Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin? Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modemitätsverweigerung Herausgegeben von Anselm Gerhard Verlag J. B. Metzler Stuttgart . Weimar Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Musikwissenschaft -eine verspätete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung / hrsg. von Anselm Gerhard - Stuttgart ; Weimar: Metzler ISBN 978-3-476-01667-6 ISBN 978-3-476-01667-6 ISBN 978-3-476-03772-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03772-5 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2000 Inhaltsverzeichnis ANSELM GERHARD: Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin 1 GERRlT WALTHER: Mozart und Methode. Otto Jahns Beitrag zur Begründung der modernen Musikgeschichtsschreibung 31 WOLFGANG SANDBERGER: Philipp Spitta und die Geburt der Musikwissenschaft aus dem Geiste der Philologie 55 VOLKER KALISCH: Unmaßgebliche Gedanken zu einem maßgeblichen Konzept: Guido Adlers Musikwissenschaftsentwurf 69 HARTMUT GRIMM: Hermann Kretzschmar: Restitution der Affektenlehre als wissenschaftliche Grundlegung musikalischer Hermeneutik 87 STIG FÖRSTER: Kunst, Kulturpessimismus und Krieg im deutschen Kaiserreich 99 MARTIN EYBL: Das bedrohliche Neue. Konservative Konzepte von Musikgeschichte in Wien um 1900 119 ]ÜRGEN OELKERS: Der Klang des Ganzen. Über den Zusammenhang von Musik und Politik in der deutschen Reformpädagogik 129 CHRISTIAN G. ALLESCH: Form, Gestalt und Ethos in der Musik. Musikpsychologie als Gegenstand der psychologischen Ästhetik 157 LUITGARD SCHADER: Ernst Kurth und die Gestaltpsychologie. Oder von der Prägung eines Außenseiters in der deutschsprachigen Musikwissenschaft der 1920er Jahre 175 SEBASTIAN KLOTZ: Hören, Archivieren, Messen. Zur Modernität der musikethnologischen Praxis bei Carl Stumpf und Erich M. von Hornbostel 197 LAURENZ LÜTTEKEN: Das Musikwerk im Spannungsfeld von »Ausdruck« und »Erleben«: Heinrich Besselers musikhistorio- graphischer Ansatz 213 PETER CAHN: Zum Verhältnis von akademischer Musikforschung und zeitgenössischer Musik in Deutschland zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und den frühen 1960er Jahren 233 ECKHARD JOHN: »Deutsche Musikwissenschaft«. Musikforschung im »Dritten Reich« 257 JÜRG STENZL: ,verspätete< Musikwissenschaft in Frankreich und Italien? Musikforschung im Spannungsfeld von Nationalismus, Reaktion und Moderne 281 CHRIS WALTON: Heil Dir, Helvetia! Anmerkungen zur Musik- publizistik eines >neutralen< Landes 307 MARTIN KIRNBAUER und HEIDY ZIMMERMANN: Wissenschaft in »keimfreier Umgebung«. Musikforschung in Basel 1920-1950 321 ROMAN BROTBECK: Verdrängung und Abwehr. Die verpaßte Vergangenheitsbewältigung in Friedrich Blumes Enzyklopädie »Die Musik in Geschichte und Gegenwart« 347 Nachbemerkung und Dank 385 Die Verfasser der Beiträge 387 Personenregister 391 Programm der Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Bern 411 Anse1m Gerhard Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin A university is an institution which applies systematic research to almost everything under the sun - except itself. Am Ende der ersten Hälfte des ausgehenden 20. Jahrhunderts erschien in der von Robert Schumann begründeten Zeitschrift für Musik, die von 1920 bis 1955 ohne das Prädikat »Neue« auskommen mußte, ein Beitrag zur Entwicklung der Musikwissenschaft 1900-1950, für den Hans Engel verantwortlich zeichnete, der 1946 - nach einer Vorkriegs- und Kriegs-Karriere in Greifswald und Königs berg in Ostpreußen - zum ordentlichen Professor in Marburg an der Lahn bestellt worden war. Erstaunlich an diesem weit ausholenden Überblick sind zum einen die Proportionen der Darstellung: Die Entwicklung vor 1900 wird breiter abgehandelt als der im Titel benannte Zeitraum, der nur bis etwa 1930 überflogen wird, für die letzten zwei Jahrzehnte aber völlig ungreifbar bleibt. Ebenso erstaunlich ist aber das gänzliche Fehlen auch nur eines verschämten Hinweises auf die katastrophalen Konsequenzen, die aus der vom National sozialismus erzwungenen Emigration von Fachkollegen und der ideologischen Verengung des Fachs im »Tausendjährigen Reich« für die Entwicklung der deutschsprachigen Musikwissenschaft gefolgt waren. Zwar wird mit Horn bostel wenigstens ein wegen der damals obligatorischen Feststellung von »Pedi gn!es«2 entlassener Musikforscher genannt und der in Bern 1946 verstorbene Ernst Kurth wohlwollend erwähnt, aber die gerade erlebte totale Katastrophe wird in einer Weise eingeführt, als habe es sich um ein von außen herein brechendes Naturereignis gehandelt: Die furchtbaren Folgen des Zusammenbruchs Deutschlands haben auch die Musik wissenschaft auf das schwerste getroffen. [ ... ] Zu den materiellen Verlusten, die so starke University 0/ Pennsylvania, Report 0/ the educational survry: the first year, hrsg. J oseph H[enry] WILLITS und Malcolm G. PRESTON, datiert vom 30. Juni 1955; zitiert nach: Theodore CAPLOW und Reece J[erome] MCGEE, 7he academic marketplace, New York: Basic books 1958, S. 25. 2 Alfred EINSTEIN, Krieg, Musik, Nationalismus, und Toleranz, in: EINSTEIN, Nationale und universale Musik. Neue Essays, Zürich/Stuttgart: Pan 1958, S. 255-264; hier S. 257. 2 Anselm Gerhard ideelle Schädigung bedeuten, kommen die Verluste an kostbaren Menschenleben, an vielverheißenden jungen Forschern und Studierenden.3 Der von Selbstmitleid getragene Ton, der nur die eigenen Opfer sieht, mag für die Nachkriegsjahre im Westen Deutschlands charakteristisch gewesen sein; besonders irritierend ist aber das militärische Vokabular, mit der die für die Zukunft erwartete internationale Konkurrenz der nach Nationen getrennten Fachvertreter gleichsam als friedliche Fortsetzung des gerade zu Ende gegange nen Kriegs skizziert wird. Nachdem Engel schon bei der Darstellung der Jahre um 1930 den Hinweis für angebracht hielt, »dem >unbekannten Soldaten der Musikwissenschaft<<< solle »hier ein Denkmal gesetzt werden«\ und nachdem er unterstrichen hatte, gegenüber den deutschen »Verlusten« hätten »die Sieger staaten natürlich eine günstigere Position«, zumal »eine Reihe von hochbegab ten« Emigranten die in Deutschland erfahrene »musikwissenschaftliche Schu lung [ ... ] nun in ihrer neuen Heimat einer jungen Generation nutzbringend geben konnten«5, führt diese hochgespannte Rhetorik schnurstracks in einen Schluß-Absatz von erstaunlich ungebrochenem nationalistischen Pathos: Deutschland braucht den Kampf um die Palme noch nicht aufzugeben. Es wird sich aber gewaltig anstrengen müssen, in vorderster Linie zu bleiben. [ ... ] Wir Deutsche haben in der Not einen Trost und einen Stolz: das ist die Musik, welche uns und der Welt die Meister aller Zeiten, einer Gegenwart, einer nahen und fernen Vergangenheit, aus diesem widerspruchsvollen, aber reich begnadeten, aus unserem Volke heraus geschenkt haben. Ihre Werke zu erforschen und ihre Pflege zu fördern, ist mehr als nur Deutschland zu gute kommende Pflicht!6 Mit einer solchen Haltung, die keine Selbstzweifel erkennen läßt, befand sich Engel in zahlreicher Gesellschaft. Im Vorwort zur ersten Nachkriegs-Ausgabe des bis heute maßgebenden Personalverzeichnisses aller deutschen Hochschul lehrer setzten die Herausgeber nicht nur erzwungene Emigration in Friedens zeiten mit der >ethnischen Säuberung< am Ende eines blutigen Kriegs gleich, sondern auch die - beileibe nicht nur aus »politischen« Gründen verfügten, sondern vor allem einer Wahnidee von ethnischer Reinheit geschuldeten - Entlassungen von 1933 mit jenen von 1945: Die zweimaligen personalen Veränderungen an den Lehr-und Forschungsstätten aus po litischen Gründen (nach 1933 und nach 1945) waren gleichfalls bedeutend, dazu kam die freiwillige und erzwungene Ausschaltung, Ausmerzung und Auswanderung deutscher Wissenschaftler vor wie nach dem Kriege'. 3 Hans ENGEL, Die Entwicklung der Musikwissenschaft 1900-1950, in: Zeitschrift für Musik 111 (1950), Heft 1, S. 16-22; hier S. 21. 4 Ebd., S. 19. 5 Ebd., S. 21-22. 6 Ebd., S. 22. 7 F[riedrich] BERTKAU und G[erhard] OESTREICH, Vorwort, in: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1950, hrsg. Friedrich BERTKAU und Gerhard OESTREICH, Berlin: de Gruyter 1950, S. VII-IX; hier S. VII. Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin 3 All das mag aus dem Rückblick ein halbes Jahrhundert später irritierend, ärger lich oder sogar abstoßend wirken, muß aber wohl als charakteristisch für alle Geisteswissenschaften im Deutschland und Österreich der Nachkriegszeit gel ten, denen sich Fragen über die Rolle und das Selbstverständnis ihrer Fächer of fensichtlich gerade nicht aufgedrängt hatten, auch wenn hier ein Hinweis auf das Editorial im ersten Heft der neu gegründeten Zeitschrift Die Musikforschung angebracht scheint, das derselbe Friedrich Blume verfaßt hatte, der schon im Krieg - unter klärungsbedürftigen Umständen8 - mit der Konzeption der bis heute prägenden »Allgemeinen Enzyklopädie« der Musikwissenschaft Die Musik in Geschichte und Gegenwart begonnen hatte: Dort finden sich immerhin im Kontext der damaligen Zeit sehr deutliche Worte des Bedauerns und Er schreckens über die Folgen des nationalsozialistischen Wahnsinns, auch wenn in gewohnter Wendigkeit die eigene Mitverantwortung für den Zusammen bruch eines internationalen musikwissenschaftlichen Gedankenaustauschs und wissenschaftlicher Mindeststandards heruntergespielt wird: Die ernsthaften Wissenschafter blieben zwar ihren Überzeugungen treu, aber das wurde nach außen meist nicht wahrnehmbar, weil sie ihre Stimmen nicht mehr erheben durf ten. [ ... ] Inhalt und wissenschaftliche Qualität der von 1935 bis 1942 veröffentlichten 24 Reichsdenkmal- und 13 Landschaftsdenkmalbände [ ... beweisen], daß in der internen Arbeit der deutschen Musikforschung der traditionelle Geist wissenschaftlicher Qualität und die moralische Pflicht zur Sauberkeit der Leistung nicht vor dem Despotismus der Zeit kapituliert haben9• Untypisch dagegen ist der merkwürdige Umstand, daß dieses bewußte Igno rieren der eigenen Vergangenheit in der Musikwissenschaft auch nach den ge sellschaftlichen und intellektuellen Umbrüchen der späten 1960er und 1970er Jahre noch die Regel darstellte - ein Rezensent eines bezeichnenderweise nicht von einem universitären Fachvertreter erarbeiteten Standardwerks zur Musik im NS-Staat hatte noch 1985 alle Gründe für die unverändert aktuelle Feststel lung: Die deutsche Musikwissenschaft [ ... ] ist der Darstellung ihrer [ ... ] Forschungsgeschichte bisher ausgewichen, bis in jüngste Lexikonartikel hinein [ ... ]. Zu eigenem Schaden. Heute sollen und dürfen solche Reserven nicht mehr bestehen; es muß möglich sein, die Darstellung und Diskussion zu beginnen, auch wenn einige Akteure noch leben. Das kann durchaus mit dem nötigen Takt und muß mit differenzierendem Vorgehen gesche- 8 Vgl. hierzu die spekulativen Andeutungen bei Willem de VRIES, Sonderstab Musik: music confiscation by the Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg under the Nazi occupation 0/ Western Europe, Amsterdam: Amsterdam University Press 1996, S. 79-84; deutsch: Sonderstab Musik. Organisierte Plünderungen in Westeuropa 1940-45, Köln: Dittrich 1998, S. 108- 115; und - freilich mit einem Beleg für die tatsächliche Verwendung des Lexikontitels in einem Pressebericht vom September 1944 - bei Eva WEISSWEILER, Ausgemerzt! Das Lexi· kon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen, Köln: Dittrich 1999, S. SO-56; zur Problematik dieser Darstellungen vgl. meine Rezensionen in: Musiktheorie 13 (1998), S. 266-269, und 14 (1999), im Druck. 9 Friedrich BLUME, Bilanz der Musik/orschung, in: Die Musik/orschung 1 (1948), S. 3-19; hier S. 6 und 8. 4 Anse1m Gerhard hen [ ... ]. Eiferer mögen sich beruhigen: auch dann wird die Sache noch erschreckend ge nug seinlO• Seitdem hat sich im Grunde wenig geändert. So fehlt bis heute jegliche syste matische Erforschung der Geschichte des universitären Fachs Musikwissen schaft im frühen 20. Jahrhundert. Zwar häufen sich in den letzten Jahren ein schlägige Veröffentlichungen, diese orientieren sich aber fast ausnahmslos am Leben einzelner Forscher oder an der Verstrickung deutscher Fachvertreter in das nationalsozialistische Regime. Derartige Versuche, die Affinität eines er schreckend großen Anteils deutschsprachiger Musikforscher zur völkischen Ideologie dokumentarisch zu belegen, haben an Dringlichkeit nichts verloren, wenn man betrachtet, wie es noch am Ende des 20. Jahrhunderts üblich ist, (vermutlich auf ,höhere< Order) die Jahre nach 1933 aus der Geschichte einzel ner U niversitäts-Institute explizit oder implizit auszuklammern, und den 11 12 offenbar sogar erkannten Mangel mit dem Hinweis zu kaschieren, zum »lange verschwiegenen Thema« läge ja bereits ein Beitrag - hier zu Freiburg im Breis gau - vor, der als »exemplarisch[e] [ ... ] Studie [ ... ] zugleich über den lokalen Rahmen hinausweist«13. Aber dennoch scheint eine einseitig auf die Jahre nach 1933 konzentrierte Betrachtung an entscheidenden Fragen vorbeizugehen, bleiben doch so die eigentlichen Gründe für die Entwicklung des Fachs und für manche bis heute fortwirkenden ,deformations professionelles< ausgeblendet. Durchaus in ein wenig ermutigendes Bild paßt es insofern, wenn trotz der inzwischen vorlie genden Forschungsliteratur14 in der Neubearbeitung von Die Musik in Geschich te und Gegenwart im Artikel Musikwissenschaft noch im Jahre 1997 nur in drei zusammenhanglosen Sätzen die hier verhandelte Problematik angesprochen wird: 10 Reinhold BRINKMANN, [Rezension von] Fred K. PRIEBERG, Musik im NS-Staat, Frank furt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1982, in: Die Musikforschung 38 (1985), S. 313-315; hier S. 315. 11 V gl. schon die Titelformulierung bei: Michael A. ARNTZ, Prolegomena zur Geschichte der universitären Musikwissenschaft in Köln bis 1932, in: System ische Musikwissenschaft. Fest· schrift Jobst Peter Fricke zum 65. Geburtstag, hrsg. Wolfgang AUHAGEN, Bram GÄ TJEN und Klaus Wolfgang NIEMÖLLER, Köln: Institut für Musikwissenschaft 1995 (zur Zeit nur als >internet<-Datei publiziert: http://www.uni-koeln.de/phil-fak/muwi/publl fs_fricke/arntz.html), oder bei: Thomas SCHIPPERGES, Musiklehre und Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg. Die Jahre 1898 bis 1927, in: Musik in Baden· Württemberg. Jahrbuch 5 (1998), S. 11-43. 12 So stellt Gabriela ROTHMUND-GAUL, Vom Universitätsmusikdirektor zum Ordinarius. Zur Geschichte der Musikwissenschaft an der Universität Tübingen, ebd., S. 45-56; hier S. 56, die späten 1930er Jahre so elliptisch dar, daß selbst der Zusammenhang der nack ten Fakten nicht mehr nachvollzogen werden kann. 13 [Georg GÜNTHER und Reiner NÄGELE], Vorbemerkung der Redaktion, ebd., S. 9-10; hier S. 9. 14 Vgl. die im Anhang folgende Auswahlbibliographie, S. 23-30.