M E T Z L E R P H I L O S O P H E N L E X I K O N DRITTE AUFLAGE HERAUSGEGEBEN VON BERND LUTZ METZLER PHILOSOPHEN LEXIKON METZLER PHILOSOPHEN LEXIKON Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage Herausgegeben von Bernd Lutz Verlag J.B. Metzler Stuttgart · Weimar Inhaltsverzeichnis Vorwort V Philosophen A–Z 1–778 Weiterführende Bibliographie 779 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 782 Personenregister 784 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ›http://dnb.ddb.de‹ abrufbar. ISBN 978-3-476-01953-0 ISBN 978-3-476-05009-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-05009-0 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2003 Springer-Verlag GmbH Deutschlad Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2003 www.metzlerverlag.de [email protected] Vorwort zur dritten Auflage Als dieses Buch erstmals 1988 erschien, war es im um rund 60 Artikel vermehrt worden. Dabei kam Kern als übergreifendes Informationsmittel für es nicht nur darauf an, die Gegenwartsphilosophie den studentischen Gebrauch konzipiert. Dennoch stärker zu berücksichtigen (rund 30 neue Artikel). wurden die Artikel nicht nach dem lexikalisch Als ebenso wichtig erschien es, das historische üblichen Schema ›Leben-Werk-Wirkung-Würdi- Beziehungsgeflecht des europäischen Denkens zu gung‹ aufgebaut, obwohl es gelegentlich durch- verdichten und spürbare Lücken zu schließen. Ei- scheinen mag. Schematismus sollte vermieden nige wenige, aber prominente Artikel der alten werden. Ein erzählerischer Einfall, eine zeitgemäße Auflagen wurden völlig neu geschrieben. Daß bei Aktualisierung sollte die Artikel tragen, Vergegen- diesen Absichten nicht alle Wünsche des Heraus- wärtigung auch des zeitlich scheinbar Entlegenen gebers in Erfüllung gegangen sind, sei nur am sollte erreicht werden. Immerhin reicht die Zeit- Rande erwähnt, waren unter anderem einige der spanne, die das Lexikon mit seinen 360 Artikeln angestammten Autoren nicht mehr zu erreichen. abdeckt – um zwei bildliche Vorstellungen her- Das Buch verwendet dennoch ein Porträt, um anzuziehen – von der antiken Erdkarte des Heka- seine Absicht als historisches Lexikon zu verdeutli- taios (um 500 v. Chr.), die vom fremden Element chen: Der Schutzumschlag zeigt den französischen Wasser, dem letztlich aber doch vertrauten Okea- Aufklärungsphilosophen Voltaire, den seine Zeit- nos als eines einenden Kosmos umfaßt wird, bis zu genossen ziemlich realistisch als kecken, vorneh- den heutigen Momentaufnahmen einer globali- men Höfling porträtiert haben. In Horst Janssens sierten, sinnlos zerstörten natürlichen Umwelt des Porträt, einer Mischtechnik von 1957, ist davon so Menschen und der befremdlich bedrückenden gut wie nichts mehr zu erkennen. Dennoch ist es Aufnahme der Erde als einer von Atmosphäre Voltaire, Janssens Voltaire. Über die Jahrhunderte, umgebenen Kugel, in den unendlichen Weiten ei- die uns samt unseren geschichtlichen Erfahrungen nes mathematisch-physikalisch kaum vertrauten von der Französischen Revolution trennen, ist er Universums schwebend. Dazwischen liegen zwei- gealtert, steckt in einer Art Kasperluniform, hat die einhalb Jahrtausende der Entwicklung mensch- Züge einer Karikatur angenommen, ist zur Un- licher Zivilisation und damit auch der verstehen- kenntlichkeit verkommen; die Amplituden von den, der kritischen oder skeptischen Verständi- Nase und Zunge, die Janssen andeutet, haben gung über sie, diskursiver Gegenstand dieses beachtliche Dimensionen: Dialektik der Aufklä- Buchs. rung, Identität des Nichtidentischen, Beharrlich- Mittlerweile hat sich das Buch einen weit über keit im Fortschritt, diese dubiose Signatur charak- die studentischen Adressaten hinaus reichenden, terisiert Janssens transformierender Zeitraffer, der am Gang der Philosophie interessierten Leser- und für unsere Situation als ein wenig ratlose Erben der Freundeskreis erobert und wird als ein Standard- Aufklärung steht. werk geachtet. Dank dieser Tatsache kann nun die Auch dieses Buch rafft zweieinhalb Jahrtau- dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage vor- sende der philosophischen Verständigung über das gelegt werden. Sie hat sich äußerlich ein wenig Verhältnis von Mensch, Gott und Welt. Es ist aber verändert. Um angesichts der Vielzahl der neuen ein historisches und kein systematisches Lexikon. Artikel Platz zu sparen und die Lesbarkeit zu Trotz allen Kulturwandels, der zwangsläufig in den erhöhen, wurde die Seite zweispaltig angeordnet. Artikeln durchdringt, trotz aller Katastrophen, die Auf Porträts mußte nicht nur aus Kostengründen Europa in diesem Zeitraum heimgesucht haben ganz verzichtet werden. Es gab noch einen anderen und die zu verkraften waren, ergibt sich am Ende Grund: Unser medial geschärfter Blick für das vielleicht so etwas wie ein inhärenter Kern: Daß Authentische ließ eine Vielzahl der Abbildungen in das »Projekt Aufklärung« noch nicht an sein Ende der ersten und in der zweiten Auflage gerade da, gekommen ist, worin immer man dieses Ende wo nicht mit den Mitteln der zeitgenössischen erblicken mag. Vielleicht kommt es ja darauf an, Porträtkunst oder der Photographie gearbeitet die Sonderstellung des Menschen in der ihn umge- worden war, rasch verblassen. benden Welt nicht weiter auszubauen zu einer alles Gegenüber der zweiten Auflage ist das Buch beherrschen Dominanz, die wir allenthalben als Vorwort zur dritten Auflage VI fortschreitenden und sich beschleunigenden Pro- wir von unserer Weltgemäßheit zumeist so wenig zeß der Zivilisation bestaunen, sondern sie – wissen, wie die Zugvögel, die sich auf ihrem Flug ebenso bestaunenswert – »vernünftig« zurückzu- am Stand der Sonne orientieren. Wir können kei- bauen zu einer Weltgemäßheit des Menschen: nen Augenblick existieren ohne die Welt, aber »Wie weit es immer dem Menschen gelingen mag, diese kann auch ohne uns sein« (Karl Löwith: sich die Natur durch Bearbeitung anzueignen und Curriculum vitae, 1959). Ein Aufruf zu mehr Be- seine Herrschaft über sie auszudehnen, sie wird scheidenheit, darin könnte unter anderem eine niemals zu unserer Umwelt, sie bleibt immer sie Reverenz des europäischen Denkens, das man selbst. Von dieser Welt, die nicht eine Welt unter auch das okzidentale, das abendländische genannt anderen und keine bloße ›Idee‹ (Kant) oder ein hat, an das östliche Denken bestehen, das hier ›Horizont‹ (Husserl) oder ›Entwurf‹ (Heidegger) nicht zur Darstellung kommen kann. ist, sondern die eine und ganze wirkliche Welt, Schließlich: Dank allen, die zum Zustande- ließe sich sagen, daß über sie hinaus nichts Grö- kommen dieses Buchs beigetragen haben. – So- ßeres denkbar ist. Sie braucht aber auch gar nicht lange sie Mühe machen, dauern die Werke. als existierend bewiesen zu werden, den sie weist sich alltäglich und fortwährend selber aus, obwohl Stuttgart, im Juli 2003 Bernd Lutz 1 Abaelard Abaelard, Peter mit philosophischer Vernunft zu nähern, um das große Anliegen der Zeit voranzutreiben, nämlich Geb. 1079 in Le Pallet bei Nantes; Glauben und Wissen in Einklang zu bringen. Er gest. 21. 4. 1142 im Kloster St. Marcel bei bekämpfte dabei den Widerstand kirchentreuer Châlon-sur-Saône Theologen, indem er argumentierte, daß man die Aussagen der Philosophen kennen müsse, um sie Das Aufsehenerregendste in A.s Leben sei vor- widerlegen zu können. Er wollte z.B. den Gottes- weggenommen: Es war die Liebesbeziehung zu begriff lebendiger beschreiben – dynamisieren – Héloïse, der Nichte des Pariser Kanonikers Fulbert, und wiederholte eigentlich nur, was er bei Augusti- der diese Verbindung mit unglaublich brutalen nus und vor allem bei Platon gefunden hatte: die Mitteln zu zerstören wußte. Nachdem Héloïse sich philosophische Trinitätslehre, in der Gott das Gute in ihren Hauslehrer A. verliebt hatte, lief sie mit selbst sei, als weltbewegende Weisheit die Gesamt- ihm davon; die beiden heirateten nach der Geburt heit der Ideen schaffe und das Weltganze mit eines Sohnes. Rasend vor Zorn ließ Fulbert A. liebender Güte bewege. Dieser letzte Punkt trug eines Nachts überfallen, kastrieren und steckte ihm scharfe Kritik ein: A. hatte die Auffassung Héloïse in ein Kloster. A. floh gedemütigt in das Platons von der Weltseele auf die dritte Person Kloster St. Denis. Berühmt wurde der Fall durch Gottes bezogen. Hierin wurde er heftig von Bern- literarische Bearbeitungen, die sich auf A.s Historia hard von Clairvaux angegriffen, der als orthodoxer calamitatum mearum (Geschichte meiner Leiden) Vertreter des alten gläubigen Mönchsideals darin sowie den Briefwechsel zwischen ihm und dieser eine Gefährdung seiner Glaubenshaltung witterte, ungewöhnlichen Frau beriefen. Seit einiger Zeit die allein den Zugang zu Gottes Weisheit sichere. sind Zweifel an der Autorschaft der Briefe aufge- Ein weiterer Gedankengang entsetzte die kon- kommen, sie sollen etwa 150 Jahre jünger als die servativen Theologen um Bernhard von Clairvaux: Ereignisse selbst sein. A. war davon überzeugt, daß die göttliche Weisheit A. war ein einflußreicher Lehrer und origi- auch nichtchristliche Denker inspiriert haben närer Denker, brillant in seinen Formulierungen, könne; verschiedene Religionen und ihre Gebote dabei streitbar, unstet, fast unverträglichen Cha- seien nur historische Beispiele humaner Sittlich- rakters. Dieser »schwierige Zeitgenosse« hatte ei- keit und Religiosität. Hier setzte ein Denkmotiv nen anderen Großen seiner Zeit zum unerbittli- ein, das bis zu Lessings Nathanführte, die Haltung chen Feind: den berühmten Abt Bernhard von der Toleranz den Weltreligionen gegenüber – eine Clairvaux, den Erneuerer des Mönchsideals. Die- zu Zeiten von A. unmögliche Relativierung ange- ser Mahner und Traditionalist verfolgte fanatisch, sichts des Alleingeltungsanspruchs der katholi- was anerkannter Überlieferung widersprach. So schen Kirche. Diese intellektuelle Selbständigkeit forderte er 1121 ein Ketzergericht für A. in Sois- brachte A. auch in das Quellenstudium der Kir- sons, währenddessen die Schrift über die Trinitäts- chentexte ein, wo er auf Textbrüche und Differen- lehre De unitate et trinitate divina verbrannt zen stieß. Er arbeitete Bedeutungsvarianten heraus wurde, und später – nachdem A. seine Lehrtätig- mit der Absicht, diese zu harmonisieren. In seinem keit nach vielen Reisen 1136 in Paris wieder aufge- einflußreichen Werk Sic et non (Ja und Nein)ent- nommen hatte – ein Konzil in Sens (1140), auf warf er dazu Regeln zur Textbehandlung und for- dem seine Theologia verurteilt wurde. A. begab derte Beachtung der »Semantik« in den Aussagen. sich zur Verteidigung seines Falles auf den Weg Zudem müsse man die Echtheit der Stellen über- nach Rom, wurde aber krank und starb in einem prüfen und z.B. Überarbeitungen wie alte Mal- Kloster bei Châlon. schichten abtragen! Unerhört der Anspruch, man Welches waren die Gründe für diese haßer- müsse Texte auslegen, statt sie (blind) zu tradieren. füllte Gegnerschaft? A., der Sohn eines bretoni- Kritisch ist eingewendet worden, das Ergebnis der schen Adligen, hatte bei dem Nominalisten Ros- scholastischen Methode stehe von vornherein fest, celin von Compiègne in Loches, aber auch bei die Wahrheit sei unantastbar vorgegeben – und dessen philosophischem Gegner, Wilhelm von nun machte A. die Suche erst zur Aufgabe, wobei Champeaux, in Paris studiert. Nach kurzer Zeit der Sucher in eigener Verantwortung arbeitete. war A. bekannt geworden und konnte selbst eine Bei der Behandlung ethischer Fragen – in sehr populär gewordene Schule begründen (1113). Ethica seu liber dictus scito te ipsum – zeigte sich In seiner Theologiaversuchte er, sich dem Glauben wiederum dieser neue Ansatz, der die subjektive Abaelard 2 Person in den Vordergrund rückte: A. vertrat eine sung wurde später auch als Konzeptualismus be- Art Gesinnungsethik, ein »Erkenne dich selbst« kannt (als Echo in der Moderne vgl. Nicolai gegenüber der Befolgung starrer Moralgebote. Es Hartmanns Schichtenlehre). Sein großes Verdienst galt bei ihm fast ausschließlich der innere Akt der war die Anbahnung einer kritischen Erkenntnis- Zustimmung zu einem Begehren. Die Tat selbst lehre, noch bevor die Masse der aristotelischen erhöht nicht die Bosheit oder Gutheit, sondern die Schriften auftauchte. Er bereitete deren Rezeption Überlegungen, die Motivation, die Triebfeder. vor und wies einen Weg zu wissenschaftsorien- Diese Haltung sollte nicht rückinterpretierend zu tierten Denkformen innerhalb theologischer Fra- einer »modernen« gemacht werden, weil auch für gestellungen. A. die Bibel und die Autoritäten als verbindlich Thomas, Rudolf (Hg.): Petrus Abaelardus. Person, Werk galten. Er zeigte aber durchaus die Feinheiten und Wirkung. Trier 1980. – Tweedale, Martin M.: Abai- ethischer Entscheidungsvorgänge auf und durch- lard on Universals. Amsterdam/New York/Oxford 1976. brach die Starrheit traditioneller Wertsetzungen. – Häring, N. M.: Abailard Yesterday and Today. In: Die Selbstbestimmtheit des Willens, der mensch- Pierre Abélard – Pierre le Vénérable. Paris 1975. liche »Ermöglichungsgrad sittlichen Handelns« Wolfgang Meckel rückte ins Blickfeld. Bekannt wurde A. vor allem anderen durch seinen Neuansatz zum Universalienproblem in sei- Adler, Alfred nen Logica ›Ingredientibus‹ und Logica ›Nostro- rum‹, einem Gebiet, das er zeitlebens bearbeitete Geb. 7. 2. 1870 in Rudolfsheim; und das neben ontologischen Fragen auch die gest.28.5.1937 in Aberdeen Kategorienlehre einschloß. Interessant dabei war, daß er nicht auf Aristoteles zurückgreifen konnte, A. war neben Sigmund Freud und Carl Gustav der noch nicht übersetzt war, und auch nicht auf Jung Begründer der Tiefenpsychologie. A.s Be- Platon, dessen Werk »ihm nicht vorlag«, wie er mühungen galten nicht nur der Heilung, sondern schreibt. Er mußte also in der Universalienfrage vor allem der Verhinderung von psychischen selbst eine Lösung finden, die dann formelhaft bis Krankheiten. In diesem Zusammenhang sind seine ins Hochmittelalter benutzt werden sollte. Es ging Beiträge zur Erziehung sowie sein soziales Engage- in dieser Frage um das Verhältnis von Ideen zu den ment zu sehen. Die Titel einiger seiner Bücher Einzeldingen. Haben Ideen eine eigene Existenz, machen diese Absicht deutlich: Gesundheitsbuch unabhängig von den Dingen? Oder sind sie Kon- für das Schneidergewerbe(1898), Heilen und Bilden struktionen, »Hirngespinste«? Gibt es z.B. Grün- (1913), Individualpsychologie in der Schule (1929) heit oder nur grüne Blätter, gibt es eine Idee vom und Kindererziehung (1930). Diese Ausrichtung Menschsein oder nur Individuen? Die Nominali- der Tiefenpsychologie hat den Grund in A.s Ent- sten behaupteten, daß die Art- und Gattungs- setzen über die kollektive Machtneurose, die im begriffe nur Namen seien, von uns hervorgebracht Ersten Weltkrieg zum Ausbruch kam. Erst nach und nicht real. Die Realität wurde nicht als real- diesem Ereignis war die Ausprägung der Indivi- existent verstanden, sondern nur als innere Mög- dualpsychologie in der genannten Weise festzu- lichkeit, Potenz, als eine Art Wesen der Dinge. Die stellen. A. teilte mit Nietzsche die Einsicht, daß Realisten behaupteten dagegen, die Ideen hätten alles nach Macht strebt, zugleich aber allem Macht eine von den Einzeldingen unabhängige Existenz, fehlt. Dieses Streben aus der Ohnmacht zur Macht die Dinge seien nur Individuationen einer Grund- sei ubiquitär und verursache die Bewegung alles idee. A. nun erklärte und harmonisierte dieses Lebendigen. Doch die Auswirkungen des Macht- Problem (wie später auch Thomas von Aquin) so, strebens, sichtbar außer in den Kriegsereignissen daß die Begriffe weder nur außerhalb und vor den in den psychischen Leiden des Bürgertums und Dingen – »ante rem« – existierten, noch ausschließ- der Arbeiterschaft in Wien zu Beginn des 20. lich in den Dingen – »in re« – steckten als eine Jahrhunderts, ließen A. zu der Einsicht gelangen, Art Anteil des Dinges am Allgemeinen, sondern – daß es vorrangig sei, Neurosen zu verhindern. und das war seine Lösung – daß sie als Ergebnis Aufgrund dieser Einsicht zeigt die entwickelte In- einer vergleichenden Abstraktion entstünden – dividualpsychologie gegenüber Freuds Psychoana- »post rem« –, den Dingen als Denkvorgang fol- lyse in drei wesentlichen Punkten Unterschiede: gend, nicht real, sondern als »conceptus«. A.s Lö- Neurosen sah A. als ein soziales Phänomen an, da 3 Adler das Machtstreben seine Ursachen in der Sozialisa- nannte Individualpsychologie ist … das Bekennt- tion der Klassengesellschaft habe. In der Indivi- nis eines anderen Temperaments und einer völlig dualpsychologie sind darum die sozialen Aspekte anderen Weltanschauung. Keiner, der sich für ›Psy- auch stärker herausgearbeitet als in der übrigen choanalyse‹ interessiert und der danach trachtet, Psychoanalyse. Zum zweiten wurden in der klassi- einen einigermaßen genügenden Überblick über schen Psychoanalyse Überlegungen zur Prävention das Gesamtgebiet der ärztlichen Seelenkunde zu eher selten angestellt. Die Individualpsychologie erhalten, sollte es versäumen, die A.schen Schriften dagegen hat Erziehungskonzepte ausgearbeitet, die zu studieren. Er wird die wertvollsten Anregungen darauf gerichtet sind, Neurosen zu verhindern. schöpfen«. Zum dritten gab es in der ursprünglichen Psycho- Außer der Betonung der sozialen Seite see- analyse neben der Therapie kein Instrumentarium, lischer Probleme ist es ein weiteres Merkmal der das sich ›Beratung‹ nennt, also keine tiefenpsycho- A.schen Theorie, daß er sich schon sehr früh vom logische Unterstützung bei der Lösung von All- kausal-naturwissenschaftlichen Denken abwandte. tagsproblemen. Das war für ihn selbst auch einer der wesentlichen Der in einem ländlichen Vorort Wiens großge- Unterscheidungspunkte zur Psychoanalyse, der wordene A. wuchs in kleinbürgerlichem Milieu ebenfalls nicht unmaßgeblich für die Trennung auf. Er kokettierte damit, als »Gassenjunge« aufge- von Freud gewesen sein dürfte. A. dachte wie viele wachsen zu sein. Von seiner eigenen Sozialisation Wissenschaftler seiner Generation: Das kausal-na- her läßt sich erklären, daß A. empfindlich auf- turwissenschaftliche Denken wurde ergänzt durch merksam war für soziale Probleme: Zu Anfang des das ganzheitliche. Das bedeutet, daß an die Stelle 20. Jahrhunderts bestand rund vier Fünftel der der triebbestimmten Psyche die Auffassung des gesamten Bausubstanz Wiens aus sogenannten Individuums als eines aktiv und zielbestimmt han- »Zinskasernen«, menschenunwürdigen Behausun- delnden Wesens in den Vordergrund trat. Deshalb gen, die hoffnungslos überbelegt waren. Die Fami- nannte A. nach dem Bruch mit Freud seine Rich- lien waren kinderreich, die Menschen dem Terror tung »Individualpsychologie«. Damit sollte deut- und der Willkür des Hausherrn, der sogenannten lich werden, daß der Mensch in seiner Ganzheit als »Zinsgeier«, ausgesetzt. Um die Miete bezahlen zu einheitliches, unteilbares Individuum mit all sei- können, wurde an sogenannte »Bettgeher«, die nur nen – vor allem sozialen – Bezügen angesehen zum Schlafen kamen, untervermietet. So wurde werden müsse. Dieses Individuum handle willent- das Familienleben zerstört. Es kam zur Verrohung lich und zielgerichtet. An die Stelle des kausalen der Sitten, Alkoholismus, Kriminalität, frühem Erklärens von Neurosen trat das teleologische Ver- Tod oder Selbstmord. Dieses Massenelend traf A. stehen. Somit hat die Individualpsychologie eine an, als er sich nach dem Medizinstudium an der enge Beziehung zur verstehenden Soziologie Max Wiener Universität entschloß, ein sozial engagier- Webers. A. sagte: »Wir sind nicht in der Lage zu ter Arzt zu werden. 1902 lernte A. Freud kennen denken, zu fühlen, zu wollen, zu handeln, ohne und schloß sich dem Freudschen Mittwochskreis daß uns ein Ziel vorschwebt … Wenn jemandem an. Wie der Kontakt zustande kam, ist ebenso jedoch ein Ziel vorschwebt, dann verläuft die seeli- unbekannt wie der Grund für die Hinwendung sche Regung so zwangsläufig, als ob hier ein Na- A.s zur Psychoanalyse. A. warb im bürgerlichen turgesetz walten würde.« Jeder Mensch strebe von Freud-Kreis um Verständnis für die Arbeiterbewe- einer Ohnmachtsituation in eine Machtsituation. gung. Er stieß allerdings auf Befremden. 1911 Die Ziele des Strebens könnten sozial nützlich und trennte A. sich von Freud. Carl Gustav Jung sagte real erreichbar sein oder sozial unnütz und fiktiv. dazu 1930: A.s Individualpsychologie »betont vor Setzt sich der Mensch nicht erreichbare und sozial allem die soziale Seite des seelischen Problems und unnütze Ziele (»Ich will allen überlegen sein«, »Ich differenziert sich daher immer mehr zu einem will der Beste von allen sein«), führt das zu Neu- sozialen Erziehungssystem«. Es unterscheidet sich rosen. Die Aufgabe des individualpsychologischen »in allen der Freudschen Richtung wesentlichen Therapeuten und seines Klienten wird demnach Stücken von der ursprünglichen Psychoanalyse … die Umfinalisierung sein. und zwar in solchem Maße, daß, mit Ausnahme Seine Theorie hat A. nicht systematisch darge- gewisser theoretischer Prinzipien, die ursprüngli- stellt. Die wichtigsten Gedanken der Individual- chen Berührungspunkte mit der Freudschen Psy- psychologie finden sich in den vier Werken Studie chologie kaum mehr aufzufinden sind. A.s soge- über die Minderwertigkeit von Organen (1907), Adler 4 Über den nervösen Charakter (1912), Menschen- nem Konzept des »Neuen Menschen« vor einer kenntnis (1927) und Der Sinn des Lebens (1933). gesellschaftlichen Revolution, die die Notwendig- Der ruhe- und rastlose Mann war immer mehr keit der Revolutionierung des Bewußtseins außer Praktiker als Theoretiker. Er wurde gelobt als glän- acht läßt, und schließlich führt er die Begriffe der zender Redner mit Überzeugungskraft. Nach dem »politischen und sozialen Demokratie« ein, die Ersten Weltkrieg baute er in Wien ein Netz von sowohl in der Staatslehre der Weimarer Republik Erziehungsberatungsstellen auf. 1934 mußte er in als auch der Bundesrepublik Deutschland von gro- die USA emigrieren und starb 1937 bei einer ßer Bedeutung sein sollten. Europareise während eines Spaziergangs in Aber- A. wurde 1873 als Sohn einer jüdischen Kauf- deen. Freud kommentierte: »Für einen Judenbub mannsfamilie geboren. Nach dem Studium der aus einer Wiener Vorstadt ist ein Tod in Aberdeen Rechtswissenschaften promovierte er 1896 an der schon an sich eine unerhörte Karriere und ein Universität seiner Heimatstadt, legte 1902 die An- Beweis dafür, wie weit er es gebracht hat. Tatsäch- waltsprüfung ab und ließ sich anschließend als lich hat ihn die Welt reichlich dafür belohnt, daß »Hof- und Gerichtsadvokat« in einem Wiener Ar- er sich der Psychoanalyse entgegengestellt hat.« beiterviertel nieder. Schon sehr früh hatte er sich – Die Bedeutung der Individualpsychologie ist nicht zuletzt unter dem Einfluß von Carl Grün- heute, vor allem in den USA, der der klassischen berg, dem »Vater des Austromarxismus« und spä- Psychoanalyse fast vergleichbar. Erst Ende der 60er teren Direktor des legendären Frankfurter »In- Jahre wurde die Individualpsychologie in Europa stituts für Sozialforschung« – dem Sozialismus wieder bekannter. zugewandt. An der von ihm mitbegründeten er- sten österreichischen Arbeiterschule gab er seit Brunner, Reinhard/Titze, Michael (Hg.): Wörterbuch der 1904 Kurse und engagierte sich von dieser Zeit an Individualpsychologie. München 21995. – Schmidt, Rai- ner (Hg.): Die Individualpsychologie Alfred Adlers. Ein zunehmend in verschiedenen Erziehungsorganisa- Lehrbuch. Frankfurt am Main 1989. – Ansbacher, Heinz tionen der sozialdemokratischen Partei seines L./Ansbacher, Rowena R. (Hg.): Alfred Adlers Indivi- Landes, da für ihn die richtige Bewußtseinsbildung dualpsychologie. München 1984. einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Detlef Horster klassenlosen Gesellschaft bedeutete. Die Habilitie- rung an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien stand aufgrund seiner politi- Adler, Max schen Überzeugung anfänglich in Frage; erst die engagierte Unterstützung des liberalen Staatstheo- Geb. 15. 1. 1873 in Wien; retikers Hans Kelsen vermochte 1919 den Wider- gest. 28. 6. 1937 in Wien stand der konservativen Professorenschaft zu bre- chen. Zwei Jahre später konnte er eine außer- A. zählt – neben Otto Bauer, Rudolf Hilferding ordentliche Professur übernehmen und sich nun und Karl Renner – zu den wichtigsten und origi- ganz der wissenschaftlichen, schriftstellerischen nellsten Vertretern des Austromarxismus. Charak- und politischen Arbeit widmen. Obwohl seine teristisch für diese um die Jahrhundertwende in Thesen zum Teil erheblich von der offiziellen Hal- Österreich entstandene Variante des wissenschaft- tung der Arbeiterpartei Österreichs abwichen, ja lichen Sozialismus ist unter anderem der Versuch, die Lehre von Marx und Engels in Richtung auf die Marxsche Lehre philosophisch zu begründen eine idealistische Theorie zu verändern trachteten, bzw. zu erweitern und ihre materialistische Ge- war A. in den 20er Jahren einer der wichtigsten, schichtsauffassung kritisch zu hinterfragen. A. geht wenn auch umstrittensten Köpfe der Sozialdemo- in seinen Arbeiten noch einen entscheidenden kratie seines Landes. Sein Bekenntnis zum Prinzip Schritt darüber hinaus: Er will den Marxismus des Klassenkampfes, zur Revolution und zur Dik- durch Kants transzendentale Methode erkenntnis- tatur des Proletariats ließen ihn sogar als Vertreter theoretisch untermauern, was ihm vor allem durch der Linksopposition innerhalb des Austromarxis- die von ihm eingeführte Kategorie des »Sozial- mus erscheinen. Zu dieser Meinung trug erheblich apriori« möglich erscheint; er fordert, die mate- die Tatsache bei, daß A. sich selbst lediglich als rialistische Geschichtstheorie nicht nur zu revi- Interpret, nicht aber als Kritiker bzw. Erneuerer dieren, sondern sie durch eine kausalteleologische des klassischen Marxismus verstand und noch zu ersetzen; er warnt im Zusammenhang mit sei- dort Unterschiede bestritt oder zumindest bagatel-