............................................................................................... 220 4 Instimtionelle Kontinuit~iten ............................................................................. 223 4.1 Instimtionen und Individuen, die Anders scheinen ..................................... 223 4.2 Instimtionelle Fragmentierungen ................................................................ 225 VI Perspektiven fiir einen neuerlichen Paradigmenweehsel ............................. 227 1 Ausgangslage: Krise des cartesianischen Naturverst/indnisses und kritischer Rationalismus ............................................................................ 227 2 Perspektiven ffir eine Dekonstruktion des Anders-Seins: Vom Sein zum Werden .................................................................................... 232 3 Perspektiven flit eine De-Institutionalisierung ................................................. 236 3.1 Zur Neubestimmung des Verh~iltnisses yon Macht - Hilfe - Gewalt in demokratischer Verantwortung .............................................................. 237 3.2 Verantwortliche Hilfe unter Zwang? .......................................................... 241 VII Pers6nliches Schlusswort: Allen Opfern ein bleibendes Andenken bewahren ......................................................................................................... 243 Literatur .......................................................................................................................... 245 I Vorbemerkung lm Jahr 1930 entdeckten Astronomen am Rande unseres Sonnensystems einen kleinen Pla- neten, etwas kleiner als der Erdmond und nannten ihn Pluto. Seither besteht unser Sonnen- system aus neun Planeten. 2005 entdeckten sie einen Himmelsk6rper noch jenseits von Plu- to, sogar etwas gr6f3er als dieser, und nannten ihn Xena. Dieser wurde allerdings nicht als weiteres Mitglied in die Familie der Sonnenplaneten aufgenommen, sondern 16ste eine Dis- kussion dartiber aus, wann ein Trabant unserer Sonne ein Planet ist und wann nicht. Am 24. August 2006 setzte die Internationale Asn'onomische Union ~ einen vorl~iufigen Schlussstrich unter diese Debatte und verabschiedete eine Defnition von Planeten. Seitdem ist Pluto kein Planet mehr. Unser Sonnensystem hat dutch die Entdeckung yon Xena also keinen Planeten hinzugewonnen, sondern einen verloren. Dabei ist Pluto weder ver- schwunden, noch hat er sich ver~ndert. Ge~indert hat sich das wissenschaftliche Denken fiber Pluto. Deswegen besteht unser Sonnensystem jetzt nicht mehr aus neun, sondern nut noch aus acht Planeten. Es wurde in der geschilderten Weise umkonstruiert. Nun kann es Himmelsk6rpern relativ egal sein, wie die Wissenschaften auf der Erde sie klassifizieren und definieren. Ffir sie hat das in der Regel keine nennenswerten Folgen 2. Das trifft hinge- gen nicht for alle Objekte wissenschaftlicher Klassifikationen zu. Besonders folgenschwer ist es, wenn Menschen davon betroffen sind. Das hat oft erhebliche Konsequenzen ffir die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit ihnen und bestimmt entscheidend ihre Daseinsbedingungen, nicht selten tiber ihren indivi- duellen Tod hinaus. Das gilt besonders dann, wenn sie als normabweichend, als anders als die Anderen klassifiziert werden. Darum soil es in dieser Untersuchung gehen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf seelisches Anders-Seins gelegt. Menschen, die anderen Men- schen anders erscheinen, haben wohl schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte die Phantasien ihrer Zeitgenossen befltigelt, Erkl~imngen fiir dieses vermeintliche Anders-Sein zu finden. Dominierten dabei anfangs eher mythologische Erkl~irungsansS.tze, wurden diese seit der Aufkl~irung des 16. und 17. Jahrhunderts mehr und mehr durch wissenschaftliche ErklO.rungsans~itze verdrfingt. So jedenfalls die gemeinhin vorherrschende Auffassung, die jedoch, wie zu zeigen sein wird, so nicht zutrifft. 1 Anliegen und Aufbau der Untersuchung Das Buch wird sich zun~ichst mit der Dfimonologisierung menschlichen Anders-Seins im Ubergang zur frtihen Neuzeit auseinandersetzen. Dazu werden die theoretischen Grundla- 1 Die IAU ist eine 1919 gegrtindete intemationale Vereinigung der Astronomen. 2 Vielleicht write Pluto die 11ir 2015 vorgesehene Landung der im Januar 2006 gestarteten Raumsonde ,,New Horizons" erspart geblieben, wenn seine Herabstufung schon emige Monate fri.iher erf'olgt wfire. 10 i Vorbemerkung gen ausgebreitet, anschlieBend die Ph~inomenologie und die Atiologie des Anders-Seins aus theo- bzw. d~imonologischer Sicht dargestellt und schlieBlich die hieraus abgeleiteten Praxen im Umgang mit den betroffenen Menschen dokumentiert. Es folgen Ausffihrungen fiber den Paradigmenwechsel yon der thomistischen D~imo- nologie zum cartesianischen naturwissenschaftlichen Mechanismus und damit von der D~i- monologisierung zur Biologisierung und Pathologisierung des Anders-Seins, an die sich eine Darstellung ausgew~ihlter Beispiele namrwissenschaftlich-mechanistischer Erkl~irungs- ansfitze, Ph~inomenologien und Atiologien des Anders-Seins anschliegen. Dabei konzent- riert sich die Untersuchung vornehmlich auf den deutschsprachigen Raum. Auf Texte, die aul3erhalb entstanden sind, wird nur insoweit Bezug genommen, als ihre Rezeption im deutschsprachigen von Bedeutung ffir die weitere Entwicklung einschl~igiger Fachdiskurse gewesen ist. Diese Eingrenzung folgt pragmatischen Gesichtspunkten, sie ist aber auch in- haltlich begrfindet. Der deutschsprachige Raum stand n~imlich nicht nur im Mittelpunkt d~imonologischer Theorien und Praxen. Auch nach dem Paradigmenwechsel blieb Deutsch- land trotz politischer Zersplitterung in fiber 300 Souver~init~iten bestimmend im Hinblick auf die Entwicklung von Theorien zum Verst~indnis von und Praxen im Umgang mit An- ders-Sein. So spricht der amerikanische Medizinhistoriker Shorter z. B. im Zusammenhang mit der Entwicklung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert von einem ,,deutschen Jahrhun- dert". ,,Wenn man einem Land oder einer Sprache in einer Weltgeschichte der Psychiatrie besondere Aufmerksamkeit schenken will, bedarf das einer Erkl~irung -sie lautet schlicht, dab die Deutschen dieses Gebiet absolut dominierten" (Shorter 1999: 116). Die Wurzeln der Psychologie als akademische Disziplin liegen ebenfalls in Deutschland und auch die Psychoanalyse als weitere Forschungsrichtung, die sich mit abweichend erscheinenden see- lischen Pllfinomenen besch~iftigt, nahm mit Signmnd Freud ihren Ausgang im deutschspra- chigen Raum. Nirgends schlieBlich haben die Praxen im Umgang mit den vermeintlich An- deren so extreme Zuspitzungen gefunden, wie in Deutschland. Grundlage der Untersuchung sind neben der vorliegenden Original- und Sekundfirlite- ratm vor allem zeitgen6ssische Texte. Im Vordergrund der Ausffihrungen tiber die Dfimo- nologisierung des Anders-Seins steht das 1487 erstmals erschienene hexenwissenschaftli- che Lehrbuch ,,Malleus maleficarum", der so genannte Hexenhammer. Verfasser ist der Theologieprofessor und Dominikanerm6nch Heinrich Kramer 3 (um 1430 - tim t505), m6glicherweise auch Jakob Sprenger, was ist in der einschl~igigen Forschung umstritten ist. Dieses Buch ist fast 200 Jahre lang das Standardwerk des Hexenwesens schlechthin geblie- ben und insgesamt in 29 Auflagen erschienen. Die Darstellungen der Konstruktionen von Anders-Sein nach der cartesianischen Wende orientieren sich vornehmlich an zeitgen6ssischen anthropologischen, medizinischen und heilp~idagogischen Texten, unter denen vor allem zwei Lehrbficher der Psychiatrie, die fiber mehrere Jahrzehnte hinweg in zahlreichen Auflagen erschienen sind, systematisch in ihrer Entwicklungsgeschichte untersucht werden. Dazu z~ihlt zum einen und vor allem das 1916 erstmals erschienene Lehrbuch von Eugen Bleuler (1857 - 1939), das bis 1983 in insgesamt 15 Auflagen erschienen ist. Es wurde nach dem Tod von Eugen Bleuler von Manfred Bleuler, seinem Sohn und Nachfolger als Direktor des psychiatrischen Kranken- hauses Burgh61zli in Zfirich und Professor ftir Psychiatrie an der dortigen Universit~it, 3 Sein latinisierter Naclmame lautet Institoris. 2 Erkenntnistheoretische Aspekte 11 (1903 - 1994) fortgeffihrt und war wohl das bedeutendste Lehrbuch seiner Zeit. Es wurde bewusst aber auch deswegen ausgew~hlt, weil es zwar im deutschsprachigen Raum, aber nicht in Deutschland erschienen ist. Damit kann dem m6glichen Einwand begegnet werden, bestimmte inhaltliche Positionen, z. B. zu Eugenik und Rassenhygiene, die in den Jahren zwischen 1933 und 1945 vertreten wurden, seien nicht prim~ir Ausdruck einschl~igiger Fachdiskurse, sondern mtissten vor dem besonderen Hintergrund der politischen VerNilt- nisse in Deutschland w~ihrend der NS-Diktatur verstanden werden. Das zweite Lehrbuch, das dieser Arbeit zugrunde liegt, wurde 1971 zum ersten Mal yon Walter Schulte (1910- 1972) und Rainer T611e (*1932) vorgelegt und ab der zweiten Auflage von Rainer T611e al- lein fortgesetzt. Seit der 13. Auflage 2003 erscheint es in Koautorenschaft mit Klaus Windgassen ('1952). Beim Abschluss dieser Untersuchung war die 2006 erschienene 14. die aktuellste Auflage. Schliel31ich wird sporadisch auch auf das 1974 erstmals erschienene Lehrbuch von Gerd Huber zurfickgegriffen, der in einigen Fragen eine deutlich yon derje- nigen T611es abweichende Position vertritt. Dieses Lehrbuch erschien vorerst letztmalig 2005 in der siebten Auflage. W~ihrend yon einer grundlegenden Umarbeitung des Hexen- hammers von der ersten bis zur letzten Auflage wohl nicht auszugehen ist und auch die zugrunde liegende Dogmatik fiber die Jahre relativ stabil geblieben ist, erfnhren die Lehr- biJcher der Psychiatrie von Auflage zu Auflage Oberarbeitungen und Korrekturen, an de- nen sich Entwicklungslinien in der Konstruktion von Anders-Sein aufzeigen lassen. Das vorliegende Buch versteht sich als historische Arbeit, allerdings nicht mit dem Anspruch, einen Beitrag zur historischen Forschung zu leisten. Historische Rekonstruktion ist nicht Gegenstand, sondern die Methode dieser Untersuchung. Ihr Gegenstand ist die so- ziale Konstruktion von und der gesellschaftliche Umgang mit menschlichem Anders-Sein, in unterschiedlichen kulturhistorischen Kontexten, ihr Anliegen ist es, diese zu rekonstruie- ren und auf diese Weise einen Beitrag zu ihrer Dekonstruktion zu leisten. 2 Erkenntnistheoretische Aspekte Menschen, die ihren Zeitgenossen anders erscheinen, mfissen nicht deshalb auch anders sind. Ebenso wenig - oder genau in dem Sinne -, wie Menschen, die frfiher fiir Besessene, Hexen, Narren oder Wechselbfilger gehalten wurden, dies tatsfichlich waren, kann unhinter- fragt davon ausgegangen werden, dass Menschen, die uns heute z. B. als behindert, nicht- sesshaft, verhaltensgest6rt, psychisch krank oder sonst wie anders erscheinen, dies in einem ontologischen Sinne wirklich sind. Der Hexenmythos ist weitgehend entzaubert, die vor al- lem thomistisch gepr~igte D~imonologie zwar noch nicht tiberwunden, doch als Leitpara- digma durch den cartesianischen Mechanismus abgel6st. Der D~monologisierung ver- meintlichen Anders-Seins folgte dessen Biologisierung und Pathologisierung. Wenngleich damit ohne Zweifel erkenntnistheoretische Fortschritte verbunden waren, bedeutet das al- lerdings, wie schon betont, nicht, dass mit diesem Paradigmenwechsel unwissenschaftli- chef irrationaler Wahn aufgekl~irter rationaler Wissenschaftlichkeit gewichen sei. Die Fra- ge, was uns die Sicherheit gibt, anzunehmen, unser heutiges Verst~indnis von Anders-Sein sei zutreffend, das vor ca. 300 Jahren vorherrschende hingegen falsch, ist auch nach dem Paradigmenwechsel keineswegs beantwortet. Es ist doch nicht ausgeschlossen, eher sogar wahrscheinlich, dass unser gegenw~irtiges Verst~indnis yon und unser Umgang mit ver-

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