HERMES ZEITSCHRIFT FÜR KLASSISCHE PHILOLOGIE EINZELSCHRIFTEN HERAUSGEGEBENV ON HELMUT BERVE · FRIEDRICH KLI.:-.IGNER ALFRED KÖRTE · WOLFGANG SCHADEWALDT HEFT 2 MILTIADES STUDIEN ZUR GESCHICHTE DES MANNES UND SEINER ZEIT VON HELMUT BERVE \VEIDMANNSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG BERLIN 1937 MILTIADES STUDIEN ZUR GESCHICHTE DES MANNES UND SEINER ZEIT VON HELMUT BERVE WEIDMANNSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG BERLIN 1937 l)JIUCK VON C. SCHULZE. eo., G. M. B, H .• GJÜFRNHAINICHEN VORWORT Die Zeit der Wende des sechsten zum fünften Jahrhundert erweckt nicht nur um des welthistorischen Perserkampfes willen das besondere Interesse des Historikers. Sie ist zugleich eine Periode schweren Ringens alter und neuer Mächte im Griechentum selbst, Zeit einer tiefen zu kunftsträchtigen Wandlung, der schließlich die Polis in ihrer klassi schen Form entsteigt. Solche Epochen sind ihrer Natur nach einer verfassungsgeschichtlichen Betrachtung wenig zugänglich, denn die dahinsinkenden Ordnungen entsprechen nicht mehr, die neuentstehen den noch nicht dem wahren politischen Leben, das gleichsam zwischen ihnen spielt. Darum wird man auch hinsichtlich des attischen Gemein wesens in diesen Jahrzehnten sich nicht zu sehr durch die Tatsache, daß die Kleisthenische Verfassung formal bereits existierte, beeinflussen lassen dürfen, sondern stets zu bedenken haben, daß hier ein neuer Staat erst im Werden war, der noch vieles barg, was dem Geiste der neuen Ordnung widersprach, und der ihre Formen noch keineswegs er füllte. Zwar die Macht des Adels als eines geschlossenen Standes war gebrochen, aber einzelne Geschlechter und vor allem einzelne hervorragende Männer aus dem Adel bestimmten das politische Ge schehen weit stärker als die jüngst eingeführten Ordnungen, wie denn ihrem Schöpfer Kleisthenes selbst sein Reformwerk nicht zuletzt ein Mittel zur Gewinnung persönlicher Macht war. Die folgenden Untersuchungen sind der Geschichte eines jener hervorragenden Männer gewidmet mit der Absicht, durch eine möglichst vorurteilslose Erörte rung der historischen Probleme, welche Leben und Wirken des Milti ades stellen, der Aufhellung der inneren und äußeren Geschichte des damaligen Athen zu dienen. Indem sie aus den genannten Gründen eine vorwiegend verfassungsgeschich tliche Betrachtung vermeiden, nehmen sie notwendig mehr Herodot als Aristoteles zur Basis, so daß das Dargebotene großenteils sich als eine historische Interpretation der einschlägigen Partien des Herodoteischen Geschichtswerkes gibt. Es möchte die vorliegende Studie daher auch einen Beitrag zur Frage der Glaubwürdigkeit des ersten großen Geschichtsschreibers der Griechen bringen, dem eine von der seinen sehr verschiedene moderne VI Vorwort Fragestellung, wie mir scheint, nicht die gebührende Würdigung hat widerfahren lassen. Die Arbeit beschränkt sich bewußt auf Einzeluntersuchungen, ohne Folgerungen allgemeiner Art, die sich zum Teil von selbst einstellen, zum Teil durch das Vorgebrachte angeregt werden können, weiter aus zuspinnen. Hinsichtlich der Bedeutung der fürstlichen Herren zur Zeit der Perserkriege habe ich einiges bereits in gemeinverständlicher Form dargelegt (Die Antilee 1936, ff.), anderes, was über Koloni 12, 1 sation, Tyrannis, Polisform zu sagen wäre, muß künftigen Veröffent- lichungen vorbehalten bleiben. · L e i p z i g , im Dezember 1936. Helmut Berve INHALT Seite Yorwort V Ein 1e i tun g: Herkunft und Familie I Kapitel I: Attische Kolonien am Hellespont. 7 1. Die Gründung des Chersonesitenstaates. 7 2. Die Kolonisation von Sigeion . . . . 26 Kapitel II: Miltiades auf der Chersones . 37 I. Der Skythenzug des Dareios 41 2. Eroberung von Lemnos 44 3. Der Einbruch der Skythen in die Chersones 56 4. Die Flucht vor den Persern 6o Kapitel III: Miltiades in Athen 66 1. Der neue Führer 66 2. Marathon . . . . • . 75 3. Der Feldzug gegen Paros .. 92 EINLEITUNG Herkunft und Familie Die Bezeichnung des Geschlechtes, dem der berühmte Sieger von ~arathon entstammte, als Philaiden, beruht auf einer Ahnenliste, die uns Markellinos in seiner Biographie des Thukydides (§ 3) erhalten hat, weil der große Historiker mit Miltiades' Sohn Kimon und dessen Familie verwandtschaftlich verbunden war 1 Seine Angaben hat ). ~\arkellinos dem Werke des Didymos, dieser wiederum dem ersten Buche der Historien des Pherekydes (fr. 2 Jacoby) entnommen, der foJgendes berichtete: 'Philaias, der Sohn des Aias, wohnt in Athen, von ihm stammt Daiklos, von diesem Epilykos, von diesem Agenor, von diesem Oulios, von diesem Lykes, von diesem (Tophon), von diesem Laios, von diesem Agamestor, von diesem Tisandros, von diesem Hippo kleides, unter dessen Archontat die Panathenäen eingesetzt wurden, von diesem Miltiades, der die Chersones besiedelte. Das bezeugt auch Hellanikos in seiner •A sopis' betitelten Schrift (fr. 22 Jacoby)' 2). Daß Philaios3 des Aias Sohn, als erster seines Geschlechtes in Athen Wohnung ), nahm, während sein Haus bis dahin auf Salamis ansässig war, bestätigt Herodot (6, 35); auch sonst, allerdings nicht bei Sophokles (Aias 765ff.), erscheint Philaios als Sohn des Telamoniers (Plut. Solon 10. Steph. Byz.' <l>tlal~ai Mjµo,'), nur Pausanias {I, 35, 2) macht ihn irrtümlich (vgl. Jacoby zu Pherekydes fr. 2) zum Sohn des Eurysakes und damit zum Enkel des Aias. Man darf also trotz Beiochs Zweifel (Gr. Gesch. II', 2, 37) mit vollem Recht die Familie ~Philaiden' nennen, da Philaios der erste in Athen ansässige Angehörige des Geschlechtes und demnach Stammvater der in Attika beheimateten Nachkommen des Aias war; im übrigen erweist auch der Name des nach dem Geschlecht benannten 1) Vgl. insbesondere Toepffer, Ath. Genealogie, 1889, 269ff., Beloch, Gr. Gesch. II 1, 2, 37ff. 1) Die Übersetzung beruht auf dem von Jacoby (FrGH. I, n. 3, fr. 2) gegebenen, von offensichtlichen und längst erkannten Zusätzen gereinigten Text. 1) So lautet die Namensform bei Herodot, der des weiteren statt 'Tisan dros' (Pherekydes) 'Teisandros' bietet. In den folgenden Ausführungen wird die von ihm gegebene Namensform angewandt. 8 er v e , Miltiadel. I 2 Einleitung Demos ~Philaidai' in der Diakria (IG. 12 n. 220, 3 u. a. Steph. Byz. a. 0.) ihn als den eponymen Heros. Was nwi die aufgeführteAhnenreihe betrifft, so ist von den genannten Männern anderweitig sicher Hippokleides bezeugt, da es kaum einem Zweifel witerliegen kann, daß der von Herodot genannte Freier der Agariste (6, 127) wid der Archon zur Zeit der Panathenäengründung~ beide Söhne eines Teisandros, dieselbe Person sind. Muß die Hochzeit der Agariste, wie sich aus der Chronologie der Herrschaft des Kleisthenes von Sikyon und namentlich des Alkmeonidenhauses ergibt, um 470 stattgefwiden haben (vgl. Beloch a. 0.), so fiel nach Hiemonymus (zu Abr. 1451 = 01. 53, 3) die Panathenäengründwig ins Jahr 566/5; die zwei Ereignisse liegen also ganz nahe zusammen, weisen daher, da es sich in beiden Fällen um einen der führenden Adligen in Athen handeln muß, ebenfalls auf den gleichen Hippokleides hin. Dagegen muß offen bleiben, ob der in der Liste genannte Agamestor, wie Beloch (a. 0.) meint, mit dem von späten Chronographen als lebenslänglicher Archon bald nach 800 erwähnten Agamestor (De Sanctis Atthis 1 99ff.) gleichzusetzen ist, was eine beträchtliche Lücke in der Tabelle voraus setzen würde, wo zwischen Agamestor wid Hippokleides nur Teisandros steht 1 hier darf die Namensgleichheit, wie mir scheint, nicht zu vor ); schnellen Schlüssen führen 2 Erst mit Hippokleides bekommen wir ). festen historischen Grund witer den Füßen, allerdings bereitet die An gabe des Pherekydes, er sei Vater des Oikisten Miltiades gewesen, als bald neue Schwierigkeiten. Denn dieser Miltiades, ~der Ältere', wie man ihn zur Unterscheidwig von seinem Neffen, dem Marathonsieger, zu nennen pflegt, war nach Herodots eindeutigem Zeugnis (6, 35) Sohn eines Kypselos, nicht eines Hippokleides. Des Hippokleides Sohn kann er im übrigen auch deshalb nicht gewesen sein, weil dieser erst gegen 570 um Agariste freite, Miltiades aber, der in der ersten Periode der Tyrannis des Peisistratos (561/~556/55) einen Kolonisationszug witemahm (s. unten S. 8, 4), vor 580 geboren sein muß, mithin eher ein Vetter als ein Sohn des Hippokleides gewesen sein dürfte. Ihn gar zum Enkel des Hippokleides zu machen und dementsprechend in der Liste hinter hM>rJ ein Toii !JeK '5tpe).o,;z u ergänzen (Jacoby, FrGH. äexcwT°' 1) Die Worte ltp" 06 b "A~"· Toti c5i Mü.Tuf,,,.1',w elche sieb in der Markellinoshandschrift (Codex Palatinus) hinter Tl<1a~cx; finden, sind offensichtlich Reste von Randbemerkungen, die in den Text geraten sind (vgl. Jacoby zur Stelle). 1) Daher wäre es auch nutzloses Bemühen, einen Miltiades, der nach Pausanias 4, 23, 10 im Jahre 664/3, nach Pausanias 8, 39, 3 im Jahre 659/S Archon war (Pros. Att. n. 10205), im Philaidenstammbaum, soweit wir ihn kennen, unterbringen zu wollen. Zum Namen Miltiades siehe J. Wells Studies in Herodotus, 1923, 113.