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Metzler Lexikon Autoren: Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart PDF

879 Pages·2010·5.191 MB·German
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Metzler Lexikon Autoren Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart Herausgegeben von Bernd Lutz und Benedikt Jeßing 4., aktualisierte und erweiterte Auflage Verlag J.B. Metzler Stuttgart · Weimar Die Herausgeber Inhaltsverzeichnis Bernd Lutz leitete einen kulturwissenschaftlichen Vorwort V Fachverlag; bei J.B. Metzler ist u.a. erschienen Autoren A–Z 1–861 »Metzler Philosophen Lexikon«, 3. Auflage 2003 Weiterführende Bibliographie 862 (Hg); »Metzler Goethe Lexikon«, 1999 (Mit- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 864 herausgeber). Artikelregister 868 Benedikt Jeßing ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum; bei J.B. Metzler ist erschienen: »Johann Wolfgang Goethe«, Sammlung Metzler 288, 1995; »Metzler Goethe Lexikon«, 1999 (Mitheraus- geber); »Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft«, 2003 (Mitautor). Bibliografische Information der Deutschen National- bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02304-9 ISBN 978-3-476-05379-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-05379-4 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheber- rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2010 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2010 www.metzlerverlag.de [email protected] Vorwort zur vierten Auflage Autorenlexika beeinflussen die Mechanismen der der Artikel wurden überprüft und, wo notwendig, Kanonisierung: Sie heben bestimmte Schriftsteller/- ergänzt, die Artikel selber kritisch durchgesehen innen und bestimmte ihrer Werke hervor – als und ebenfalls ergänzt. Lemma oder durch Nennung. Wen sie, gleichgültig Zu danken ist allen, die beim Zustandekom- ob aus der literarhistorischen Tiefe oder aus der men der insgesamt aufwendigen Neuauflage ge- Gegenwartsliteratur, aufnehmen, der bekommt holfen haben. Zuerst den Autor/innen, die ihre damit eine gewisse Stellung zugewiesen – wenn ›alten‹ Artikel einer kritischen Durchsicht unter- nicht im Höhenkamm der kanonischen Literatur, worfen haben oder mit viel Elan neue Artikel so doch im Literaturbetrieb. Der Erfolgsautor ge- geschrieben haben, Andreas B. Kilcher, der be- hört ebenso dazu wie der ästhetisch anspruchs- reitwillig einige Artikel aus dem von ihm heraus- volle Exzentriker. Der Anteil, den das Metzler Lexi- gegebenen Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen kon Autoren aus den zahllosen ›dichtenden‹ Au- Literatur beigesteuert hat, Mareike Hunfeld, Ma- toren aufnimmt, ist mit ca. 560 Autorinnen und rina Heier und Catharina Meyer, denen in Bo- Autoren sehr groß – viel größer, als auch der chum die redaktionelle Arbeit am Gesamtprojekt weiteste Kanonbegriff denkt. Nichtsdestoweniger anvertraut war, Matthias Beilein, der in Stuttgart ›fehlen‹ Autorinnen und Autoren, die vielleicht umsichtig die Revision besorgt hat und schließlich dem einen Spezialisten oder der anderen Leserin Ute Hechtfischer vom Verlag J.B. Metzler, die die wichtig genug erscheinen für ein Autorenlexikon. Projektleitung innehatte. Vollständigkeit aber kann ein solches Lexikon- Wie ist mit diesem Lexikon umzugehen? In projekt nicht anstreben – wenn es nicht unter- seinem bemerkenswerten Film Club der toten schiedslos das Unvergleichbare nebeneinanderstel- Dichter (Dead Poets Society, 1989) erzählt der in len will und damit keinerlei Kriterien der Wertung Australien geborene Regisseur Peter Weir die Ge- aufwiese. schichte einer Gruppe von Schülern eines ame- Die Herausgeber sind allerdings überzeugt da- rikanischen Eliteinternats, denen ein neuer Eng- von, dass die Auswahl der verzeichneten Auto- lischlehrer, gespielt von Robin Williams, die Augen rinnen und Autoren mitnichten subjektiven Krite- für die Macht der Literatur öffnet. In der ersten rien folgte: Sowohl die Bedeutsamkeit eines Œuv- Stunde dieses neuen Lehrers schlagen die Schüler res in seiner jeweiligen Zeit sowie in der Rezep- ihre Anthologie Understanding Poetryauf und er- tionsgeschichte als auch die Position eines fahren im Vorwort des Herausgebers dieses Schul- Schriftstellers bzw. einer Schriftstellerin in der lite- buchs von den zwei wichtigsten Komponenten rarischen Öffentlichkeit waren leitende Auswahl- jeder Dichtung: Bedeutsamkeit und Perfektion kriterien. Diese sind natürlich angesichts der aktu- (des Metrums, Reims, Strophenbaus usw.). Wenn ellsten Gegenwartsliteratur problematisch: Es gibt man nun die ermittelte Bedeutsamkeit auf der x- gewiss eine Reihe junger Autorinnen und Autoren, Achse einträgt und die Perfektion auf der y-Achse die es verdient hätten, aufgenommen zu werden – eines Koordinatensystems einträgt, so ergibt sich es gilt aber zuzuwarten, wer sich möglicherweise aus der anschließenden Flächenberechnung die im nächsten Jahrfünft als wichtige/r Autor/in er- Maßzahl dichterischer Größe. Mathematisch exakt weisen kann. Im Vergleich zur 3. Auflage (2004) kann so nachgewiesen werden, dass Shakespeare wurden rund 20 Neuartikel aufgenommen – zu- größer und bedeutender ist als Byron. Stattdessen meist zu Autoren und Autorinnen der Gegen- weist Robin Williams seine Schüler an, diese un- wartsliteratur. sinnige Seite aus ihrem Schulbuch restlos zu ent- Die vierte Auflage dieses Lexikons ist behutsam fernen. Er sensibilisiert sie für die bestimmende an die reformierte deutsche Rechtschreibung ange- Macht der Sprache über die Handlungen und passt worden – ohne allerdings die Sinnentstellun- Empfindungen des Menschen und ermutigt sie, gen durch fehlende Kommata oder absurde Tren- selber – in eigener Sache – das Wort zu ergreifen. nungen mitzuvollziehen. Innerhalb der Zitate Fast überflüssig zu erwähnen, dass der Film tra- wurde die ursprüngliche Orthographie beibehal- gisch endet. Die Autor/innen dieses Lexikons ha- ten. Die bibliographischen Angaben am Schluss ben wir stets gebeten, dieses Widerständige und Vorwort zur vierten Auflage VI Handlungsanleitende der Literatur als eine ganz Gedanken hingeben, daß Mächtige über Dir sind, große Hoffnung herauszuarbeiten, sichtbar zu ma- die doch alles bestimmen«. So Peter Weiss in seiner chen und als ein wesentliches Moment von Selbst- Ästhetik des Widerstands, mit Blick auf den Perga- findung und Selbstbestimmung vorzutragen: »Du mon-Altar an seine Leser. So in etwa wünschen wir mußt lesen, Du mußt dich bilden, Du mußt dich uns, dass dieses Buch gebraucht und verstanden auseinandersetzen mit den Dingen, die auf Dich wird. zukommen, Du mußt Stellung ergreifen, Du darfst nicht sitzen und alles nur auf dich zukommen Bochum/Stuttgart, Benedikt Jeßing/ lassen, Du darfst dich vor allen Dingen nicht dem im Juni 2010 Bernd Lutz 1 Abraham a Sancta Clara Abraham a Sancta Clara stehliche Verbindung von Ernst und Komik, von tiefer Frömmigkeit, gezielter Satire und »barocker« Geb. 2. 7. 1644 in Kreenheinstetten Sprachgewalt; dem intendierten moralischen und bei Meßkirch; gest. 1. 12. 1709 in Wien geistlichen Nutzen dienten auch die zahlreichen Zitate kirchlicher und antiker Autoren, die Ge- Johann Wolfgang Goethe behielt recht, als er dichteinlagen und die eingeflochtenen exempla- Friedrich Schiller einen Band mit Schriften von A. rischen Geschichten und Wundererzählungen zusandte und dazu bemerkte, sie würden ihn »ge- (»Predigtmärlein«). wiß gleich zu der Kapuzinerpredigt begeistern« Seine bekanntesten Schriften entstanden aus (5.10. 1798). Denn Schiller fand hier das Material, aktuellem Anlass, der Pestepidemie von 1679 und das er brauchte, um den Auftritt des Kapuziners in der Belagerung Wiens durch die Türken 1683: Wallensteins Lager mit Leben zu erfüllen, und er Mercks Wienn (1680), eine Verbindung von Pest- übernahm charakteristische Merkmale von A.s bericht, Predigt und Totentanz (»Es sey gleich volkstümlichem Predigtstil, die Wortspiele, die morgen oder heut / Sterben müssen alle Leuth«); Reihungen, die lateinisch-deutsche Mischsprache, Lösch Wienn (1680), eine Aufforderung an die die Verbindung von drastischem Ton und höhe- Wiener, die Seelen ihrer durch die Pest hinge- rem Anliegen. So setzte er »Pater Abraham«, die- rafften Angehörigen durch Gebet und Opfer aus sem »prächtige[n] Original«, mit all seiner »Toll- dem Fegefeuer zu erlösen; und Auff / auff Ihr heit« und »Gescheidigkeit« ein Denkmal, das Christen, ein Aufruf zum Kampf wider den Tür- nachhaltiger wirkte als das wesentlich komplexere ckischen Bluet-Egel(1683). Darüber hinaus belebte Werk des Predigers. A. die traditionelle Ständesatire und die Narren- A., eigentlich Hans Ulrich Megerle, Gastwirts- literatur (z.B. Wunderlicher Traum Von einem sohn, war nach dem Besuch der Lateinschule in grossen Narren-Nest, 1703), pflegte den Marienkult Meßkirch, des Jesuitengymnasiums in Ingolstadt und sorgte für erbauliche Unterweisung mit Hilfe und des Benediktinergymnasiums in Salzburg von Ars moriendi (Sterbekunst) und moralisieren- 1662 in den Orden der Reformierten Augustiner- der Emblematik (Huy! und Pfuy! Der Welt, 1707). Barfüßer eingetreten. Das Noviziat absolvierte er Seine Erfahrungen als Prediger flossen in die gro- im Kloster Mariabrunn bei Wien, und von da an ßen Handbücher, Exempel- und Predigtsammlun- stand Wien im Mittelpunkt seines Wirkens, wenn gen ein: Reimb dich Oder Ich liß dich (1684), er auch gelegentlich Aufgaben an anderen Orten Grammatica Religiosa (1691) und als herausra- wahrnehmen musste (so war er von 1670 bis 1672 gendstes Beispiel dieser Werkgruppe Judas Der Wallfahrtsprediger im Kloster Taxa bei Augsburg Ertz-Schelm (4 Teile, 1686–95) – kein epischer und von 1686 bis 1689 Prior im Grazer Kloster Versuch, sondern eine Art Predigthandbuch, das seines Ordens). Nach der Priesterweihe (1668) und die Lebensgeschichte des Judas als formalen Rah- seiner Ernennung zum Kaiserlichen Prediger men benutzt und jede Station, jedes Laster zum (1677) – Kaiser Ferdinand II. hatte dem Orden die Anlass einer warnenden Predigt nimmt, die es Seelsorge an der kaiserlichen Hofkirche übertragen nicht verfehlt, die »sittliche Lehrs-Puncten« auf – machte er »Karriere« in seinem Orden, dem er in anschauliche Weise zu illustrieren. hohen seelsorgerischen und administrativen Funk- Der Beifall, den man seit Klassik und Roman- tionen diente, zeitweise auch als Vorsteher der tik A.s »Witz für Gestalten und Wörter, seinem deutsch-böhmischen Ordensprovinz. humoristischen Dramatisieren« spendet (Jean Vor allem jedoch verstand er sich als Prediger, Paul), darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, und sein Werk ist untrennbar mit dieser Funktion dass es sich für den Prediger nur um Mittel zum verbunden. Das gilt auch für die Schriften, die Zweck handelt, um Elemente einer im Dienst der formal eigene Wege gehen und mit den üblichen »allzeit florierenden / regierenden / victorisirenden literaturwissenschaftlichen Gattungskriterien nur Catholischen Kirchen« zielstrebig eingesetzten schwer zu erfassen sind. Drucke seiner Predigten Überredungskunst. erschienen von 1673 an, als er »Vor der gesambten Literatur: Eybl, Franz M.: Abraham a Sancta Clara. Kayserl. Hoffstatt« eine Lobpredigt auf Markgraf Tübingen 1992; Abraham a Sancta Clara. Ausstellungs- Leopold von Österreich hielt (Astriacus Austriacus katalog. Karlsruhe 1982. Himmelreichischer Oesterreicher). Sein Publikum Volker Meid erreichte und faszinierte er durch eine unwider- Achternbusch 2 Achternbusch, Herbert Absurdität dieses Bildes können wir heute, zur Zeit europäischer »Milchseen« und »Butterberge«, Geb. 23. 11. 1938 in München kaum noch nachempfinden. Die Dinge sind uns tatsächlich so weit über den Kopf gewachsen, dass Was an A. auffällt, ist seine Verwandtschaft mit für unsere Zeit die dem Eulenspiegelschen ent- Eulenspiegel. In seinem Theaterstück Gust(1984) sprechenden Absurditäten andere Bilder erfordern. bittet die sterbende Ehefrau Gust um ein »süßes Man erkennt aber im folgenden Beispiel von A. Wort«, und Gust, der Nebenerwerbsimker, stam- immer noch das Prinzip des grotesken Milchzu- melt vor sich hin: »Honig«. Das war auch die bers, in dem absurde Harmonie entsteht: »Ur- Antwort Eulenspiegels auf dieselbe Bitte der an sprünglich war ich ein gelernter Flugzeugmaurer. seinem Sterbelager sitzenden Mutter. Es sind aber Für 25 Mark in der Stunde habe ich mit Kelle und nun nicht nur die Kalauer, von denen Eulenspiegel Wasserwaage Mauern in Flugzeugen hochgezogen. und Achternbusch ausgiebig Gebrauch machen, Wie es keinen Treibstoff mehr gegeben hat, habe sondern es verbindet sie etwas im Kern ihrer ich für Kontergankinder Führungen in Atomkraft- Haltung. Die deutschen Bauern wurden mit dem werken gemacht. Wenn ich sie was gefragt habe, Beginn der Neuzeit auf ihr Land festgenagelt wie dann haben sie hier an der Schulter die Finger der Grünewaldsche Christus ans Kreuz: die meis- gehoben. Ich habe ihnen erklärt, dass die Atom- ten von ihnen gingen bis ins 19. Jahrhundert in kraft den Menschen die Arme erspart« (Das letzte die sog. ›zweite Leibeigenschaft‹. Wenn nun einer Loch, 1981). in einem Volk, das zu 95% aus Bauern besteht, Liest man Artikel und Bücher über A., dann kein Bauer sein will und auch kein Handwerk fallen immer wieder dieselben Wörter: assoziativ, lernt, dann ist das schwierig. Till ist der bodenlose Aufbegehren, bayrisch, chaotisch, dilettantisch, Bauer, der seinen Acker verlässt, weil man von ihm eigensinnig, individuell, radikal, subjektiv, unge- nicht mehr leben kann. Er zeigt uns, wie ein bärdig, utopisch, verwundet, zornig. Zwei Begriffe Neubau einer städtischen, später bürgerlichen Ge- sind bisher nicht (oder ganz vereinzelt!) genannt sellschaft nicht gelingen kann, wenn die Bauern- worden. Sie haben auch mit Eulenspiegel zu tun: frage, d.h. das Verhältnis der Menschen zu ihrem Realismus und Aufklärung. Man kann sagen, dass Land, das ist also auch die Frage der nationalen die Hauptlinie der »Dialekt der Aufklärung«, die Identität, nicht gelöst ist. So erscheint Eulenspiegel Linie des Verstandes, der instrumentellen Vernunft den Städtern und den Herren, und man kann im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Ver- sagen, dass das Misslingen der deutschen Ge- wüstungen, in ihrem Scheitern zu erkennen ist. schichte im 20. Jahrhundert Eulenspiegel bestätigt Jetzt werden die vergessenen, liegengelassenen Ne- hat. Und nun kehrt in A., der von bayrischen benlinien interessant. Es gab eine »Aufklärung vor Bauern abstammt, dieselbe Bodenlosigkeit wieder. der Aufklärung« des 17. und 18. Jahrhunderts, der Was ihn im Kern mit Eulenspiegel verbindet, ist die Verengung auf das gerade Denkvermögen des die Absurdität der Haltung: »Du hast zwar keine Menschen fremd war. Rabelais, Cervantes, Boccac- Chance, aber nutze sie!« (Die Atlantikschwimmer, cio, Shakespeare, um ein paar berühmte Namen zu 1978). Dies ist die Lebenslosung Eulenspiegels und nennen, hätten den Ursprungssatz der Vernunft- mag auch für A.s Lebens gelten, wenn man man- aufklärung »Ich denke, also bin ich« vielleicht ches aus den Ich-Erzählungen für bare Münze nicht verstanden und ihn für wenig realistisch, nimmt. Bestimmt aber gilt sie für seine Arbeit. d.h. der Natur des Menschen gemäß gehalten. Von »Wenn das schon Dummköpfe sind, denen meine dieser Aufklärung vor und neben der Aufklärung, Bücher gefallen, was müssen das erst für Dumm- die auf breiterer, aber ungeordneterer, unüber- köpfe sein, denen sie nicht gefallen« (Revolten, sichtlicherer Grundlage fußt, geht ein starker ko- 1982). Rückt man seine Bücher, Filme, Theater- mischer Impuls aus, der sich in Menschen wie A. stücke und Bilder in die Tradition der Eulen- und seinen Lesern und Guckern wieder bemerkbar spiegelstreiche, so versteht man sie richtig. Eulen- macht. Ihr Hauptprinzip heißt »Aufklärung durch spiegel hat z.B. auf dem Bremer Marktplatz Milch Vernebelung« (Heiner Müller), d.h. sie würden in einen großen Bottich gießen lassen, also Milch- das Gebot »sapere aude!« nie aussprechen, weil sie mengen gesammelt, mit denen eine mittelalter- der Wirkung direkter, linearer, verständiger Kom- liche Bauerngesellschaft oder frühe Stadtbewohner munikation misstrauten. Von diesem Prinzip le- auf keinen Fall sinnvoll umgehen konnten. Die ben auch A.s Arbeiten: »Ich möchte aber Filme, die 3 Achternbusch niemand versteht. Früher hat man einen Bachlauf kunstloser Künstler zu sein. Dies zieht die Feind- nicht verstanden, heute wird er begradigt, das schaft der Bürokratie (Das Gespenst, 1983), der versteht ein jeder.« »Es geht nicht mehr darum, Ritter des Kulturbetriebs und der Traditionalisten dieses bürgerliche Verbrechertum zu beweisen, auf sich. Aber es sichert ihm die Zuneigung der sondern unverschämte Behauptungen in die Welt Künstler, und zwar auch solcher, die gar nicht zu setzen. Die Literatur soll erfinden … Die Erfah- zueinander und zu ihm zu passen scheinen. Sie rung soll springen, in Erfindungen springen.« Ist bemerken, dass hier einer die Wurzeln der Kunst, es nicht immer noch überraschend, dass Kant in d.h. nichtentfremdeter Produktivität offen hält, so seinem berühmten Aufsatz »Beantwortung der dass man daran anknüpfen kann. Frage: Was ist Aufklärung?« (1783) als erstes Bei- Zusammenhänge sind oft unterirdisch. Man spiel von Unmündigkeit die Abhängigkeit vom muss nicht bestreiten, dass A. mit den häufig Buch anführt? »Es ist so bequem, unmündig zu genannten Kameraden im Geiste (Karl Valentin, sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, Oskar Maria Graf, Charlie Chaplin, Buster Keaton, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Marx-Brothers, Jean Paul, auch mit Robert Walser Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw.: so und Franz Kafka) offenkundig vieles verbindet, brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.« wenn man auf andere, weniger offenkundige Be- Natürlich meint Kant mit dem Buch das damals züge hinweist. Dazu gehört z.B. eine geheime beherrschende Buch, die Bibel. Aber das Verhältnis Verwandtschaft mit Robert Musil. Für ein deka- der Leser zum Geschriebenen muss sich nicht dentes Lebensgefühl, welches seine Zeit be- dadurch ändern, dass an die Stelle der Bibel in- stimmte, fand Musil folgendes Bild: »Sätze wie zwischen alle möglichen Bücher oder auch Filme, dieser schmecken so schlecht wie Brot, auf das Fernsehen u.a. getreten sind. Auch Bücher wie die Parfüm ausgegossen wurde, so daß man jahrzehn- von Kant, die in emanzipatorischem Interesse ver- telang mit alledem nichts mehr zu tun haben fasst wurden, können sich gegen die Gewohnheit mag.« In A.s Film Der Depp(1982) wird folgendes unmündigen Lesens schlecht wehren. Aus diesem Gericht serviert: »Das Sauerkraut mit dem Scho- Scheitern zieht A. die Konsequenz, Bücher zu koladenherz«. Beide Bilder zeigen einen Weltekel, schreiben, die überhaupt keinen Verstand haben dessen deutscher komischer Archetyp Eulenspiegel und daher auch keinen »für mich« haben können. ist, unterscheiden sich aber städtisch (Wien, bür- Das Vertrauen auf den Unsinn (von Erfindung gerlich, ironisch) und ländlich (bayrischer Wald, und Erfahrung), Komik, will ein Hemmnis gegen bäuerlich, komisch). Mit diesem Abscheu gegen unmündiges Lesen sein, denn unsinnigen Sätzen die Außenwelt geht fast immer die Sehnsucht nach kann man nicht sklavisch-verständig folgen. »La- einem anderen Menschen einher, der die Welt chen ist ein guter Ausgangspunkt für Denken.« genauso verabscheut: das ist Agathe für den Mann Wer an dem Begriff der Erfahrung festhält, ohne Eigenschaften und Susn in den Büchern A.s. kann kein Gegenaufklärer sein. Es kann sich dabei Um das Soziale, eigentlich Asoziale, das Kriegeri- im Ursprung und Kern nur immer um die eigene sche in der Liebe möglichst gering zu halten, Erfahrung handeln. Auf die Einsicht der Bedro- verkleidet sie sich als Inzest. Susn ist wie Agathe hung der Welt gründet sich Achternbuschs Rea- die Schwester: »Der Vater hat dir die Susn in den lismus. »Ich bin der Erfinder der Individuellen Kopf gespuckt, sag ich da. Er hat einen Rausch Kunst, Erfinden kann man die leicht, aber durch- gehabt, und in seinem Kater tröstete er sich mit setzen!« Die seit dem 18. Jahrhundert benutzten einer schönen Erfindung, einer Tochter aus seinem künstlerischen Formen, die alten Behälter der Er- Samen!« (Die Alexanderschlacht, 1978). Der »letz- fahrung, können die lebendige, also zunächst in- ten« ernsthaften »Liebesgeschichte« Musils folgt dividuelle Erfahrung der Gegenwart auf keinen die letzte komische. So verstecken sich in A.s Werk, Fall mehr fassen: »Wer eine spezielle literarische der insofern mitnichten der eigensinnige Eigen- Form pflegt, mag er auch noch so ideologische brötler ist, als der er erscheint, Chiffren der deut- Fassadenpflege betreiben, dient dem blockhaften schen Geistesgeschichte. Das Inzestmotiv lässt sich politischen System. Jeder Roman ist eine totale bis zu Wieland zurückverfolgen. Er wiederbelebt politische Institution.« Die Grundform A.s ist der historisch vorhandene Protestenergie gegen die Assoziationsstrom, der aber als Naturform der Traumata des geschichtlich Gewordenen: »Denn Phantasie, nicht als Kunst bezeichnet werden das Individuum ist der Sinn der Geschichte und muss. Sein Realismus besteht gerade darin, ein ihr Ende zugleich.« Achternbusch 4 Die Aufmerksamkeit, die den Filmen und Bü- ist. Und zu keiner Zeit kommt für A. eines in chern A.s in den 1960er, 70er und teilweise 80er Frage, das nicht den Widerstand in Sprache um- Jahren zuteil geworden ist, bricht infolge der Kom- setzt und in ihr aufzeigt: »Sie ist, wenn sie da ist, merzialisierung der Filmlandschaft und des kon- das Engagement selbst«. servativen öffentlichen Klimas in den 90ern ab, »Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht obwohl A. unverdrossen weiter Filme produziert mehr«, beginnt die Titelerzählung des Bandes (bisher knapp 30), Bücher schreibt und Bilder Schlechte Wörter(1976), die eine grimmig-melan- malt. Allein im Jahr 2003 veröffentlichte A. vier cholische Demonstration der poetischen Autono- Bücher: Guten Morgen!, Schnekidus, Liebesbrief mie, ein Plädoyer für die definierende Sprache ist und Mein Vater heißt Dionysos. 1993 zeigte die (»Definieren« grenzt an »Unterhöhlen«), für eine, ARD eine Retrospektive seiner Filme, 1994 wird er die den »ausreichenden Devisen« und allen Kon- in die Bayrische Akademie der Schönen Künste ventionen apodiktisch entrissen wird. A. hat meh- aufgenommen. Der österreichische Verlag Biblio- rere poetologische Texte geschrieben. Einer davon, thek der Provinz hat inzwischen 19 neue Titel Meine Sprache und ich(1978), hat den Titel abge- sowie vier Bände einer Gesamtausgabe A.s he- geben für die Taschenbuchausgabe der gesammel- rausgebracht. ten Erzählungen, 1978; darin findet sich auch Der Querbalken, von Wolfgang Hildesheimer als Werkausgabe: Gesamtausgabe. Bisher 4 Bände. Weitra Schlüsseltext der Literatur der Moderne interpre- 2000ff. Literatur: Gass, Barbara: Herbert Achternbusch. Foto- tiert. Diese Texte berichten alle erzählerisch, kei- grafien aus 25 Jahren. Heidelberg 1999; Jansen, Peter W./ neswegs theoretisierend, vom schwierigen Umgang Schütte, Wolfram (Hg.): Herbert Achternbusch. Mün- mit der Sprache und mit der Welt, die sich in ihr chen/Wien 1984; Drews, Jörg (Hg.): Herbert Achtern- spiegelt. busch, Materialienband. Frankfurt a.M. 1982. Ihr erstes Buch, den Roman Die größere Hoff- Rainer Stollmann nung(1948), begann A. zu schreiben, um darüber zu berichten, »wie es war«. Sie hatte die Jahre des Kriegs und der Naziherrschaft in Wien verlebt und Aichinger, Ilse musste als Halbjüdin (vor allem aber ihre jüdische Mutter) ständig mit der Deportation rechnen. Geb. 1. 11. 1921 in Wien Diese dokumentarische, historische, autobiogra- phische Realität wird verwandelt in eine poetische. Ein »zartes, vielgeliebtes Wunderkind« war – Einmal dadurch, dass A. weder den Schauplatz so erinnert sich der Kritiker Joachim Kaiser noch noch die Verfolger und die Opfer benennt. Vor 1980 – A. für die Mitglieder der legendären allem aber durch eine kühne, expressive Bilder- Gruppe 47, als sie (ab 1951) an deren Tagungen sprache, die nicht nur mit der damals zur Wahr- teilzunehmen begann und 1952 für die Spiegel- heitsfindung für unverzichtbar gehaltenen »Kahl- geschichte ihren Preis erhielt. Einer aus der schlag«-Sprache nichts gemein hat, sondern auch Gruppe, der Lyriker und Hörspielautor Günter innerhalb von A.s übrigem Werk einzig dasteht. Eich, wurde A.s Mann. Von ihm, sagt sie nach Die Verwandlung überhöht oder schließt den rea- seinem Tod, habe sie ein Engagement gelernt, das len Schrecken keineswegs aus, aber sie konfrontiert über das politische hinausging, »ein Engagement ihn radikal mit einer durch ihn nicht einzuholen- gegen das ganze Dasein überhaupt«. »Ich lasse mir den poetischen Gegenwelt. In dieser Gegenwelt die Welt nicht bieten«, hat sie ein andermal gesagt lebt eine Gruppe verfolgter Kinder und Halb- und ihren Widerstand gegen politische Systeme, wüchsiger spielerisch und – buchstäblich! – spie- Macht und Machtträger (»die Gekaderten«) im- lend den Widerstand und die Verweigerung: Im mer schon verstanden »nur als Teil eines größeren Kapitel »Das große Spiel« führen sie ein Theater- Widerstandes, dem die Natur nicht natürlich er- stück auf; sie spielen es so intensiv, dass ein »Hä- scheint, für den es den Satz ›weil es so ist‹ nicht scher« von der »Geheimen Polizei«, der die Kinder gibt«. Der so umfassend und grundsätzlich defi- abholen soll, seinen Auftrag vergisst und sich in nierte Widerstand (A.s »biologische Revolte, Anar- das Spiel einbeziehen lässt. Die fünfzehnjährige chie«) schließt ein Schreiben aus, das von einer Ellen, die sich der Gruppe angeschlossen hat, ob- vorgegebenen Welt und Wirklichkeit ausgeht und wohl sie »zwei falsche Großeltern zu wenig« habe, einem Programm oder einer Ideologie verpflichtet kommt dabei zu der Erkenntnis, dass die »große

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