JOSEF RATTNER ÍHrsg.) Menschenkenntnis durch Charakterkunde Hoffmann und Campe CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Menschenkenntnis und Charakterkunde / Josef Rattner (Hrsg.). - i. Aufl. - Hamburg: Hoffmann und Campe, 1983. ISBN 3-4^-08725-6 NE: Rattner, Josef [Hrsg.] < '.«ipyri^ht © 1983 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Si lmi/.imischlaggestaltung: Jan Buchholz und Reni Hinsch Stil/ hiiosat/. ()tto Gutfreund, Darmstadt I >1 in K inn! Iliiulcarbeitcn: Richterdruck, Würzburg l'i imcil in (¡ermany Inhalt Vorwort 7 Josef Rattner Zur Theorie des Charakters 9 Josef Rattner Ehrgeiz 34 Roswitha Neiß Eitelkeit 57 Josef Rattner 110 Geiz 85 Wolfgang Köppe Eifersucht 133 Irmgard Fuchs Neid Katja Kaminski/Martin Bauknecht Wut und Zorn 157 Josef Rattner Haß 184 Günther Köhnlein/Riidiger Schlott Angst 209 Günter Keesen/Bernd Strauß Melancholie, Schwermut und Traurigkeit 235 Elke A. Pilz Schüchternheit 2 62 Richard Hitzler/Ulrike von Saalfeld-Urbasek Bequemlichkeit und Riesenerwartungen 282 Gert Janssen Der Zwangscharakter 308 Klaus Ohm Freude 337 Josef Rattner Liebe 362 Anmerkungen 386 Literaturhinweise 392 Autoren 403 Register 406 Vorwort Die Beschreibung des Charakters war jahrhundertelang die Aufgabe der schönen Literatur; vor allem in der Theaterlitera- tur, aber auch in Romanen wurden Charaktereigenschaften oft sehr kenntnisreich, aber natürlich ohne wissenschaftliche Ver- tiefung dargestellt. Erst die moderne Charakterologie schuf eine Wissenschaft von der Wesensbeschaffenheit des Men- schen, die durch Erziehung und Umwelt, durch Selbstgestal- tung und Fremdbeeinflussung entsteht. Tiefenpsychologisches und phänomenologisches Bemühen um Verständnis erweiter- ten unsere charakterologischen Einsichten, ohne die heute Selbst- erkenntnis und Menschenkenntnis kaum vorstellbar sind. Das vorliegende Buch soll jene Struktureigentümlichkeiten der menschlichen Persönlichkeit durchleuchten, die meist nur im Bereich des Gefühls und der Ahnung verbleiben und daher im Alltag nicht fruchtbar gemacht werden können. Wir sind hierbei vom psychotherapeutischen Erfahrungsfeld ausgegangen und haben in erster Linie Charakterzüge berück- sichtigt, die in neurotischen und psychosomatischen Störun- gen, aber auch in Verhaltensanomalien des Alltagslebens eine ganz entscheidende Rolle spielen. Daher setzt dieser Band ein mit Analysen des Ehrgeizes, der Eitelkeit, des Geizes, des Neides, der Eifersucht, des Hasses, der Wut und des Zorns, der Trauer, der Schüchternheit usw. Um uns aber nicht auf die psychische Pathologie zu beschränken, haben wir auch Cha- raktereigenschaften wie Liebe und Freude dargestellt. So möch- ten wir durch Beschreibung wichtiger menschlicher Wesens- und Verhaltensmerkmale das Sensoriuin des Lesers für die Selbst- und Menschenkenntnis verfeinern und ihm die Gelegen- heit geben, anhand der vorliegenden Charakterstudien die Kunst des tiefenpsychologischen Denkens und Urteilens zu lernen. Uberall haben wir den Nutzen für die Lebenspraxis höher gestellt als die rein theoretische Stringenz: Unser Text ist 7 kein Lehrbuch für den Liebhaber wissenschaftlicher Abstrak- tion, sondern ein Handbuch für den interessierten Laien oder >Lebensforscher<, der durch die Psychologie >Lebenskenntnis< und ein bißchen >Weisheit< erwerben will. - In Kürze wird diesem Band ein Buch mit dem Titel >Neurosenlehre< folgen, worin wir die grundlegenden Neurosenformen erläutern und verständlich machen wollen. Berlin, im Herbst 1982 Josef Rattner 8 Josef Rattner Zur Theorie des Charakters Die Charakterologie ist eine Wissenschaft, deren Wurzeln tief in die Vergangenheit hinabreichen. Schon in der griechischen Antike gab es gedankliche Systeme, die die Vielfalt menschli- cher Verhaltensweisen auf einige Grundtypen zu reduzieren versuchten. Bekannt ist die Lehre von den >vier Temperamen- ten<, die schon Hippokrates (460-377 v. Chr.) vertreten hat. Danach unterscheiden sich die Menschen je nach den >Körper- säften< (humores), die in ihnen besonders wirksam sind. Im Sanguiniker ist die Blutfülle auffällig; im Choleriker erzeugt die >gelbe Galle« heftige und leidenschaftliche Reaktionen; der Me- lancholiker wird bestimmt durch ein Ubermaß an >schwarzer Galle<; der Phlegmatiker schließlich ist >schleimig< und daher träge und unansprechbar. Sehr hübsch wird die Wesensart der vier Typen veranschaulicht durch die Geschichte, in der jeder von ihnen einen Spaziergang machen will und auf seinem Wege einen großen Stein als Hindernis vorfindet. Der Sanguiniker setzt mit einem lebhaften Sprung über den Steinblock hinweg und wandert munter wei- ter. Der Choleriker gerät in Wut und Zorn, weil er sich wieder einmal bei seinen Unternehmungen gestört fühlt: er schleudert den Stein beiseite und hat für längere Zeit die gute Laune verloren. Der Melancholiker bleibt stehen, verfällt auf traurige Gedanken, die sich dahingehend verdichten, daß in seinem Leben noch nie etwas >reibungslos< verlaufen ist: er gibt sich seiner Trübsal hin und setzt sich bekümmert am Wegrand nieder. Der Phlegmatiker jedoch fand schon zu Hause das Aufstehen und Weggehen reichlich mühsam; beim Anblick des Steins wird ihm alles zuviel, und er kehrt in seine Wohnung zurück, um sich wieder ins Bett zu legen. Dieses etwas grobe Schema wurde von dem Philosophen Theo- phrast (372-287 v. Chr.), einem Schüler des Aristoteles, we- sentlich verfeinert. Von ihm stammt die heute noch lesenswerte 9 Schrift über >Die Cbaraktere<, die viele Bewunderer und Nach- ahmer gefunden hat. Theophrast war ein scharfer Beobachter der Menschen, die er in seinem Büchlein sehr treffend be- schrieb. So handelt er einzelne Charaktertypen in kurzen Auf- sätzen ab, z.B. den Geizhals, den Aufschneider, den Angstli- chen usw. Noch der Franzose Jean de la Bruyère (1645-1696) trat in die Fußtapfen seines antiken Vorläufers und veröffent- lichte ein ebenfalls vielgelesenes Buch mit demselben Titel. Am französischen Königshof stand die Kunst der geistreichen Men- schenbeschreibung in hohem Ansehen. Zur Zeit der Aufklärung wurden diese Bemühungen noch verstärkt. Neue >Wissenschaften vom Charakter< etablierten sich, so etwa die Physiognomik von J. C. Lavater, die Phreno- logie (Schädelkunde) von F. J. Gall und bald darauf auch die Anfänge der Graphologie. Letztere wurden systematisch durch J. H. Michon (1806-1881) begründet, der dieser Disziplin auch ihren Namen gab. Das Wort Charakterologie stammt von dem Philosophen Julius Bahnsen, der stark von Schopenhauer und Hegel geprägt war. Sein Buch mit dem gleichnamigen Titel erschien 1867. Trotz vieler feiner Beobachtungen ist sein System heute in Vergessenheit geraten, da es in einem ziemlich schwerfälligen Stil geschrieben ist. Von da an ging aber die Entwicklung der wissenschaftlichen Charakterkunde und der mit ihr verbundenen Ausdruckspsy- chologie in beschleunigtem Tempo weiter. Nachhaltige Förde- rung verdanken diese Wissenschaftszweige dem Graphologen Ludwig Klages (1872-1956), der mit seinen zahlreichen Publi- kationen das Interesse am Studium der Charakterprobleme populär machte. In den letzten Jahrzehnten ist geradezu eine Flut von Büchern über Charakterologie erschienen. Wichtig in unserem Zusam- menhang sind die Arbeiten über >Konstitutionspsychologie< (Ernst Kretschmer: >Körperbau nnd Charakter<), die psycho- analytischen, die neopsychoanalytischen und die individual- psychologischen Charakterlehren (Freud, Schultz-Hencke, Fromm, Horney, Erikson, A. Adler) und die modernen Ty- pent lieoricn (C. G. Jung, Eduard Spranger). Mit Hilfe dieser Koii/epie ist man heute in der Lage, Menschen sehr differen- 'iri 1 zu beschreiben und zu beurteilen. '»«> wertvoll die I'linde zum Charakterthema in allen Bereichen 10 der psychologischen Forschung sein mögen, sind doch unseres Erachtens die tiefenpsychologischen Gedankengänge die ein- drücklichsten und hilfreichsten zum Selbstverständnis und zur Erkenntnis des Mitmenschen. Da sie aus dem Bestreben der Hilfeleistung für seelisch gestörte Menschen stammen, sind sie lebensnah und in besonderer Weise tiefgründig. Charakter, Konstitution und Temperament Ernst Kretschmers erstmals 1921 veröffentlichte Untersuchung über 'Körperbau und Charakter< schien für die naturwissen- schaftlich-medizinische Forschung einen Zugang zum >biologi- schen< Verständnis der menschlichen Wesenseigenschaften zu eröffnen. Kretschmer war Psychiater und beobachtete in seiner Klinik, daß die beiden häufigsten >endogenen Psychosen< (das manisch-depressive Irresein und die Schizophrenie) sich be- stimmten Körperbautypen zuordnen ließen. Bei der manisch- depressiven Psychose waren rundwüchsige Menschen überre- präsentiert, die sogenannten Pykniker mit zarten Knochen und kurzen Gliedmaßen und starker Entwicklung der Körperhöh- len (Brust- und Bauchraum). Die Schizophrenie jedoch >bevor- zugte< die Dünnleibigen und Schlankgliedrigen, die sogenann- ten Leptosomen. Sodann konnte noch als Zwischentyp der sogenannte Athletiker (starker Knochenbau und kräftige Mus- kulatur) ermittelt werden. Alle drei Charaktertypen sind nach Kretschmer konstitutionell bedingt und bestimmen körperlich-seelische Krankheitsneigun- gen der betreffenden Individuen und sehr ausgeprägt auch Eigentümlichkeiten des jeweiligen Temperaments. Pykniker neigen zu einem zyklothymen Temperament^ sie unterliegen Stimmungsschwankungen (heiter-traurig usw.), sind extraver- tiert und ausdrucksfreudig. Die Leptosomen sind >schizothym< (spaltsinnig) und zeigen Züge der Introversion, der Hypersen- sibilität und der Ausdrucksarmut. Athletiker schließlich haben ein >zähflüssiges Temperamente ihr Gefühls- und Affektleben ist langsam, schwerblütig und nachhaltend. Dieses Schema reicht nach Kretschmer weit über das Gebiet der Psychopathologie hinaus; die psychiatrischen Fälle zeigen nur in einer gewissen Zuspitzung bio-psychologische Zusammen- hänge, die auch für annähernd normale Menschen Geltung besitzen. Kretschmer behauptet, seine Lehre sei von der AVeis- heit des Volkes< in wesentlichen Teilen schon vorweggenom- men worden. So kann man sich den verstiegenen und verträum- ten Ritter Don Quijote kaum anders als dünn und hoch auf- geschossen (leptosom) denken, indes sein bodenständiger, realitätsbewußter Begleiter Sancho Pansa von Zeichnern und Malern stets als dickbäuchig und eßfreudig dargestellt wird. Be- rühmt ist auch jene Textstelle aus Shakespeares >Jnlius Cäsar<, worin der Diktator den Wunsch äußert, man möge ihn mit wohlbeleibten Männern umgeben, mit glattem Kopf und dik- kem Bauch, welche nachts gut schlafen: der dünne Cassius denke zuviel und sei unberechenbar in seinen Handlungen und Verhaltensweisen! In seinem Buch >Geniale Menschen< (1929) wandte Kretschmer seine Konstitutions- und Temperamentenlehre auch auf bedeu- tende Vertreter des Kultur- und Geisteslebens an und konnte demonstrieren, daß die von ihm entdeckten Korrelationen auch für Naturforscher, Dichter und Philosophen gültig sind. So seien praktisch orientierte Naturforscher meistens Pykniker und Athleten, Philosophen und Theologen jedoch, die abstrak- te Systeme entwickeln, tendierten zur Leptosomie. Epiker, deren Werke sich durch starken Wirklichkeitssinn auszeichnen (z.B. A. Stifter, G. Keller, Goethe in seiner zweiten Lebens- hälfte usw.) sind rundwüchsige Typen, Dramatiker dagegen (Schiller, Kleist) und Lyriker (Hölderlin, Eichendorff, Heine usw.) eher schlankwüchsig. Sie weisen viele Merkmale der >Schizothymie< auf. Da Kretschmer ein glänzender Schriftsteller war und seine Denkweise dem dominierenden Biologismus der Medizin ent- sprach, wurde seine Typentheorie äußerst populär und löste beinahe eine >konstitutionspsychologische Modewelle< aus: die Anzahl der Arbeiten auf diesem Gebiet füllt ganze Bibliothe- ken! Gleichwohl muß man feststellen, daß der psychodiagno- stische Wert der Kretschmerschen Hypothese weniger groß ist, als man zuerst meinte. Die Zuordnung zwischen Körperbau und Temperament gilt nur sehr >approximativ<, und der Cha- rakter des Menschen ist schon gar nicht linear auf seinen Konstitutionstyp zurückzuführen. In diesem Sinne ist der Titel von Kretschmers Hauptwerk irreführend (>Körperbau und Charakter<) - es hätte eigentlich >Körperbau und Tempera- ment< heißen müssen! Mit dem Begriff >Temperament< bezeich-