Kunst und Kommunikation Schriften zur Kunstsoziologie und Massenkommunikation Herausgegeben von Dr. jur. Alphons Silbermann F.I.A.L. Sidney-Köln Band 1 Dr. jur. Alphons Silbermann Musik, Rundfunk und Hörer Die soziologischen Aspekte der Musik am Rundfunk Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Französische Originalausgabe La musique, la radio et l'auditeur. Etude sociologique © Springer Fachmedien Wiesbaden 1954 Ursprünglich erschienen bei Presses Un ivers ita ires de France. Paris 1954. Das Bud! wurde vom Institut de France preisgekrönt 1. deutsche Auflage 1959 ISBN 978-3-663-00798-2 ISBN 978-3-663-02711-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-02711-9 Alle Rechte für die deutsche Ausgabe Westdeutsd!er Verlag· Köln und Opladen Gesamtherstellung: Dr. Friedrid! Middelhauve GmbH· Opladen GiseIe Brelet in verehrungsvoller Freundsmaft zugeeignet Vorwort Gegenüber der eintomgen Litanei der kulturkritischen Argumente, die jedes Mal ertönen, sowie in der tlffentlichkeit von :len Problemen der Massenkommunikation wie Presse, Film, Rundfunk und Fern sehen gesprochen wird, wirkt es wie eine wahre Wohltat, wenn sich endlich ein Forscher diesen Fragen in unbefangener Weise zu nähern sucht, wie das Alphons Silbermann im vorliegenden Buche unternimmt. Eine solche Einstellung wil1d im übrigen um so positiver zu beurteilen sein, wenn der zentrale Gegenstand, um den es dabei geht, ausgerech net ,der von "Kunst und Kommunikation" ist, wie der programma tische Tüel der Reihe heißt, die mit diesem Bande eingeleitet wird. Denn ,die erwähnten kulturkritischen Er,güsse pflegen sich allemal dann zu einem lauten Klagegeheul zu erheben, sowie nicht nur allgemein von den Mitteln der Massenkommunrkation, ihrer Stellung und Funk tion in der modernen Gesellschaft gesprochen, sondern das viel spe ziellere Problem ihrer Beziehung zur sogenannten "Kultur" ins Auge gefaßt wird, wo doch vermeintlich allgemeine übereinstimmung dar über1!u herrschen scheint, daß sämtliche Mittel der Massenkommuni kation ausscMießlich der minderen Sphäre der "Zivilisation" angehö ren. Gemeinhin folgt unmittdbar die Stereotype von ,der "Vermas sung", der die Kultur dabei unterworfen werden soll, womit dann im allgemeinen die Diskussion geschlossen wird, nachdem man bestenfalls noch ein paar Beispiele für den vermeintlichen Niedergang der Kultur angeführt hat, der durch den "Massenkonsum" von Kulturgütern ein geleitet wird. Die Einstellung der Soziologie ist grundsätzlich verschieden von dieser affektiven und von mancherlei klaren, aber noch mehr unklaren V orurteilen durchzogenen Pseudotheor,ie, die im Grunde eine kon krete Erforschung der tatsächlich bestehenden Verhältnisse vollkom men verhindert. Schon lange ist nämlich diese Kulturkritik zu einer deklamatorischen, zu nichts verpflichtenden Phrase erstarrt, worüber weder die ständjgen Beteuerungen ihres guten Willens, noch der er strebten "Tiefe" hinüberweghelfen. Da'Semphatische Gestammel nach Tiefe wird dadurch nicht bedeutungsreicher, daß man es wie von einer Gebetmühle immer wieder mechanisch herunterleiert. Bei reali stischer Betrachtung der Lage, wie sie die Soziologie zu üben gewohnt ist, hat sich gewiß erw~esen, daß durch den heutigen Massenkonsum an Kulturgütern zahllose gewichtige Probleme angerührt werden; 7 gleichze>itig ist es aher nur zu einfach festzustellen, daß wir diesen ech ten Schwierigkeiten mit primärer Kulturkritik nicht beikommen kön nen, weil sie inder Oberflächenebene eines mehr oder weniger pri vaten Affekts stecken bleibt. Wahre Kulturkritik kann erst dann be ginnen, nachdem die Situation in ihrem sachlichen Gehalt erkannt worden ist. Die Meinung, man könne diesen sachlichen Gehalt aus der Kritik herausdest~llieren, heißt im Grunde, den Pflug vor den Ochsen spannen. Es liegt auf der Hand, daß der kulturkritische Affekt eine akute Zuspitzung erfahren muß, sowie es um den Massenkonsum von Musik am Radio geht. Das gilt insbesondere für Deutschland, wo man ge meinhin ergriffen die Augen zu schließen pflegt, sowie von Musik die Rede geht. Um so mehr bewundern wir den Mut von Silbermann, daß er ,sich die Sache keineswegs vereinfacht hat, sondern gelassen dem Drachen in den Schlund greift; denn nur dakannman eine exemplarische Analyse erwarten, so man sich an die Extremsituationen wagt. Damit wird ein Unternehmen fortgesetzt und wird hoffentlich zu den glei chen frudltbaren Diskussionen Anlaß geben, wie es Silbermann mit dem von ihm hervorragend vorbereiteten und mit sachlicher Energie geleiteten internationalen Kongreß über "Die soziologischen Aspekte der Musik am Radio" anbahnte, der vom 27. bis 30. Oktober 1954 in Paris stattfand und zahlreiche Initiativen auf diesem so heiklen Gebiete auslöste, das er heute auch in Deutschland zu diskutieren unternimmt. Wir können ein solches Beginnen nur begrüßen und hof fen, daß die weiteren Bände der Reihe "Kunst und Kommunikation" endlich dazu beitragen werden, die so sehr benötigten Grundlagen für eine realistische Kultursoziologie zu legen. Rene König 8 Inhalt I. Aufgabe und Arbeitsplan ............................ 11 11. Vom Sinn und Unsinn der Musikstatistik • . . . . . . . . . . . . .. 27 111. Vom Hörerverhalten und der Stille. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39 IV. Konzept und Rahmen einer Kultursoziologie ............ 52 V. Der Rundfunk ist eine "sozio-kulturelle Institution" ...... 68 VI. Von den Funktionen der sozio-kulturellen Institution. . . .. 81 1. Sammelfunktion. Musik am Rundfunk als Divertissements- und Amüsementsagens ............................ 86 2. Funktionen gegenüber den "Musikern" .............. 91 a) Der Rundfunk ist Mäzen ........................ 91 b) Der Rundfunk ist Komponist .................... 93 c) Der Rundfunk ist musikalischer Erzieher ........... 95 d) Der Rundfunk ist Interpret ...................... 97 e) Der Rundfunk ist Musikologe .................... 99 f) Der Rundfunk ist Impresario ...... . . . . . . . . . . . . . .. 99 g) Der Rundfunk ist Programmgestalter ............. 101 h) Der Rundfunk ist Tontechniker ................... 102 3. Funktion der musikalischen Penetration .............. 104 4. Funktionen gegenüber Musik und Gesellschaft ......... 109 a) Organisierte Kultur ............................ 109 b) Geschmackskontrolle ............................ 116 c) Funktionarismus ............................... 123 d) Direkte und erhoffte musikalische Erziehung ....... 127 VII. Die Distanz und ihre überbrückung ................... 139 VIII. Kulturelle Homogenität ............................. 162 IX. Die Sonoritätsgruppen .............................. 166 X. Die Kulturtabelle .................................. 175 Literaturverzeichnis ...................................... 201 I. Aufgabe und Arbeitsplan Im Juni 1951 beauftragte uns das "Centre d'Etudes Radiophoniques" (c. E. R.) der "Radio diffusion-Television Frans:aise" (R. T. F .), das sich ausschließlich mit rundfunk- und fernsehwissenschaftlichen Fragen be faßt, mit einer musiksoziologischen Forschungsarbeit. Grosso modo gesprochen, wünschte man, daß die durch Rundfunk vermittelte Musik, unter Zuhilfenahme der Erkenntnisse der Soziologie, in ihren Be ziehungen zur Gesellschaft untersucht werde. Nach einigem Hin und Her, Vorbesprechungen, Briefwechsel, Diskussionen etc. begannen wir - wie der offizielle Auftrag lautete - "am Centre d'Etudes Radio phoniques de Paris eine Forschungsgruppe über die soziologischen Aspekte der Musik am Rundfunk zu leiten". Um den Rahmen der Untersuchung zumindest in seiner Ausdehnung zu begrenzen, wurde schon zu Beginn darauf hingewiesen, daß es die" wesentliche Aufgabe dieser Arbeiten" ist, "praktische Resultate zu erreichen, die den ver schiedenen Dienststellen der R. T. F. zugute kommen und zur Aus arbeitung oder Verwirklichung ihrer Programme dienen". Ein flüchtiger Blick auf die sonstigen Forschungen, die unter Leitung eminenter Wissenschaftler im Rahmen des "Centre d'Etudes Radio phoniques" unternommen wurden und werden, läßt erkennen, daß die gestellten Aufgaben es bereits verlangen, die Arbeitsgruppen und ihre Leiter wie mit einem Zaunpfahl auf die Notwendigkeit des Praktischen und Anwendbaren hinzuweisen, da sonst nur zu sehr die Versuchung naheliegt, sich in Verallgemeinerungen zu verlieren. Ganz abgesehen von diesem Sinn der beschränkenden Vorsichts maßregel, erscheint es lobenswert, die Bedingungen "praktisch" und "anwendungsfähig" in den Vordergrund zu rücken; denn es handelt sich nicht darum, persönlich-wissenschaftlichen Idiosynkrasien freien Lauf zu lassen, sondern um die Erforschung von Gegebenheiten, die dem Allgemeinwohl dienen müssen. Es geht darum, unser Dasein, das bereits in starkem Maße durch die Beherrschung der Naturkräfte um geformt wurde, immer weiter zu verbessern. Hier dürfte wohl über haupt die Existenzberechtigung des C. E. R. und ähnlicher Forschungs institute zu suchen sein. Hätte man einem Problem wie dem unseren vor 35 Jahren wissenschaftliche und praktische Aufmerksamkeit zu gewendet, so hätte man dort Brücken untersucht, wo noch keine Flüsse flossen. Betrachtet man aber heute den Rundfunk, seine weltweite Ausdehnung und seine vielartigen Auswirkungen, so kann es uns nur 11 verwundern, daß es - wie zum Beispiel in Australien - noch immer Rundfunkorganisationen größeren Ausmaßes gibt, für die Probleme solcher Art einfach nicht existieren, geschweige denn einer Forschung unterworfen werden. Das "Centre d'Etudes Radiophoniques" und seine Aufgaben sind ebenso zeitgeboren wie die übernahme der literarischen Erbschaft eines Gide, eines Munthe, eines Maeterlinck durch einen Sartre, einen Mal raux oder einen Breton. Wenn vielleicht auch nicht gefühlsmäßig, so doch sicherlich rein wissentlich muß es den Leitern der Rundfunk organisationen immer wieder zum Bewußtsein kommen, daß man sich außerhalb ihres eigenen, unmittelbaren Kreises sehr viel mit ihnen und ihren Problemen beschäftigt. Sei es, daß man ihnen Vorwürfe macht oder daß man sie lobt, aus bei dem spricht eine zeitgeborene Aufmerk samkeit, die, da sie in Zeitungsartiktln, übersichten, Kritiken und Essays nur angedeutet werden kann, danach verlangt, unter fester Leitung wissenschaftlich durchforscht zu werden. Es ist vielleicht nur hysterisch, wenn ausgerufen wird: "In Wirklich keit üben diese Kräfte - insbesondere das Radio - eine solche Kollek tivmacht aus, daß die Idee, sie in Bande zu legen, den freien Geistern Furcht einflößt." Aber es ist sicherlich völlig unrichtig, wenn es heißt, daß Probleme, wie die Beziehungen zwischen "volkstümlicher Er ziehung", "Dienst am intellektuellen Leben", "politischen und totali tären Zielen" und "kulturellen Absichten", Fragen sind, "die man bei den in Freiheit lebenden Völkern und insbesondere in Frankreich in Wirklichkeit noch nicht gestellt hat." Das Vorhandensein des "Centre 1 d'Etudes Radiophoniques", seiner Forschungsgruppen und dieser Bericht über unsere eigenen Arbeiten, was immer auch das Ergebnis sei, sind die beste Antwort auf einen Vorwurf, wonach man eine zeit geborene und daher zeitnotwendige Beschäftigung mit lebenswichtigen Anforderungen unterlassen habe. Hinweise, die ein "Plädoyer für das Radio" enthalten, sind die gleichen Zeiterscheinungen wie solche, welche ·die amerikanische Sendestation NBC dazu veranlaßten, ihre Komiker zu ersuchen, in ihren Programmen nicht zu übersehen, daß es auch einmal einen Sokrates gegeben hat2• Indem wir versuchen, den Rundfunk genauer in die Mitte der Gesellschaft zu placieren, tun wir nicht nur unsere Pflicht denen gegenüber, welchen wir dienen, sondern gehorchen auch dem Ruf der Zeit. Wir schalten uns dort ein, wo die Entwicklungslinie einen Punkt erreicht hat, bei dem "der Kampf um den Geist den Kampf um das Leben ersetzt hat." 3 Es handelt sich bei unserer Arbeit um eine Aufgabe, die den franzö- sischen Rundfunk betrifft, wobei im Augenblick darum gebeten wird, 1 A. Rousseaux in; Figaro. Paris 14. 5. 1952. 2 TIme. New York 21. 1. 1952. 3 Lecomte du Noüy, L'avenir de }'esprit. Gallimard, Paris 1941, S. 228. 12
Description: