Modeme Politik Hans 1. Lietzmann (Hrsg.) Modeme Politik Politikverständnisse im 20. Jahrhundert Leske + Budrich, Opladen 2001 Gedruckt auf säurefreiem und alterungs beständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 978-3-322-93201-3 ISBN 978-3-322-93200-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93200-6 © 200 I Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielf!i1tigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Vorwort ........................................................................................................... 7 Kari Palonen Politik statt Ordnung: Figuren der Kontingenz bei Max Weber ..................... 9 Andreas Anter Politik und Herrschaft: Georg Jellinek .......................................................... 23 Marcus Llanque Politik und republikanisches Denken: Hermann Heller ............................... 37 Karl G. Kick Politik als Kompromiß auf einer mittleren Linie: Hans Kelsen .................... 63 Michael Thöndl Bewahrung durch Umbruch: Die "Konservative Revolution" in Italien ....... 81 Eckard Bolsinger Konstitutionsformen des Politischen: Carl Schmitt .................................... 103 Martin P.J. Blobel Vergänglichkeit und Politik: Walter Benjamin ........................................... 127 Gert-Rüdiger Wegmarshaus Politik und amerikanischer Pragmatismus: John Dewey ............................ 147 Clemens Kauffmann Politik und Judentum: Leo Strauss .............................................................. 169 Brigitte Gess Politisches Handeln: Hannah Arendt .......................................................... 189 Claudia Kinkela Politik der Bürgerschaft: Dolf Stemberger ................................................ 217 Hans J. Lietzmann Politik und Verfassung: Politischer Konstitutionalismus ............................ 237 Lothar R. Waas Politikwissenschaft als "praktische Wissenschaft": Wilhelm Hennis ......... 263 Edwin Czerwick Politik als System: Zum Politikverständnis in Systemtheorien ................... 287 Mathias Hildebrandt Politik aus der Erfahrung des Totalitarismus: Comelius Castoriadis, Claude Lefort und Marcel Gauchet ......................... 311 6 Michael Th. Greven Anmerkungen zur Kritik eines funktionalistischen und finalistischen Politikbegriffes ..................................................................... 331 Register ....................................................................................................... 341 AutorInnenverzeichnis ................................................................................ 347 Vorwort • Das zwanzigste Jahrhundert war eine Epoche des Wandels. In der europäischen - und besonders in der deutschen - Politik und ihrem Selbstverständnis haben die vergangenen hundert Jahre tiefe und mar kante Spuren hinterlassen: von der konstitutionellen Monarchie in die erste deutsche Republik. Die Mutation der Weimarer Demokratie in ein autoritäres Präsidialregime. Die anschließende nationalsozialistische Diktatur. Zur Halbzeit hin eine konstitutionelle Demokratie unter der Hebammenschaft der alliierten Besatzungsarmeen. Und dann eine lange Kontinuität repräsentativer Demokratie mit dem sich nun abzeichnenden Übergang in eine supranationale europäische Governance. • Das zwanzigste Jahrhundert war aber auch eine Epoche umfassen der Gleichzeitigkeit. Denn schon zu seinem monarchischen Beginn melden sich bereits spezifische demokratische Stimmen zu Wort (wie Max Weber, Hermann Heller oder Hans Kelsen), die im Laufe des Jahr hunderts zu Klassikern reifen und selbst in den gegenwärtigen Debatten noch Beachtung finden. Andererseits suchen aber selbst heute noch man che die Lösung anstehendender Probleme im Rückgriff auf mal national staatliche, mal sogar autoritative Modelle, wie sie schon zur Zeit des I. Weltkrieges virulent waren. • Das zwanzigste Jahrhundert war zudem eine Epoche der fundamen talen Politisierung. Geprägt wird das politische Denken von einer Viel zahl experimenteller, pragmatischer wie idealer, Entwürfe. Sie alle su chen dieser Politisierung gerecht zu werden. Sie suchen nach Orientie rung: zunächst nach einem Ersatz für den sich abzeichnenden Verlust der regulativen Kraft der Institutionen, der polities. Manche trauern diesen nach und versuchen den Verlust eher kompensatorisch zu bewältigen (was Carl Schrnitt und Walter Jellineck sowie die schon genannten We ber, Heller und Kelsen verbinden mag). Manche suchen aber auch nach der ordnungspolitischen Kraft der politischen Programme, der policies (z.B. DolfSternberger, Leo Strauss oder auch Wilhelm Hennis). Manche wiederum geben den politischen Handlungs- und Kommunikationspro zessen, den politics, einen zentralen Entfaltungsraum (wie auf je unter schiedliche Weise Hannah Arendt, die variantenreichen Franzosen um Claude Lefort, Marcel Gauchet und Cornelius Castoriadis oder die Sys temtheorie). Einzelne politische Konzeptualisierungen schließlich (wie wiederum sehr spezifisch die Vertreter der "Konservativen Revolution" und die Konstitutionalisten) nehmen eine Art Brückenfunktion ein und suchen den Weg einer geschmeidigen Anpassung an die sich zunehmend politisierende Zeit. Die Kontingenz der Institutionen, die Risiken der po litischen Projekte wie auch die Unabsehbarkeit der politischen Prozesse sind so zur prägende Kraft der Modeme geworden. 8 Vorwort • Die mit der Moderne und deren Prägekräften verbundene Unbe kümmertheit um ihre Traditionen birgt Chancen und Risiken. Die Vergewisserung der Traditionen des politischen Denkens ist zu einer umso wichtigeren Aufgabe der Politikwissenschaft geworden: nicht so sehr zur Sicherung des Vergangenen, als vielmehr aus Interesse an der Gestaltung der Gegenwart. Zum Offenhalten der Optionen und zur Klar heit über deren Pluralität ebenso wie zur Wahrung der Erfahrung. Das Risiko des Verlustes der Demokratie, die Möglichkeit des Niedergangs politischer Gestaltungsmacht, die Gefahr des Vergessens politischer Humanität besteht, wo immer politisch entschieden wird. Der vorliegende Band will der Vergegenwärtigung der Traditionen des politi schen Denkens des vergangenen Jahrhunderts dienen. Er tut es um der Ge genwart und der Zukunft willen. Dieses Buch versteht sich zudem als Fortführung des Bandes über die "Klas sische Politik. Politikverständnisse von der Antike bis ins 19. Jahrhundert. " (Hg. v. Hans. J. Lietzmann u. Peter Nitschke), der im vergangenen Jahr an gleicher Stelle erschien. Es hat seinen Anstoß bekommen in einer Tagung des Arbeitskreises "Geschichte der Politikwissenschaft" der "Deutschen Vereini gung für Politische Wissenschaft" (DVPW); doch wurden die dort präsentier ten Ergebnisse durch weitere Beiträge zu einem komplexen Gesamtbild der vergangenen hundert Jahre ergänzt. Die Zusammenstellung dieses Panoramas politischen Denkens folgt Überlegungen, die vor allem von manchem Ge spräch mit KollegInnen, ihrer Klugheit und ihrer Lust zu Urteilen profitiert haben; wenn auch - wie immer - die Borniertheit der endgültigen Entschei dung auf mich alleine zurückfallen muss. Allen Teilnehmern der Tagungen aber, allen Autoren und vor allem mei nem Kollegen Wilhelm Bleek, mit dem zusammen ich versuche, den Ar beitskreis zu koordinieren, gilt an dieser Stelle mein Dank als Herausgeber. So wie die Tagung ohne die finanzielle Hilfe der Deutschen Forschungsge meinschaft (DFG) vermutlich nicht zustande gekommen wäre, so wäre ich gewiss über dem Manuskript und der Betreuung der Autoren verzweifelt, hät te ich nicht das Glück der - je nach Bedarf mal heiter-ironischen, mal stoisch-gelassenen - Hilfe des Essener Sekretariats mit Karin Lentes und Isa bell Rox gehabt. Hans 1. Lietzmann Essen + München Politik statt Ordnung: Figuren der Kontingenz bei Max Weber Kari Palonen Die radikale Geschichtlichkeit des Begriffs bildet die wichtigste Einsicht meiner nun fast 20 Jahre dauernden Beschäftigung mit dem Politikbegriff liegt (s. Palonen 1985, 1989, 1992, 1998). Damit meine ich erstens, dass die Konzeptualisierung der Politik als Phänomen, das heißt als eigenständige Qualifikation der Politik bzw. des Politischen, erst nach dem Ausklang des Disziplinbegriffs Politik möglich wurde - sie ist also ein Phänomen des 19. und insbesondere des 20. Jahrhunderts. Zweitens kann man auch innerhalb dieser Thematisierung einen Unterschied zwischen zwei Arten des Politik begriffs machen, nämlich zwischen dem spatialen Sphärenbegriff und den temporalen Aktivitätsbegriff. Diese haben jeweils ihre eigene Geschichte. Mir geht es an dieser Stelle allein um den Aktivitätsbegriff der Politik. Bei Max Weber ist sicherlich auch der Sphärenbegriff vorhanden, vor allem in seiner Abgrenzung der Eigenart des politischen Verbandes bzw. des Staa tes (s. Weber 1922, 28ff; 1919 35t). Dies Abgrenzung geschieht nicht nach den Merkmalen der Politik als Aktivität, sondern - wie bei Sphärenbegriffen üblich - nur im Verhältnis zu anderen, mehr oder wenig als bekannt voraus gesetzten Sphären. Dabei bleibt die Politik dann notwendigerweise ein Rest begriff, und über die Eigenständigkeit der Politik als Handeln sagt die Ab grenzung des politischen Verbands fast nichts. Meiner These nach ist Max Weber der erste und wahrscheinlich immer noch wichtigste Denker, der Politik als ein radikal kontingentes Phänomen verstanden hat, ohne dabei die Kontingenz gleich zu bekämpfen. Oder an ders: Weber ist der erste Denker, der die Kontingenz aus einem Restbegriff in ein zentrales operatives Instrument im Verständnis des Handelns im allge meinen und der Politik im besonderen verwandelt hat. Damit hat er zugleich die Sehnsucht nach guter Ordnung verabschiedet und Politik als Kontingenz spiel an ihrer Stelle gesetzt. Diese These habe ich in meinem Buch Das 'Webersehe Moment' (PaIo nen 1998) präsentiert. In diesem Beitrag will ich zuerst diese Wende Webers präzisieren, und zwar - im Anschluß an Quentin Skinner (1996b, 1999) - als ein rhetorisches Umschreiben der Begriffe, und dabei, zweitens, die unter schiedlichen Figuren der Kontingenz der Politik bei Weber genauer aufein ander beziehen. Zum Schluß stelle ich einige Überlegungen dazu vor, warum es - trotz der Hochkonjunktur des Kontingenzbegriffs - immer noch schwie rig ist, von der Politik zu reden, ohne damit schon zu versuchen, die Kontin genz zu reduzieren. 10 Kari Palonen 1. Das rhetorische Umschreiben der Begriffe bei Weber Quentin Skinner hat in seinem jüngsten Werk eine interessante Perspektive zum Begriffswandel entworfen. Im Vergleich zu seiner früheren Diskussion, die mit der Idee der standard meaning verbunden war (s. bes. Skinner 1974), hat Skinner sich der römischen Rhetorik zugewandt und von dort die Idee des rhetorischen Umschreibens (redescription ) übernommen. Er ist bereit, "to share their more contingent understanding of normative concepts and the fluid vocabularies in which they are generally expressed" (Skinner 1999, 67). Wie Skinner in seinem Hobbes-Buch im Detail zeigt, spielt die normative Dimension der Umwertung der Begriffe beim Umschreiben die zentrale Rol le. Die Dimensionen der Umdeutung der Bedeutung, der Umbenennung der Bezeichung oder der Umgewichtung der Bedeutsamkeit eines Begriffs sind jedoch als heuristische Instrumente des Begriffswandels ebenso wichtig (s. bes. Skinner 1996b, Kap. 4). Aus dieser Sicht will ich nun die Aspekte des Umschreibens der Begriffe für die Entstehung und Bedeutung des 'Weberschen Moment' zur Konzeptu alisierung der spezifischen Kontingenz der Politik veranschaulichen. Nietz sches Schlagwort von der Umwertung der Werte bildet einen paradigmati schen Ausdruck der normativen Dimension im rhetorischen Umschreiben der Begriffe. Max Weber war bekanntlich sowohl im Inhalt als auch im Stil sei ner Schriften sehr von Nietzsche geprägt, und die Perspektive des Umschrei bens ist ihm keineswegs fremd (s. dazu Palonen 2000). Skinner wiederum spricht mehrfach explizit darüber, in welchem Maße er dem Weberschen und - neuerdings - auch dem Nietzscheschen Denken verpflichtet ist (s. Skinner 1999,62; vgl. Palonen 1997, 1999). Den Titel 'Webersches Moment' habe ich John Pococks Machiavellian Moment entlehnt, und zwar im Sinne der These Pococks von der Politik als "dealing with the contingent event" (1975, 156). Ein zentraler Punkt Pococks liegt jedoch darin, dass die Kontingenz im "Machiavellischen Moment" mit der fortuna identifiziert wird. Ihr wurden in der Zeit Machiavellis zwar unter schiedliche Interpretationen gegeben, diese bestanden jedoch fast ohne Aus nahme darauf, die Herrschaft der fortuna zu bekämpfen. Wenn Politik ein Spiel mit der Kontingenz ist, bedeutet sie im Machiavellischen Moment vor allem eine Einschränkung der Kontingenz, d. h. der Einschränkung der Herr schaft der fortuna im Namen einer stabilisierenden Instanz, nämlich der virtit. Somit bleibt Politik im Machiavellischen Moment - trotz einiger Gegenten denzen, etwa im Anschluß an den Begriff der occasione bei Machiavelli - ein Spiel gegen die Kontingenz (vgl. Palonen 1998, 26ft) . Meiner These nach verteidigt Weber einen anderen Begriff der Kontin genz. Die fortuna wird bei ihm durch die Chance teils komplettiert, teils ab gelöst. Damit wird vor allem das Bedeutungsfeld des Kontingenten erweitert: ein historisches Paradigma wird zu einem Sonderfall relativiert und als sol- Max Weber 11 cher in der Gegenwart als etwas 'Unwesentliches' verstanden, während ein anderer Aspekt in den Vordergrund tritt. Eine Voraussetzung rur die Konstruktion einer alternativen Konzeptuali sierung des Kontingenten liegt in Webers historischer Situationsanalyse. Während die Denker im Machiavellischen Moment von einer Übermacht des historischen Faktors fortuna ausgingen, der deswegen einzugrenzen ist, wur de nach Webers Zeitdiagnose die Bedeutung derfortuna, des rein Zufälligen, marginalisiert. Es geht also um eine Umgewichtung der historischen Bedeut samkeit der fortuna-Kontingenz. Dies gilt vor allem rur die universelle histo rische Tendenz zur Bürokratisierung, die nicht mehr bekämpft, sondern nur noch eingegrenzt werden kann (s. Weber 1909, 277f; 1910, 127ff; 1918, 218ff). In einem gewissen Sinne war die Abwehr der fortuna durch virtu all zu effektiv, sie hat allerdings ihren politischen Sinn verloren, nachdem die Politik als Handeln der bürokratisierten Ordnung unterlegen ist. Das nach Weber an sich unverzichtbare Instrument der Bürokratie hat ihr Gewicht über den legitimen Bereich ausgedehnt und die Herrschaft im Staat, in der Parteien und in der Wirtschaft erworben, und dadurch Politik als Handeln fast unmög lich gemacht. Webers zentrales politisches Anliegen liegt seit seinen Rußland-Schriften 1906 darin, Gegengewichte zu dieser universellen Tendenz zur Bürokratisie rung zu finden. Zur Bekämpfung des .. bürokratischen und jakobinischen Zentralismus" tritt Weber für Individualismus, Menschenrechte und Demo kratie ein (Weber 1906b, 90ff). Als Gegengewicht reicht eine Renaissance der fortuna, eine Verbreitung des Bereichs des Zufälligen, keineswegs. Viel mehr betrachtet Weber das Kontingente eher aus der Sicht des Möglichen, des Anders-Tun-Könnens, d. h. aus einer Sicht, die in der fortuna-virtu Gegenüberstellung fehlt (s. Weber 1918, 222). Dies kann auch als eine Auf wertung des Möglichen im Vergleich zu bindenden normativen Idealen aller Art angesehen werden. In diesem Sinne soll auch seine Polemik gegen die übliche deutsche Haltung, die .. 'Ordnung' ... und nichts als Ordnung" braucht (Weber 1910, 128, vgl. 1909,278), verstanden werden. Der Begriff des Möglichen war schon in Webers Zeit vieldeutig, und um als Gegengewicht zur vereinheitlichenden Tendenz der Bürokratisierung zu taugen, muß er spezifiziert werden. Es sieht so aus, als ob die Webersche Be rufung auf die politische Bedeutung des Möglichen aus zumindest drei unter schiedlichen Quellen schöpft: Die erste ist die Geschichtstheorie, in der er die in die zeitgenössischen statistischen und juristischen Theorie aufgenommene Idee der objektiven Möglichkeit fiir die Beurteilung des Vergangenen benutz te (Weber 1906a, 266ff). Dazu kommt die Kritik der nationalliberalen .. Real politik", in der Weber politisch erzogen wurde, die er aber schon in seinen Jugendbriefen (bes. Weber 1936, 232) kritisierte und so später auch die pseudo-Bismarcksche Formel .. Politik als Kunst des Möglichen" umkehrte (Weber 1917b, 514). Die dritte Perspektive zeigt sich in der internen Kritik der Philosophie und der Nationalökonomie, nämlich in der Kritik des Zweck-
Description: