SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Oliver Geden/Severin Fischer Moving Targets Die Verhandlungen über die Energie- und Klimapolitik-Ziele der EU nach 2020 S 1 Januar 2014 Berlin Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Begutachtungsverfah- ren durch Fachkolleginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review). Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, 2014 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 34 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-100 www.swp-berlin.org [email protected] ISSN 1611-6372 Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Struktur des Verhandlungs- und Entscheidungsprozesses 10 Präferenzbildung der Mitgliedstaaten 10 Veränderte Kontextfaktoren 12 Pfadabhängigkeiten und Erfahrungen mit EU- Instrumenten 15 Zentrale Elemente eines Verhandlungs- kompromisses 15 Zielarchitektur 18 Ausgestaltung der »Headline Targets« 20 Zeithorizont der Zielbestimmungen 21 Grundstruktur des Verhandlungsergebnisses 23 Paradigmenwandel in Europa 24 Fundamentale Verschiebungen 25 Wissenschaftliche vs. politische Begründung der Transformation 27 Auswirkungen auf die deutsche Energiewende- Politik 28 Energiewende-Ziele unter Anpassungsdruck 29 Strategien einer »Energiewende-Europapolitik« 31 Abkürzungen Dr. Oliver Geden und Severin Fischer, Forschungsgruppe EU-Integration Problemstellung und Empfehlungen Moving Targets. Die Verhandlungen über die Energie- und Klimapolitik-Ziele der EU nach 2020 Die Energie- und Klimapolitik nimmt seit 2007 einen der vorderen Plätze auf der Agenda der Europäischen Union (EU) ein. Die sogenannten »20-20-20-Ziele«, die unter der deutschen Ratspräsidentschaft beschlossen wurden, waren der erste Schritt hin zu einem integrier- ten Politikansatz, mit dem die Energieversorgung nicht nur wettbewerbsfähig und sicher, sondern vor allem auch ökologisch nachhaltig gestaltet werden soll. Aufgrund der langen Investitionszyklen in der Energiewirtschaft und der Zeit, die die EU für ihre in- terne Positionsbildung im Hinblick auf die internatio- nalen Klimaverhandlungen benötigt, hat inzwischen bereits die Debatte über den Politikrahmen für die Jahre nach 2020 begonnen. Im März 2013 hat die Kom- mission mit der Vorlage eines Grünbuchs den Diskus- sionsprozess eröffnet, der 2014 schrittweise in formel- le Verhandlungen führen wird. Die Entscheidung über neue EU-Energie- und Klimaziele obliegt letztlich dem Europäischen Rat, in dem die 28 Staats- und Regie- rungschefs einen Konsens finden müssen. Diese Studie untersucht, welche Verhandlungs- ergebnisse bei der Neuformulierung des energie- und klimapolitischen Politikrahmens der EU für die Zeit nach 2020 plausibel und wahrscheinlich sind. Zudem zeigt sie auf, welche Auswirkungen ein absehbar wenig ambitionierter EU-Kompromiss auf die deutsche Energiewende-Politik hätte. Vergleicht man die gegenwärtige Situation mit den Jahren vor 2007, so wird eine Prioritätenverschiebung erkennbar. Als eine Folge der Wirtschaftskrise hat die Energiepreisentwicklung eine wesentlich größere Bedeutung erlangt. Aufgrund der negativen Erfahrun- gen, die mit den Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen (VN) verbunden sind, ist unter den EU-Mit- gliedstaaten zudem umstritten, inwieweit man sich noch auf unilaterale Vorleistungen festlegen sollte. Viele Mitgliedstaaten stellen nicht nur in Frage, dass die EU an der Trias der Ziele Emissionsminderung, Ausbau der Erneuerbaren und Steigerung der Energie- effizienz festhalten soll. Auch was die jeweiligen Ambitionsniveaus betrifft, ist eine Tendenz erkennbar, hinter den bisherigen Planungen zurückzubleiben. Schon jetzt lässt sich prognostizieren, dass das Projekt einer langfristig angelegten Transformation zur SWP Berlin Moving Targets Januar 2014 5 Problemstellung und Empfehlungen Low-Carbon Economy zukünftig mit großen Umsetzungs- im Rahmen konkreter Gesetzgebungsverfahren gilt, In- schwierigkeiten konfrontiert sein wird. strumente wie den Emissionshandel neu zu justieren. Der sich abzeichnende Paradigmenwandel wird in Aus deutscher Sicht ist es notwendig, sich bereits der energie- und klimapolitischen Debatte bislang frühzeitig mit der vom Europäischen Rat zu treffen- kaum reflektiert. Die zentralen Argumente, mit denen den Grundsatzentscheidung zu befassen, insbesondere die Architektur des EU-Politikrahmens und die Ge- mit der Architektur, den Ambitionsniveaus und dem schwindigkeit seiner Fortentwicklung begründet Zeithorizont der zentralen energie- und klimapoliti- werden, stützen sich nicht auf die erkennbaren Prä- schen Ziele der EU. Aufgabe der vorliegenden Studie ferenzverschiebungen bei den Mitgliedstaaten, son- ist deshalb nicht nur, die Grundelemente denkbarer dern vor allem auf makroökonomisch optimierte Verhandlungskompromisse aufzuzeigen, sondern Policy-Designs. In solchen, an strikter Sachrationalität auch zu analysieren, wie diese Elemente miteinander orientierten Modellen werden langfristige Trans- verknüpft und im Detail ausgestaltet werden können. formationspfade für das europäische Energiesystem Aus heutiger Sicht ist es sehr wahrscheinlich, dass entworfen, die außerordentlich hohe Wirkung von die 28 Staats- und Regierungschefs ein lediglich mode- genuin politischen Rationalitäten in der EU wird rates Emissionsminderungsziel beschließen werden. dabei jedoch übersehen. Transformationskonzepte mit Zudem dürfte kaum ein Konsens darüber herzustellen strikten targets and timetables setzen eine langfristig sein, das bislang für den gesamten Energiesektor konsistente Politikgestaltung voraus, wie sie in der geltende Erneuerbaren-Ausbauziel fortzuführen. Die Praxis nicht einmal annähernd vorzufinden ist. Ein Auswirkungen eines solchen Verhandlungsergebnisses primär auf makroökonomische Modellierungen ge- auf die deutsche Energiewende wären größer, als es stützter Energie- und Klimadiskurs mündet dem- hierzulande wahrgenommen wird. Denn im Kontext entsprechend häufig in politische Fehlperzeptionen. einer europäisierten Klimapolitik und einer zuneh- Regelmäßig wird die Fachöffentlichkeit durch die Er- menden Integration der Strom- und Gasmärkte kann gebnisse komplexer intergouvernementaler Verhand- sich Deutschland nur noch bedingt von unliebsamen lungsprozesse überrascht, weil zweit-, dritt- und viert- Entwicklungen auf EU-Ebene abkoppeln. Nicht nur die beste Politikszenarien zuvor kaum einmal detailliert deutschen Erneuerbaren-Ziele könnten unter Anpas- durchgespielt wurden. sungsdruck geraten. Sollte die EU ihren Ehrgeiz beim Diese Studie wählt bewusst einen anderen Weg. Der Klimaschutz bremsen und der Preis für Emissions- Entscheidungsprozess wird primär aus der Perspektive zertifikate niedrig bleiben, werden sich auch die im der Verhandler analysiert. Im Zuge der Untersuchung Rahmen der Energiewende gesetzten Emissionsminde- werden nicht nur Faktoren der Präferenzbildung bei rungsziele kaum noch einhalten lassen. den Mitgliedstaaten gewichtet, sondern auch prozedu- Wenn die Bundesregierung dieser Herausforderung rale Aspekte des Verhandlungsprozesses berücksich- wirksam begegnen will, muss sie sich stärker auf tigt, die in der Energie- und Klimadebatte unterbelich- EU-Ebene engagieren. Sie wird jedoch nur dann erfolg- tet bleiben. Auf diese Weise lässt sich das Tableau reich agieren können, wenn sie zuvor klärt, wie sie potentieller Verhandlungsergebnisse besser ausloten. sich die Ausgestaltung der europäischen Dimension Nicht zuletzt ermöglicht es dieser Ansatz auch, die der Energiewende vorstellt, welche Strategie sie mit- Antizipationsfähigkeit aller Akteure und Stakeholder tels einer »Energiewende-Europapolitik« zukünftig ver- deutlich zu erhöhen. folgen will. Angesichts der komplexen Verhandlungs- Da die Verhandlungen zwischen den Mitglied- konstellation im EU-Rahmen und des immer noch staaten noch am Anfang stehen und wohl erst nach breiten Energiewende-Konsenses ist es naheliegend, dem Weltklimagipfel 2015 abgeschlossen werden, las- einen relativ pragmatischen Ansatz zu wählen. In sen sich die konkreten Ergebnisse des Prozesses selbst- dessen Zentrum würde das Bestreben stehen, die verständlich noch nicht exakt vorhersagen. Nur ein Energiewende europapolitisch so zu flankieren, dass Teil der Mitgliedstaaten hat bereits klare Präferenzen das nationale Leuchtturmprojekt nicht durch europäi- geäußert, viele verhalten sich bislang bewusst abwar- sche Entwicklungen konterkariert wird. In den EU-Ver- tend. Daran werden auch die für Ende Januar 2014 zu handlungen müsste sich die Bundesregierung dem- erwartenden Vorschläge der Kommission zunächst entsprechend darauf konzentrieren, zu einer Ver- wenig ändern. Das Europäische Parlament kommt einbarung zu gelangen, die sowohl ein ehrgeiziges ohnehin erst dann ins Spiel, wenn die Staats- und Emissionsminderungsziel als auch ein verbindliches Regierungschefs die Oberziele festgelegt haben und es Erneuerbaren-Ziel im Stromsektor umfasst. SWP Berlin Moving Targets Januar 2014 6 Struktur des Verhandlungs- und Entscheidungsprozesses Struktur des Verhandlungs- und Entscheidungsprozesses Als Rechtsgemeinschaft von 28 Mitgliedstaaten ist die klimapolitischen Politikrahmens für die Zeit nach EU wie kaum eine andere internationale Organisation 2020 zur Anwendung kommen.2 durch komplexe institutionelle Strukturen und ver- Für die nun anstehenden Post-2020-Verhandlungen traglich geregelte Modi der Politikgestaltung geprägt. hat die EU-Kommission bereits seit 2011 umfangreiche Um ermitteln zu können, welche Verhandlungsergeb- Vorarbeiten geleistet, während sich die Mitgliedstaaten nisse bei der Neuformulierung des energie- und klima- lange Zeit nur sehr zurückhaltend äußerten, wodurch politischen Rahmens für die Zeit nach 2020 plausibel in der energie- und klimapolitischen Fachöffentlich- und wahrscheinlich sind, ist es notwendig, sich zu- keit bisweilen der Eindruck entstand, die Kommission nächst einigen prozeduralen Fragen, den expliziten sei der zentrale Akteur in diesem Prozess. Den Auftakt wie impliziten Regeln im Verhandlungs- und Ent- der Debatte bildeten drei bis ins Jahr 2050 reichende scheidungsprozess und den politikfeldspezifischen Langfristfahrpläne (Roadmaps) der Kommission.3 Aus- Pfadabhängigkeiten zu widmen. gehend von einem übergreifenden Fahrplan für eine Während der Gesetzgebungsprozess in der EU kohlenstoffarme Wirtschaft (Low-Carbon Economy Road- primärrechtlich bis ins Detail festgelegt ist, unter- map) untersuchte die Kommission sowohl für den liegen strategische Grundsatzentscheidungen weniger Energie- als auch speziell für den Transportbereich, stark vorstrukturierten Verfahren. Die Klärung von wie sich ehrgeizige Emissionsminderungsziele bis strategischen Grundsatzfragen der EU wird stets durch zum Jahr 2050 umsetzen ließen und welche Zwischen- den Europäischen Rat vorgenommen. Weitgehend ziele für 2030 und 2040 jeweils angemessen wären. unabhängig von den Vorarbeiten der Kommission Dass sich die Fachministerräte in der Folgezeit nicht bestimmt der Gipfel der 28 Staats- und Regierungs- einmal auf rechtlich unverbindliche Schlussfolgerun- chefs sowohl über die Inhalte als auch den Zeitpunkt gen zu den einzelnen Roadmaps einigen konnten, seiner Entscheidungen selbst, und dies stets einstim- wurde in erster Linie der skeptischen Haltung der mig.1 Im anschließenden ordentlichen Gesetzgebungs- polnischen Regierung zugeschrieben, die Ratsschluss- verfahren besitzt die EU-Kommission hingegen das folgerungen mit ihrem Veto verhinderte.4 Dem- Initiativrecht. Sie unterbreitet den Fachministerräten entsprechend agierte die Kommission im nächsten und dem Europäischen Parlament konkrete Vorschlä- Schritt ein wenig vorsichtiger. Im März 2013 veröffent- ge, über die diese nach den jeweiligen Mehrheits- lichte sie ein stärker an den Präferenzen der Mitglied- regeln abstimmen, bis eine Einigung über neue Richt- staaten orientiertes, aber immer noch auf den Analy- linien, Verordnungen oder Entscheidungen gelingt. Diese Zweiteilung des Politikgestaltungsprozesses – 2 Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, dass der Europäische Rat die Strategie zwar definiert und bestimmt, aber nicht für intergouvernementale Strategieentscheidung gefolgt von ihre Umsetzung verantwortlich ist. Peter Ludlow bringt es vergemeinschaftetem Gesetzgebungsverfahren – ist in mit Blick auf den März-Gipfel 2007, bei dem erstmals eine vielen EU-Politikfeldern seit Jahren gängige Praxis. Sie integrierte EU-Energie- und -Klimapolitik beschlossen wurde, wird auch bei der Neugestaltung des energie- und treffend auf den Punkt: »A good European Council generates work. A poor one induces lethargy«, Peter Ludlow, »A View on 1 So heißt es in Artikel 15 (1) des EU-Vertrags (EUV): »Der Brussels: A Tale of Two Councils«, in: Eurocomment Briefing Note, Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung 5 (März 2007) 1/2, S. 3. erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen 3 Europäische Kommission, Fahrplan für den Übergang zu einer Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest. Er wird nicht wettbewerbsfähigen CO-armen Wirtschaft bis 2050, KOM(2011) 112, 2 gesetzgeberisch tätig.« In Absatz 4 wird ausgeführt: »Soweit in Brüssel, 8.3.2011; dies., Energiefahrplan 2050, KOM(2011) 885, den Verträgen nicht anders festgelegt, entscheidet der Euro- Brüssel, 15.12.2011; dies., Weißbuch. Fahrplan zu einem einheit- päische Rat im Konsens.« Diese Formulierung ermöglicht es lichen europäischen Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorien- trotz des Einstimmigkeitsgebots, eine Entscheidung auch tierten und ressourcenschonenden Verkehrssystem, KOM(2011) 144, dann herbeizuführen, wenn Mitglieder des Europäischen Brüssel, 28.3.2011. Rats sich enthalten oder nicht anwesend sind, siehe auch 4 Vgl. Severin Fischer/Oliver Geden, Die »Energy Roadmap 2050« Artikel 235 (1) des Vertrags über die Arbeitsweise der Euro- der EU: Ziele ohne Steuerung, Berlin: Stiftung Wissenschaft und päischen Union (AEUV). Politik, Februar 2012 (SWP-Aktuell 8/2012). SWP Berlin Moving Targets Januar 2014 7 Struktur des Verhandlungs- und Entscheidungsprozesses sen der Roadmaps basierendes Grünbuch zur Energie- schließlich den 28 Staats- und Regierungschefs im und Klimapolitik bis 2030.5 Im Rahmen der mit dem Europäischen Rat zu. Grünbuch eingeleiteten Stakeholder-Konsultation Form und Umfang dieses Beschlusses stehen nicht wurden über 500 Stellungnahmen eingereicht, von vornherein fest. Im Mittelpunkt des auf diese darunter lediglich 14 von Regierungen der Mitglied- Weise vereinbarten Politikrahmens werden allgemei- staaten. nere Ausführungen zur strategischen Prioritäten- Unter eigenständiger Gewichtung dieser Stellung- setzung der EU und die Festlegung von besonders nahmen erarbeiten die beiden federführend zuständi- herausgehobenen, quantifizierten Oberzielen stehen gen Generaldirektionen der Kommission (GD Energie (Headline Targets), etwa für Emissionsminderungen, den und GD Klimapolitik) einen konkreten Vorschlag für Ausbau der Erneuerbaren oder zur Energieeffizienz. einen Politikrahmen nach 2020 (etwa in Form eines Ergänzend kommt möglicherweise ein Aktionsplan Weißbuchs), ergänzt durch eine umfangreiche makro- hinzu, um auch solche Themen adressieren zu kön- ökonomische Folgenabschätzung (Impact Assessment). nen, die sich nicht in exakt quantifizierten Oberzielen Nach seiner Veröffentlichung – die bereits mehrfach abbilden lassen, etwa die Energieaußenpolitik oder verschoben wurde und nun für Anfang 2014 geplant die Entwicklung des Energiebinnenmarkts. Bei der ist – wird der Kommissionsvorschlag zwar zunächst als Entscheidung gilt in jedem Fall ein Einstimmigkeits- Referenzpunkt der Debatte dienen, das Verfahren gebot, das es vertragsrechtlich auch einem kleinen selbst aber geht in diesem Moment in einen rein inter- Staat wie Malta oder Zypern erlaubt, Beschlüsse mit gouvernementalen Prozess über.6 Wann und über einem Veto zu verhindern. Bei der Durchsetzung welche Fragen mit welcher inhaltlichen Ausrichtung eigener Positionen spielen die Größe der Mitglied- entschieden wird, legen allein die Mitgliedstaaten staaten und Allianzen, zu denen sie sich zusammen- fest. Die Verhandlungen werden zunächst fernab der schließen, allerdings eine maßgebliche Rolle.8 Öffentlichkeit stattfinden, in den fachlich haupt- Erst wenn diese Phase der Strategiebildung ab- zuständigen Arbeitsgruppen des Rates der Europäi- geschlossen ist, kann das Prozedere zur Ausarbeitung schen Union und im Ausschuss der Ständigen Ver- detaillierter Legislativvorschläge durch die Kommis- treter (AStV) der Mitgliedstaaten bei der EU. Strittige sion beginnen. Im ordentlichen Gesetzgebungsverfah- Punkte, die auf diesen Ebenen nicht geklärt werden ren entscheiden Europäisches Parlament und der können, werden den Ratstagungen der Energie- sowie jeweils zuständige Fachmininisterrat dann schließlich der Umweltminister zur weiteren Aussprache vor- über die konkrete Ausgestaltung der Beschlüsse der gelegt. Die beiden Fachministerräte beschließen 28 Staats- und Regierungschefs. Abweichungen von jeweils konsensuale Ratsschlussfolgerungen, stimmen den strategischen Grundsatzentscheidungen sind da- sich in der Regel jedoch nicht untereinander ab.7 Es ist bei allenfalls in bescheidenem Umfang möglich.9 Da also durchaus möglich, dass der Umweltministerrat in dieser Phase anspruchsvollere Ziele befürwortet als 8 Die Bedeutung von Allianzen und Gruppenzugehörig- der Energieministerrat. Die Bereinigung etwaiger keiten unter den Mitgliedstaaten hat zugenommen. Gleich- Differenzen zwischen den Ratsschlussfolgerungen zeitig hat sich die Bündnisbildung themenspezifisch weiter ausdifferenziert, vgl. Erik Jones/Anand Menon/Stephen übernimmt wiederum der AStV, der auch die Sitzun- Weatherill (Hg.), The Oxford Handbook of the European Union, gen des Europäischen Rats vorbereitet und hierfür Oxford 2012, dabei insbesondere die Aufsätze in: »Part IV: Schlussfolgerungsentwürfe formuliert. Die endgültige Member States (Cleavages)«, S. 249–320. Grundsatzentscheidung über den energie- und klima- 9 Dies lässt sich vor allem mit der Rolle des Europäischen politischen Rahmen für die Zeit nach 2020 fällt Rats als »the EU’s Ultimate Political Authority« begründen (Jeffrey Lewis, »Council of Ministers and European Council«, in: Jones/Menon/Weatherhill [Hg.], Oxford Handbook [wie Fn. 8], 5 Europäische Kommission, Grünbuch. Ein Rahmen für die Klima- S. 327). Dass geringfügige Modifikationen durchaus möglich und Energiepolitik bis 2030, KOM(2013) 169, Brüssel, 27.3.2013. sind, zeigt etwa der Umgang mit dem 2007 vom Europäischen 6 Der Kommission kommt ab diesem Zeitpunkt zwar keine Rat beschlossenen Unterziel zur Steigerung des Anteils von Rolle in den Verhandlungen selbst zu. Aufgrund ihrer Kom- Biokraftstoffen im Verkehrssektor auf 10% bis 2020. Aufgrund petenzen im Rahmen des EU-Wettbewerbsrechts ist sie jedoch der zunehmend negativen Berichterstattung über Biokraft- in der Lage, indirekten Druck auf die Regierungen der Mit- stoffe und in Anbetracht der sich entwickelnden Perspektiven gliedstaaten auszuüben. für die Elektromobilität entschied man sich im Zuge des 7 Daneben dürften auch noch weitere Fachformationen Gesetzgebungsverfahrens zur Erneuerbare-Energien-Richt- Stellung zum Kommissionsvorschlag beziehen, etwa der Rat linie, diesen Zielwert 2009 neu zu definieren, nämlich als für Wettbewerbsfähigkeit. Anteil von 10% erneuerbarer Energien im Verkehrssektor. SWP Berlin Moving Targets Januar 2014 8 Struktur des Verhandlungs- und Entscheidungsprozesses die Interpretationsspielräume bei den quantifizierten Oberzielen begrenzt sind10 und diese erfahrungs- gemäß anschließend auch die energie- und klimapoli- tische Kommunikation der EU bestimmen, stehen die »Headline Targets« im Zentrum der Entscheidung des Europäischen Rats. Je detaillierter die Beschlüsse der Staats- und Regie- rungschefs im Europäischen Rat ausfallen, desto weniger Spielraum haben die Akteure in den nach- gelagerten Gesetzgebungsverfahren. Zugleich be- deutet dies, dass die »Nicht-Entscheidung« über einen Sachverhalt oder eine bewusst eingesetzte Unschärfe bei der Formulierung von Zielen auch als eine Ver- schiebung des Verhandlungsgegenstands in eine nachgelagerte Arena verstanden werden kann, mit dann veränderten Akteurskonstellationen und Ent- scheidungsregeln.11 10 Ein vom Europäischen Rat beschlossener Prozentwert eines Oberziels – beispielsweise »40% Emissionsminderung bis 2030« – kann in der Regel nicht mehr verändert werden. Über regulatorische Präzisierungen ist es jedoch möglich, das ursprünglich intendierte (oder auch nur kommunizierte) Anspruchsniveau zu verändern. 11 Vgl. George Tsebelis, »Bridging Qualified Majority and Unanimity Decisionmaking in the European Union«, in: Journal of European Public Policy, 20 (2013) 8, S. 1083–1103. Tsebelis argumentiert, dass durch die Wahl unspezifischerer Formulierungen während der Verhandlungen die Wahr- scheinlichkeit für eine einstimmige Entscheidung erhöht werden kann. SWP Berlin Moving Targets Januar 2014 9 Präferenzbildung der Mitgliedstaaten Präferenzbildung der Mitgliedstaaten Neben den prozeduralen Aspekten des Entscheidungs- Veränderte Kontextfaktoren prozesses muss eine Analyse der Verhandlungen über den zukünftigen Politikrahmen auch die Präferenzen Der Gipfel des Europäischen Rates im März 2007 war der maßgeblichen Akteure miteinbeziehen, der im Vorfeld durch drei Entwicklungen geprägt, die für Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Hier kommen die Problemwahrnehmung der Mitgliedstaaten ent- nicht nur grundlegende energie-, klima- und wirt- scheidend waren. Einen sehr starken Einfluss hatten schaftspolitische Interessenlagen und Problemwahr- die zunehmend auch medial vermittelten Bedrohun- nehmungen zum Tragen, sondern auch die in der gen durch den Klimawandel. Höhepunkt dieser ver- Europapolitik der Mitgliedstaaten stets virulente dichteten Meinungsbildungsphase war die Veröffent- Frage, welche politischen Probleme überhaupt einer lichung des 4. Sachstandberichts des Weltklimarats Bearbeitung auf EU-Ebene bedürfen. Einen nicht zu 2007. Bereits im Jahr zuvor hatte der von der briti- unterschätzenden Faktor für das Agieren der Regie- schen Regierung in Auftrag gegebene Stern-Report die rungen in den Post-2020-Verhandlungen bilden Aufmerksamkeit auf die ökonomische Dimension des schließlich die bisherigen Erfahrungen mit einer Klimawandels gelenkt und somit maßgeblich zum integrierten europäischen Energie- und Klimapolitik. Mainstreaming, das heißt zur Etablierung des Klima- Ausgangspunkt der Betrachtungen muss die 2007 themas, in der EU beigetragen. Ein zweiter wichtiger beschlossene EU-Energiestrategie sein.12 Die damals Aspekt, der stark auf den Politikgestaltungsprozess festgelegten »Headline Targets« von jeweils 20 Prozent einwirkte, war die Sorge der neuen Mitgliedstaaten in für Emissionsminderungen, erneuerbare Energien Mittel- und Osteuropa um die Sicherheit ihrer Öl- und und Energieeffizienz bis 2020 wirken bis heute Gasversorgung, insbesondere mit Blick auf Russland. diskursprägend, nicht nur wegen der eingängigen Und drittens ging auch von der Preisentwicklung auf Formel »20-20-20-Ziele«, sondern auch aufgrund ihres den internationalen Energiemärkten politischer Hand- herausgehobenen Rangs innerhalb der EU-Wirtschafts- lungsdruck aus. Wenn auch die einzelnen Mitglied- strategie Europa 2020.13 Vor allem aber konstituieren staaten diese Problemwahrnehmungen durchaus die Beschlüsse von 2007 auch prozedurale und inhalt- unterschiedlich gewichteten, so flossen sie doch alle liche Pfadabhängigkeiten, die die anstehenden Ver- in die Beschlussfassung des Europäischen Rates ein, handlungen für den Politikrahmen nach 2020 stark die dementsprechend breit angelegt war. Mit dem beeinflussen werden.14 damals neuartigen Ansatz einer »integrierten EU- Energie- und Klimapolitik« sollten sowohl die ver- sorgungssicherheitspolitischen Bedürfnisse der Regie- rungen in Mittel- und Osteuropa adressiert als auch die eher nachhaltigkeitsorientierten Staaten der EU-15 zufriedengestellt werden. Doch während die Bekennt- 12 Rat der Europäischen Union, Europäischer Rat Brüssel, nisse zum Aufbau einer gemeinsamen Energieaußen- 8./9. März 2007. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, 2.5.2007, politik oder zur Vollendung des Energiebinnenmarkts Dok. 7224/1/07 REV 1, S. 10–23. nur als allgemein gehaltene Ankündigungen in den 13 Dort bildet die 20-20-20-Zieltrias einen der fünf über- Energieaktionsplan integriert wurden, erhielten die greifenden Zielbereiche für Wachstum und Beschäftigung, Minderung der Emissionen, der Ausbau der Erneuer- vgl. Europäischer Rat, Tagung am 17. Juni 2010 – Schlussfolgerun- gen, 17.6.2010, Dok. EUCO 13/10, S. 11f. baren und das Einsparen von Energie den Status von 14 Diese Pfadabhängigkeiten sind allerdings noch nicht so (zum Teil rechtsverbindlichen) Oberzielen. Das hatte stark ausgeprägt wie etwa in den Verhandlungen über den in den Jahren nach 2007 zur Folge, dass das Nachhal- EU-Haushalt, vgl. die instruktive Analyse von Peter Becker, Lost in Stagnation. Die Verhandlungen über den nächsten mehr- jährigen Finanzrahmen der EU (2014–2020) und das Festhalten am Status quo, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, August 2012 (SWP-Studie 18/2012). SWP Berlin Moving Targets Januar 2014 10