Klaus G. Troitzsch Modellbildung und Simulation in den Sozialwissenschaften ZUMA-Publikationen In der Reihe ZUMA-Publikationen erscheinen fundierte Monographien und Sammelbände zu wichtigen Fragen der Empirischen Sozialforschung. Alle diese Werke sind in engem Zusammenhang mit dem Forschungsprogramm des Zentrums für Unifragen, Methoden und Analysen (ZUMA) entstanden. Veröffent licht werden sowohl eigene Untersuchungen als auch die Ergebnisse der Arbeit von Gastwissenschaftlern, Workshops und wissenschaftlichen Tagungen. Es entspricht der Aufgabenstellung des ZUMA, daß der Schwerpunkt der Bände im Bereich der Methoden der Empirischen Sozialforschung liegt. Dennoch werden auch andere Themen behandelt, etwa Fragen des gesellschaftlichen Wandels und der Sozialberichterstattung. Wir hoffen, daß die ZUMA-Publikationen einen Beitrag zur Weiterentwicklung, aber auch zur Ergebniskumulation der Empirischen Sozialforschung leisten. Max Kaase, Peter Ph. Mahler Klaus G. Troitzsch Modellbildung und Sißlulation in den Sozialwissenschaften Westdeutscher Verlag Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Alle Rechte vorbehalten © 1990 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt ISBN 978-3-531-12150-5 ISBN 978-3-322-93561-8 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93561-8 Vorwort Das vorliegende Buch ist aus Notizen und Skripten zu einer Vorlesung "Modellbildung und Simulation den Sozialwissenschaften" III hervorgegangen, die ich in der hier dokumentierten Form 1m Sommersemester 1988 zum vierten Male vor Informatik-Studenten mit dem Nebenfach Sozialwissenschaft am Diplom-Studiengang Informatik an der EWH Koblenz gehalten habe. Verschiedene Vorausversionen des vorliegenden Buches sind von den Studenten neben der Vorlesung benutzt worden, die letzte zusätzlich von den Teilnehmern des ZUMA-Workshops "Theorie dynamischer Systeme", den ich im März 1988 beim Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen e.V. in Mannheim durchgeführt habe und an dessen Zustandekommen vor allem Herr Privatdozent Dr.Dr. Ulrich Mueller maßgeblich mitgewirkt hat, wofür ich ihm herzlich danke. Den Teilnehmern dieses Workshops, aber vor allem mehreren Studentenjahrgängen und meinen Freunden und Mitarbeitern Dr. Andreas Engel und Dipl.-Inform. Michael Möhring verdanke ich eine Vielzahl von kritischen Hinweisen auf sprachliche, inhaltliche und mathematische Unstimmigkeiten. Ich hoffe, daß ich diese Unstimmigkeiten beseitigt habe und daß Text und mathematische Ableitungen nun für Sozialwissenschaftler, die über gute Abiturkenntnisse in Mathematik vedügen, ohne große Mühe nachzuvollziehen sind. Der Text ist mit dem von meinem Kollegen Prof. Dr.-Ing. Heinrich Giesen entwickelten Dokumentenverarbeitungssystem SCRIPT aufbereitet worden. Das Programm PIC, mit dessen Hilfe alle Graphiken in den Text integriert worden sind, stammt ebenfalls von ihm. Ich danke ihm für die Bereitschaft, meinen Sonderwünschen an SCRIPT und PIC manchmal über Nacht nachzukommen. Meine Frau Ingrid Troitzsch hat sich um den Text durch wiederholt es Korrekturlesen verdient gemacht. Ich verdanke auch ihr manche Formulierungshilfe; was gleichwohl fehlerhaft geblieben ist, geht natürlich zu meinen Lasten. Koblenz, im September 1988 Klaus G. Troitzsch Inhalt 1. Modellbildung und Erfahrungswissenschaft 1 1.1. Die Rolle der Modellbildung 1m sozialwissenschaftlichen 1 Erkenntnisprozeß 1.2. Modellklassen 6 1.2.1. Modell und Realität 6 1.2.2. Modellklassen 12 1.2.3. Ansätze zur sozialwissenschaftlichen Modellbildung und 22 Simulation 1.3. Verstehen und Erklären 24 1.4. Vom Nutzen der Formalisierung sozialwissenschaftlicher Theorien 30 2. Grundlegende Begriffe 36 2.1. System und Prozeß 36 2.2. Überblick über die behandelten Prozeßtypen 43 2.3. Stochastische Prozesse 45 3. Deterministische Makro-Prozesse 1m kontinuierlichen Zustands- 55 raum 3.1. Chaotisches Verhalten in einem Sozialsystem 55 3.2. Lineare Differentialgleichungssysteme und Fixpunktanalyse 63 3.3. Numerische Integration von Differentialgleichungssystemen 75 3.4. Analyse nicht punktförmiger Attraktoren 86 4. Stochastische Mikro-Prozesse mit diskreten Zuständen 91 4.1. Ein einfaches Modell eines Meinungsbildungsprozesses 91 4.2. Die Master-Gleichung 97 4.3. Zeitvariable Parameter 105 4.4. Ein Modell mit drei Populationen 112 VIII 5. Stochastische Mikro-Prozesse im kontinuierlichen Zustandsraum 124 5.1. Ein einfaches Modell des Wählerverhaltens im Parteienstaat 124 5.2. Ableitung der Fokker-Planck-Gleichung 130 6. Axiomatisierung sozialwissenschaftlicher Theorien 136 6.1. Theoretische Begriffe bezüglich einer Theorie 136 6.2. Partielle potentielle Modelle, potentielle Modelle und Modelle 142 einer Theorie 6.3. Der empirische Gehalt einer Theorie 147 7. Empirische Überprüfung formalisierter Modelle 158 7.1. Reale Systeme als Realisationen kontinuierlicher stochastischer 158 Prozesse 7.2. Simulation als Mittel zur Überprüfung einer Theorie 172 8. Probleme sozialwissenschaftlicher Computersimulation 178 9. Literaturverzeichnis 181 Autorenverzeichnis 196 1. Modellbildung und Erfahrungswissenschaft 1.1. Die Rolle der Modellbildung 1m sozialwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß Für unsere Zwecke gliedern wir den sozialwissenschaftlichen Erkenntnispro zeß (und allgemein den Erkenntnisprozeß jeder empirischen Wissenschaft) In drei Phasen: die Phase der Datenanalyse, in der Wlf Beobachtungen über die Wirklichkeit zu ordnen versuchen; die Phase der Model1bildung, in der wir versuchen, "die Replikation eines Realitätsausschnitts, sein Abbild" (Dörner 1984:337) so zu konstruieren, daß dieses Abbild (Modell) in den augenblicklich für relevant erachteten Aspekten1 ähnliche Beobachtungen ermöglicht wie die Wirklichkeit - wir versuchen also in dieser Phase, "im Vertrauen auf die Gesetzlichkeit der realen Welt ... ein System von Begriffen und Sätzen (zu formen), ... , welches (wir) nach bestem Wissen und Können so ausstatte(n), daß es, an die Stelle der realen Welt gesetzt, (uns) möglichst die nämlichen Botschaften zusendet als diese" (Planck 1930:235); - die Phase der Datenerhebung, in der wir versuchen, an der Wirklichkeit neue Beobachtungen zu machen, wobei wir prüfen, ob und inwieweit diese Beobachtungen mit den zuvor am Modell gemachten Beobach tungen übereinstimmen. Da auch die neuen Beobachtungen - mögen sie nun mit den am Modell möglichen Beobachtungen übereinstimmen oder nicht - wieder analysiert und eventuell zur Grundlage für Änderungen am Modell werden, wiederholen sich die drei oben unterschiedenen Phasen zyklisch. Wir können uns diese drei Phasen an dem nachstehenden Schaubild veranschaulichen: 1 Mit diesem Hinweis tragen wir der Tatsache Rechnung, daß Modellbildung eine von einem Subjekt (Modellbildner) vorgenommene Abbildung aus der Wirklichkeit in einen wie auch immer gearteten Dildbereich, also eine (mindestens) dreistellige Relation ist (Craemer 1985:32-34). Vgl. die ausführlichere Diskussion in Kapitel 1.2.1. 2 1.1. Modellbildung im Erkenntnisprozeß Abb. 1: Modellbildung im Erkenntnisprozeß MODELL 13 ZIELE 7 , 14 , , , , Abeuosbsaagchente üteb eZru nsaicmhmt en ,, Aussagen Strategien zur hänge zwischen gemach über mögliche Veränderung ten Beobachtungen Beobachtungen der Wirklichkeit 15 , , , Oaten analyse methoden Aussagen über 3 gemachte Beobachtungen Aussagen über an der Wirklichkeit gemachte Beobachtungen fordern uns dazu heraus, nach (bisher nicht beobachteten) Zusammenhängen zwischen den gemachten Beobachtungen zu suchen (1) und dazu schon vorhandene und erprobte Datenanalysemethoden zu verwenden (2) oder neue zu entwickeln (3); welche Zusammenhänge wir dabei entdecken, hängt nicht nur von den gemachten Beobachtungen, sondern auch von den verwendeten Datenanalyseverfahren ab. 1.1. Modellbildung im Erkenntnisprozeß 3 Wir setzen die Aussagen über die nicht beobachteten, sondern auf der Grundlage der Datenanalyse vermuteten Zusammenhänge zu einem Modell zusammen (4), wobei wir uns schon vorhandener Modellbildungsmethoden bedienen (5) oder neue entwickeln (6); wie das Modell aussieht, hängt nicht nur von den dargestellten Zusammenhängen ab, sondern auch von den verwendeten Modellbildungsmethoden. Wir untersuchen das Modell darauf, ob es an ihm Unbekanntes zu entdecken gibt (7), und erwarten, daß auch die Wirklichkeit entsprechende Beobach tungen erlaubt. Die aus der Untersuchung des Modells gewonnenen Aussagen über mögliche Beobachtungen an der Wirklichkeit fordern uns dazu heraus, diese Beobach tungen zu realisieren (8), wobei wir uns schon vorhandener Datenerhebungsmethoden bedienen (9) oder neue entwickeln (10). Die tatsächlich gemachten Beobachtungen hängen ab von unseren Erwartungen (8) - dasjenige, mit dem wir rechnen, finden wir leichter, das, was wir nicht erwarten, übersehen wir leichter -, von den angewandten Datenerhebungsmethoden (9) und natürlich auch von der Wirklichkeit (11); es sei jedoch hervorgehoben, daß Aussagen über gemachte Beobachtungen gelegentlich allein von den Erwartungen (8) und den Methoden (9) abhängen und mit der Wirklichkeit (11) nichts zu tun haben: Forschungsartefakte. Schließlich ist damit zu rechnen, daß die Wirklichkeit durch die eingesetzten Datenerhebungsmethoden verändert wird (12, Reaktivität). In Anlehnung an Reichenbach (1953:260, 1977:340) kann die erste Phase (Pfeile 11 und 1 bis 6) dem Entdeckungszusammenhang (engl.: context of discovery) zugeordnet werden, beide anderen Phasen (Pfeile 7 bis 10 und 12) gehören zum Rechtfertigungs- oder Begründungszusammenhang (engl.: context of justification). Für den Entdeckungszusammenhang gilt, daß "whereas we should be permissive with regard to discovery and invention - within the bounds set by public interest - there is little play when it comes to evaluating them. The checking must be rigorous, for we want truth or efficiency, as the case may be, and neither can be ascertained without tests." Bunge 1983b:64) In unserem Schaubild läßt sich außerdem der (von Reichenbach noch nicht berücksichtigte und von Bunge offenbar mit dem Rechtfertigungszusammenhang vereinigte) Verwertungszusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung wiederfinden (vgl. Friedrichs 1973:50-55):
Description: