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Meilensteine der embryologischen Forschung für das Verständnis von Entwicklungsgeschehen PDF

16 Pages·1998·1.3 MB·German
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© Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at Meilensteine der embryologischen Forschung für das Verständnis von Entwicklungsgeschehen M. G. WALZL Abstract what predetermined order is there? This question has occupied developmental bio- Milestones in Embryological Research: logists from Aristotle to the winner of the Understanding Developmental Proces- Nobel Prize for Developmental Biology of ses. 1995. More and more refined technical means, the discovery of cells as the funda- Man has always been interested in the mental structures of life, experiments and development of animated beings and the an understanding that heredity happens on emergence of the diversity of species. How a molecular basis have led to our deeper are developmental processes regulated, and insight into life processes. Einleitung Religiöse Vorstellungen, autoritär vertre- ten durch die Kirche der damaligen Zeit, Die ontogenetische und phylogenetische sowie das Fehlen guter optischer Hilfsmittel Entwicklung von Lebewesen ist ein auffallen- verhinderten jedoch eine klare Sicht der des Geschehen, das seit jeher die Aufmerk- Zusammenhänge und die richtige Interpreta- samkeit der Menschen auf sich gezogen und tion der zur damaligen Zeit bekannten biolo- auch schon zu Zeiten der vorwissenschaftli- gischen Fakten. Erst die Trennung von Kirche chen Biologie und der Ära der frühen mikro- und Staat in der Epoche der Reformation und skopischen Biologie zu bemerkenswerten phi- die fortschreitende Verbesserung des Mikro- losophischen Überlegungen und Theorien skopes gaben der Wissenschaft die Möglich- über die Prinzipien des Lebens geführt hat. So keit, sich - ab der Epoche der Aufklärung - wurde im 17. und 18. Jahrhundert ein heftiger von den alten Ideologien zu befreien und zu wissenschaftlicher Streit darüber geführt, ob neuen, noch heute gültigen, Erkenntnissen zu sich aus einer homogenen Materie (primordi- gelangen. um, Ei) allmählich die späteren Organe her- ausdifferenzieren oder ob alle Körperteile Zu den grundlegenden Fragen der Biologie Stapfia 56, bereits winzig klein vorgebildet (präformiert) zählen auch heute noch die Fragen über Ver- zugleich Kataloge des OÖ. Landes- sind und erst durch ihr Wachstum sichtbar änderungen während der Lebensspanne eines museums, Neue Folge Nr. 131 (1998), werden. Lebewesens (Ontogenie) und die Entstehung 131-146 131 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at der Vielfalt der Arten von Lebewesen (Phylo- ke (KRUMBIEGEL 1957, FREUND et al. 1963, genie). Die bisher gefundenen Antworten auf OPPENHEIMER 1967, MÜLLER 1975, CREMER diese Fragen sind von basaler Bedeutung für 1985, HORDER et al. 1985, JAHN et al. 1985, den Wissenschaftszweig der Biologie, denn sie MOORE 1987, NAGL 1987, JAHN 1990, Nüs- sind die Schlüssel für die Aufklärung des SLEIN-VOLHARD 1990, SANDER 1990) und Wunders „Leben". Lehrbücher der Entwicklungsgeschichte Ebenso reizvoll wie sich mit der Auf- (MÜLLER 1995, GILBERT 1997, GILBERT & klärung dieser Wunder auseinanderzusetzen, RAUNIO 1997, WOLPERT et al. 1998 ) ver- ist es jedoch auch aus historischer Sicht die Wege und Irrwege bis zu den richtigen Ant- worten zu verfolgen. Dabei werden viele Ver- netzungen und gegenseitige Beeinflussungen Die Ursprünge der Embryologie offenbar und die häufigen Umwege zu den und die Epigenese- und Präforma- richtigen Antworten erst verständlich. Die tionproblematik Entwicklung der Lebewesen, von der befruchteten Eizelle bis zum vielzelligen, oft Die Wissenschaft der embryologischen hochdifferenzierten Tier, das selbst wieder Forschung begann im 4. Jahrhundert vor Geschlechtszellen hervorbringen kann, ist das Christus, also vor mehr als 2000 Jahren, bei Thema der Embryologie. Heute decken den Griechen, als der Philosoph und Natur- embryologische Fragestellungen jedoch nur forscher ARISTOTELES (384-322 v.Chr.) eine ein Teilgebiet der viel umfassenderen Wissen- Frage formulierte, die bis zum Ende des 19. schaftsdisziplin Entwicklungsbiologie ab, die Jahrhunderts in Europa die Denkweise über sich unter anderem mit so grundlegenden Pro- Entwicklung beherrschte. blemen wie Altern, Krankheit und Sterben auseinandersetzt und daher das besondere ARISTOTELES zog aufgrund von Beobach- Interesse der modernen Forschung gefunden tungen bei Hühnereiern und daraus abgeleite- hat, weil man, bezogen auf den Menschen, ten Überlegungen zwei Möglichkeiten in hofft, damit den „ewigen Jungbrunnen" zu fin- Betracht, wie die verschiedenen Teile des den. Durch moderne, erst in den letzten Jah- Embryos gebildet werden können. Eine Mög- ren entwickelte Techniken der Genetik und lichkeit ist, daß im Embryo alle Teile von Molekularbiologie wird den Menschen in die- Beginn an vorgebildet sind und während der ser Hinsicht durch die Entwicklungsbiologie Entwicklung einfach nur größer werden, die einige Hoffnung gemacht, die jedoch ob der andere, daß fortlaufend neue Strukturen ent- sich abzeichnenden zukünftigen unbegrenzten stehen, ein Prozess, den er Epigenese (= Möglichkeiten an Manipulationen bereits in Umbildung) bezeichnete, was er mit einer Unbehagen oder sogar Angst umschlägt. Metapher „wie das Knüpfen eines Netzes" beschrieb. ARISTOTELES favorisierte die Epige- Da eine komplette historische Abhand- nesehypothese, die besagt, daß Embryonen lung der vielschichtigen wissenschaftlichen nicht winzig klein, komplett vorgefertigt, im Ansätze in der embryologischen Forschung Ei enthalten sind, sondern daß sich deren den Rahmen dieses Beitrags um ein Vielfaches Form und Struktur im heranreifenden Embryo sprengen würde, sollen hier nur einige wenige, stufenweise entwickelt. Diese Vermutung war, jedoch einschneidende Quantensprünge des wie wir heute wissen, richtig. Verständnisses von Entwicklungsgeschehen besprochen werden. Im Bewußtsein, daß eine Die der Epigenese gegenteilige Ansicht, geraffte allzu plakative Darstellung die histori- nämlich, daß der Embryo von Anbeginn an schen Begebenheiten verfälschen oder eine vorgefertigt ist, wurde im späten 17. Jahrhun- falsche Vorstellung von den meist in unzähli- dert erneut verfochten. Die meisten Forscher gen kleinen Einzelschritten erarbeiteten konnten nicht glauben, daß physikalische Ideen und wissenschaftlichen Ergebnissen oder chemische Kräfte ein Wesen, wie es ein hervorrufen kann, sei der besonders interes- Embryo ist, formen könnten. Gemäß dem in sierte Leser auf einige zusammenfassende und jener Zeit vorherrschenden Glauben über die umfangreichere wissenschaftshistorische Wer- göttliche Erschaffung der Welt und aller 132 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at lebenden Dinge, glaubten sie, daß alle sophische, Streit um epigenetische oder prä- Embryonen von Anbeginn an existiert haben formierte Entwicklung der Organismen zu kei- und daß der erste Embryo einer Art alle nem endgültigen Ergebnis führte, da die zur zukünftigen Embryonen in sich haben müßte. Klärung der Streitfrage benötigten Werkzeuge Sogar der brilliante italienische Embryolo- nicht vorhanden waren oder die vorhandenen ge des 17. Jahrhunderts, Marcello MALP1GH1 von den anerkannten Wissenschaftlern der (1628-1694), konnte sich von dieser Präfor- damaligen Zeit aus Voreingenommenheit mationsidee nicht befreien. Obwohl er eine nicht voll genutzt wurden. Instrumente, die bemerkenswert genaue Beschreibung der Ent- der Vergrößerung von Gegenständen dienten, wicklung des Hühnerembryos gab, blieb er, waren zwar schon lange bekannt, doch wurden entgegen den Tatsachen seiner eigenen Beob- sie in der biologischen Forschung - unter achtungen, überzeugt, daß der Embryo vom anderem auch aufgrund ihrer geringen Qua- Anbeginn an voll entwickelt vorhanden ist. lität - nur zögernd eingesetzt. Er argumentierte, daß in sehr frühen Stadien Über den Erfinder des Mikroskopes sind die Teile so klein sind, daß sie sogar mit sei- sich die wissenschaftshistorischen Autoren im nem besten Mikroskop nicht aufgelöst werden unklaren, und bereits 1689 schreibt Pater können. Andere Präformisten glaubten wie- Filippo BUONANNI, daß es nicht mehr so ein- derum, daß das Spermium den Embryo enthält fach zu sagen ist, wer der erste Erfinder des und einige waren sogar davon überzeugt, Mikroskopes war. Fest steht, daß Johannes einen kleinen Menschen - einen homunculus FABER von Bamberg 1624 das Wort „Mikro- - im Kopf des Spermiums zu sehen. skop" in Analogie zum Begriff „Teleskop" erst- mals verwendete. Zu den Urhebern der Mikro- William HARVEY (1578-1657), ein engli- skopie werden unter anderem der bereits scher Arzt, der auch intensive Forschungen an erwähnte italienische Mediziner und Natur- Hühnereiern durchführte, vertrat dagegen in wissenschafter Marcello MALPIGHI, der nieder- seiner 1651 veröffentlichten Arbeit „Exercita- ländische Tuchhändler und Autodidakt Anto- tiones de generatione animalium" (Übungen ni van LEEUWENHOEK (1632-1723) und der über die Erzeugung der Tiere) epigenetische englische Physiker und Naturforscher Robert Vorstellungen, nämlich, daß sich sämtliche HOOKE (1635-1703) gezählt, sowie der deut- Tiere, auch solche, die lebende Junge gebären, sche Kapuzinermönch und erste Mikrotechni- der Mensch inbegriffen, aus Eiern entwickeln, ker Johann Franz GR1ENDEL von Ach und daß die Bildung des Embryos aus der (1631-1687), der den Ausspruch „Mit dem ungeformten Grundsubstanz des Eies durch Mikroskop kann man aus einer Mücke einen ein allgegenwärtiges formendes Prinzip „ob Elephanten machen" tätigte. Gott, Natur oder Seele genannt" geschieht und daß ein „göttlicher Architekt" am Werk Die Mikroskope des 17. und 18. Jahrhun- ist. derts bestachen eher durch ihre Eleganz, als Die Präformationsfrage und die vitalisti- durch ihre optische Qualität und wurden schen Erklärungsweisen der Epigenese waren bevorzugt in Salons zur Ergötzung eingesetzt, während des 18. Jahrhunderts Gegenstand denn als wissenschaftliche Instrumente eines heftigen wissenschaftlichen Streites, genutzt. Erst im 19. Jahrhundert zeichnete und das Problem konnte solange nicht gelöst sich eine Wende ab. Es wurden viele mecha- werden, bis einer der großen Fortschritte der nische und optische Verbesserungen an den Biologie stattgefunden hatte - die Erkenntnis, Mikroskopen durchgeführt. Die Mikroskopie daß Lebewesen und damit auch Embryonen verließ den Bereich der Liebhaberei und wur- aus Zellen bestehen. de zu einem Instrument der Wissenschaft, wie die zahlreichen Werke, die über das Mikro- skop und mikroskopische Techniken heraus- Jede Wissenschaft braucht ihre gegeben wurden, bezeugen. Werkzeuge Die Zentren, in denen die großen Fort- Es ist nicht verwunderlich, daß der sehr schritte in Bezug auf den Mikroskopbau emotionell geführte, in erster Linie philo- getätigt wurden, waren in Europa Paris, Lon- 133 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at don, Berlin und auch Wien, wo der Mikro- erfassen. Heute zählen Fluoreszenzmikrosko- skopbauer Simon PLÖSSL (1794-1868) Geräte pie, Immunhistochemie, und Videomikrosko- bester Güte herstellte. pie zu den wichtigsten Untersuchungstechni- Der Leiter des Optischen Institutes in ken in der Entwicklungsbiologie. Seit etwa 20 Benediktbeuren, Joseph von FRAUNHOFER Jahren ist es auch möglich, mittels Interfe- (1787-1826), entwickelte die ersten wirklich renzkontrastmikroskopie und konfokaler achromatischen, für das Mikroskop verwend- Laserscanning-Mikroskopie, bei der mono- baren Linsen und sorgte so für die erste große chromatisches Licht verwendet wird, Bewe- technische Neuerung dieses Instrumentes. gungsabläufe und die dreidimensionale Orga- Die zweite technische Neuerung war das nisation von Embryonen - ohne sie schneiden Ergebnis einer Zusammenarbeit des Mechani- zu müssen - zu untersuchen. kers und Mikroskopbauers Carl ZEISS (1816- 1888) mit dem Physiker und Mathematiker Ernst ABBE (1840-1905), die zum Bau von Die Rolle der Spermien im Ent- Mikroskopen bester Güte mit genau berech- wicklungsgeschehen neten Linsensystemen führte. Die nun erzeug- ten Qualitätsmikroskope und die von August Ein sehr anschauliches Beispiel für den KÖHLER (1866-1948) eingeführte mikroskopi- Zusammenhang zwischen Verbesserung der sche Beleuchtungseinrichtung führten zu Mikroskope und Erkenntnisgewinn zeigt die einer ersten großen Blüte der mikroskopi- Erforschung der Rolle von Spermienzellen schen Untersuchungen, zur Entwicklung aus- beim Entwicklungsgeschehen. Denn erst seit geklügelter Präpariermethoden sowie histolo- dem letzten Jahrhundert ist die Rolle, die das gischer Techniken und damit zu fundamenta- Spermium bei der Befruchtung spielt, len neuen Erkenntnissen in Bezug auf das Ent- bekannt. Anton van LEEUWENHOEK, der 1678 wicklungsgeschehen bei Tieren und Pflanzen. das erste Mal Spermien entdeckte, hielt sie anfangs für Parasiten, die in der Samenflüssig- Die Anwendung des Hellfeld-Mikroskops keit leben und gab ihnen daher den Namen in der klassischen Periode der mikroskopi- Spermatozoa (Spermientiere). Zuerst nahm er schen Forschung beschränkte sich jedoch im an, daß sie nichts mit der Vermehrung der wesentlichen auf die Beurteilung des stati- Organismen zu tun haben, in denen sie gefun- schen Zustandes von fixiertem und gefärbtem den wurden, doch später glaubte er, daß jedes Untersuchungsmaterial aus abgetöteten Spermium ein präformiertes Tier enthalte. Objekten. Erst die Entwicklung von Phasen- 1685 schrieb LEEUWENHOEK, daß das Sperma kontrast-, Interferenzkontrast- und Fluores- der Keim ist und daß das Weibchen nur den zenzmikroskopischen Verfahren, zusammen Nährboden liefert, in den das Spermium mit der Entwicklung von Mikromanipulato- gepflanzt wird. In dieser Hinsicht kehrte er zu ren und dem umgekehrten Mikroskop, ermög- einer Anschauung über Fortpflanzung zurück, lichten in diesem Jahrhundert einen immer die schon 2000 Jahre vorher von ARISTOTELES tieferen Einblick in das dynamische Gesche- verbreitet wurde. Trotz größter Anstrengung hen lebender Systeme. Dabei kommt der von bei der Suche nach dem präformierten Keim Max HAITINGER (1868-1946) entwickelten war LEEUWENHOEK enttäuscht, daß er ihn in Technik der Fluoreszenzmikroskopie aufgrund den Spermatozoen nicht finden konnte. der hohen Nachweisempfindlichkeit von in Nicolas HARTSOEKER, der andere Mitent- Spuren vorliegenden fluoreszierenden Sub- decker der Spermien, zeichnet dafür, was er im stanzen eine besondere Bedeutung zu, da mit menschlichen Spermium zu entdecken hoffte: den in den letzten Jahren entwickelten Ver- einen vorgefertigten Menschen („hranmcu- fahren der mikroskopisch feststellbaren Kop- lus"). Der Glaube, daß die Spermien den pelung von bestimmten Fluorochromen mit gesamten ausgebildeten Organismus enthal- Stoffen, die innerhalb des tierischen und ten, wurde jedoch niemals voll akzeptiert, da menschlichen Körpers als Antigene wirken, dies ja ein enormes Vergeuden von potentiel- Möglichkeiten geschaffen wurden, den Ein- lem Leben beinhaltet hätte. Daher waren die bau organischer Substanzen in die Zellen mit- meisten Forscher der Ansicht, daß Spermien tels eines sichtbaren Markierungsmittels zu 134 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at für das Entwicklungsgeschehen unwichtig sei- (1849-1922) und der Franzose Herman FOL en. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat (1845-1S92) unabhängig voneinander das Lazzaro SPALANZANI (1729-1799) in einer Eindringen eines Spermiums in ein Ei und die Serie von Experimenten gezeigt, daß gefilterte Vereinigung der Zellkerne sahen. HERTWIG Samenflüssigkeit von Kröten, die keine Sper- hatte ein für detaillierte mikroskopische mien enthielt, die Eier nicht befruchtete. Er Untersuchungen geeignetes Objekt gesucht schloß daraus jedoch, daß die viskose Flüssig- und ein perfektes im mediterranen Seeigel keit, die vom Filterpapier zurückgehalten wur- Toxopneustes lividus gefunden. Dieser kommt de, und nicht die Spermien das Agens für die häufig vor und ist die meiste Zeit des Jahres Befruchtung waren. Auch er war der Ansicht, geschlechtsreif, Eier sind in großer Zahl vor- daß die Spermientiere eindeutig Parasiten handen und sogar bei großer Vergrößerung sind. Trotz dieses Irrtums gaben die Versuche durchsichtig. Nach Vermischen von Spermien jedoch die ersten Hinweise auf ihre Bedeu- mit einer Eisuspension sind der Spermienein- tung. tritt in Eier und die Vereinigung der beiden Erst bessere Linsen der Mikroskope und Zellkerne im Mikroskop gut zu beobachten. die Zelltheorie führten zu einer neuen Ein- HERTWIG machte auch andere wichtige Beob- schätzung der Funktion der Spermien. Im Jahr achtungen, zum Beispiel, daß nur ein Spermi- 1824 behaupteten der Schweizer Mediziner um in jedes Ei eindringt und daß die Zellkerne Jean Luis PREVOST (1790-1850) und der der Embryonen aus den bei der Befruchtung Schweizer Chemiker Jean Baptiste DUMAS verschmolzenen Kernen entstehen. (1800-1884), daß die Spermien keine Parasi- Damit wurde erstmals die Notwendigkeit ten sind, sondern die aktiven Betreiber der einer Befruchtung bei der sexuellen Vermeh- Befruchtung. Sie bemerkten das universelle rung erkannt. Vorhandensein von Spermien in geschlechts- reifen Tieren und ihr Fehlen in unreifen und alten Tieren. Diese Beobachtungen und das Die Zelltheorie als Voraussetzung ihnen bekannte Fehlen der Spermien bei ste- für das Verständnis der Embryo- rilen Maultieren brachten sie zur Überzeu- nalentwicklung gung, daß es eine innige Beziehung zwischen ihrem Vorkommen in den Geschlechtsorga- Die Entwicklung von mikroskopischen nen und der Vermehrungsfähigkeit eines Tie- Hilfsmitteln und die damit verbundene res gibt. Sie nahmen an, daß Spermien genauere Sichtweise führte zu grundlegend tatsächlich in Eier eindringen und einen neuen Erkenntnissen bezüglich der für materiellen Beitrag für die nächste Generati- Lebensprozesse wichtigen Strukturen, den on leisten müssen. Diese Behauptungen blie- Zellen. Im Jahr 1831 beschrieb der englische ben jedoch bis nach 1840 unbeachtet, als Botaniker Robert BROWN (1773-1858) eine Rudolf A. von KÖLLIKER (1817-1905) die annähernd runde „areola", die auffällig kon- Spermienbildung aus Hodenzellen beschrieb. stant in allen Zellen vorkommt. Er taufte die- Er kam zum Schluß, daß Spermien stark modi- se Entdeckung „nucleus of the cell" (Zell- fizierte Zellen aus den Hoden von geschlechts- kern), ließ sich jedoch auf keine Spekulati- reifen Männchen sind und führte die Idee ad onen über die mögliche Bedeutung ein. Doch absurdum, daß die Samenflüssigkeit einer Robert BROWN hatte den Zellkern entdeckt. enormen Anzahl von Parasiten als Lebens- Der deutsche Botaniker Mathias Jacob raum dienen könne. KÖLLIKER verneinte SCHLEIDEN (1804-1881) war der erste, der dar- jedoch einen physischen Kontakt zwischen über eine genaue Meinung entwickelte. Er Spermien und Eiern. Er glaubte, daß Spermien stellte 1838 eine Theorie zur Bildung der ein Ei nur zur Entwicklung anregten, ähnlich Pflanzenzelle auf, die dem Zellkern eine zen- wie ein Magnet in Gegenwart von Eisen auf trale Rolle in diesem Bildungsprozess zuwies. dieses reagiert, und interpretierte so seine Die Bildung von Zellen aus dem Zellkern, so richtigen Befunde mit der falschen vitalisti- wie SCHLEIDEN sie sah, war jedoch, wie wir schen Anschauung. Dieser Irrtum wurde 1876 heute wissen, falsch. Von den Arbeiten widerlegt, als der Deutsche Oskar HERTWIG SCHLEIDENS angeregt, untersuchte der Physio- 135 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at löge Theodor SCHWANN (1810-1882) Tiere Strukturen, 1888 vom Mediziner Wilhelm und wies nach, daß bei aller Komplexität der von WALDEYER (1836-1921) als Chromoso- verschiedenen Gewebe sie ebenso wie Pflan- men bezeichnet, und die Entdeckung des zen aus Zellen aufgebaut sind. deutschen Zoologen Theodor BOVERI (1862- Damit gelang es ihm mit einem Schlag, 1915), daß die Chromosomen verschiedene den „innigsten Zusammenhang beider Reiche Qualitäten besitzen (Theorie der Chromoso- der organischen Natur" nachzuweisen und menindividualität) leiteten die klassische Ära den grundlegenden Irrtum von SCHLEIDEN der Vererbungsforschung ein. Thomas Harri- dahingehend zu korrigieren, daß Zellen aus son MONTGOMERY (1873-1912) erkannte, daß Zellen entstehen und nicht in Zellen. bestimmte Chromosomen in Ei- und Sperma- SCHWANNS 1839 erschienene epochemachen- kernen einander morphologisch entsprechen, de Arbeit „Mikroskopische Untersuchungen und er beobachtete deren Teilung während über die Übereinstimmung in der Struktur der Meiose (= Reduktionsteilung). Der Höhe- und dem Wachstum der Tiere und Pflanzen" punkt dieser Forschungsrichtung war gegen formulierte die Grundlagen der Zelltheorie Ende des 19. Jahrhunderts der Beweis, daß die oder - besser gesagt - Zeilbildungstheorie, die Chromosomen im Kern der Zygote heute in abgewandelter und erweiterter Form (befruchtetes Ei) in gleicher Anzahl von den das wichtigste Theorem der modernen Biolo- 2 Elternkernen herstammen. Dies lieferte die gie darstellt und das Forschungsgebiet der physische Grundlage zur Bestätigung der Zytologie begründete. Die Zelltheorie war der Übertragung genetischer Merkmale gemäß größte Fortschritt der Biologie und hatte eine den Regeln, die der österreichische Botaniker enorme Auswirkung. Es wurde erkannt, daß und Mönch Gregor MENDEL schon vorher auf- alle Lebewesen aus Zellen, den basalen Ein- gestellt hatte. Man fand heraus, daß in soma- heiten des Lebens, bestehen und diese nur tischen Zellen eine für jede Art konstante durch Teilung aus anderen Zellen entstehen Chromosomenzahl von Generation zu Gene- können, was der deutsche Arzt Rudolf ration weitergegeben wird, daß die diploiden VlRCHOV (1821-1902) im Jahre 1885 so tref- Vorläufer der Keimzellen zwei Kopien eines fend mit „omnis cellula e cellula" formulierte. jeden Chromosoms, eine mütterliche und Vielzellige Organismen, wie Tiere und Pflan- eine väterliche, enthalten und die Chromso- zen, sind also von Vorläuferzellen abstammen- menzahl während der Bildung der Keimzellen de Zellgemeinschaften, und eine Embryonal- (Gameten) halbiert wird, sodaß jede haploide entwicklung kann daher nicht auf Präformati- (mit einem einfachen Chromsomensatz) on basieren, sondern muß epigenetisch erfol- Keimzelle nur eine Kopie eines jeden Chro- gen, weil, ausgehend vom Ei - einer einzel- mosoms enthält. Bei der Befruchtung wird nen, jedoch speziellen Zelle - durch Zelltei- dann die diploide Anzahl wieder hergestellt. lungen viele neue Zellen und unterschiedli- Damit war die Chromosomentheorie der Ver- che Zelltypen gebildet werden. erbung geboren und wurde zum Fundament des Forschungsgebietes Genetik. Die Arbeiten HERTWICS und anderer For- scher mit Seeigeleiern haben gezeigt, daß das Ei nach der Befruchtung zwei Zellkerne ent- hält, die aufeinander zuwandern, dann ver- Deutschland, das Mutterland der schwinden und später einen größeren Zell- embryologischen Forschung kern bilden. Bei der Befruchtung entsteht also ein Ei mit einem Kern aus Anteilen von bei- Schon bei oberflächlicher Betrachtung den Eltern, woraus geschlossen wurde, daß der der Literatur fällt auf, daß ein wesentlicher Zellkern die physische Grundlage für die Ver- Teil der ercbryo'.cgischen Foschimg ab der erbung enthalten mußte. HERWIG sah außer- Mine des vorigen bis zu Beginn dieses Jahr- dem, daß sich der Kem im Verlauf der nach- hunderts von deutschen Forschem (besonders folgenden Teilungen in merkwürdiger Weise aus Berlin, Göttingen, Jena und Würzburg) umformt und dabei eine „Anzahl dunkler, geschrieben und in Deutschland der Nährbo- geronnener, in Karmin stärker gefärbter Fäden den für nahezu alle bedeutenden Ideen, die oder Stäbchen zu erkennen sind". Diese Embryologie betreffend, gelegt wurde. Aus- 136 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at gelöst wurde dieser Aufschwung jedoch in Embryo zuerst die Eigenschaften des Typus England durch die Abstammungslehre (Des- zeigt, zu dem er gehört, dann die der Klasse, zendenztheorie) von Charles DARWIN (1808- Ordnung, Familie, Gattung, bis endlich die 1892), die in Deutschland in Ernst HAECKEL individuellen Eigenschaften zum Vorschein (1843-1919) einen wortgewaltigen Fürspre- kommen. Der Embryo eines Huhnes ist also cher fand, der für ihre rasche und allgemeine zuerst Wirbeltier, dann Vogel, dann Landvo- Verbreitung sorgte. Das von HAECKEL 1866 in gel, Hühnervogel, Hühnchen, Henne oder seinem Werk „Generelle Morphologie der Hahn einer bestimmten Farbe. Die Entwick- Organismen" sehr eindrucksvoll beschriebene lungsgeschichte des Individuums ist in jeder sogenannte biogenetische Grundgesetz, Beziehung die Geschichte der wachsenden wonach die Individualentwicklung bei Wir- Individualität. Wenn also die frühen Entwick- beltieren eine verkürzte Wiederholung der lungsstadien einander ähnlich sehen, so Stammesgeschichte darstellt (die Ontogenie kommt dies daher, daß sie noch nicht genug ist eine Rekapitulation der Phylogenie) und differenziert sind. K. E. von BAER verwarf also sich daraus verschiedene Stufen der Höher- den Vergleich embryonaler Formen mit denen entwicklung, mit der höchsten Entwicklungs- ausgebildeter Tiere und verglich nur die stufe beim Menschen, ableiten lassen, gab der Embryonen der verschiedenen Tiere mitein- traditionellen deskriptiven Embryologie einen ander. Heute weiß man, daß die Formulierun- neuen Denkansatz, weil es die Deszendenz- gen von BAERS korrekter sind und deshalb theorie in die embryologische Forschung mit wird heute häufig anstelle des Begriffes „Bio- einbezog. Auch der Mensch durchläuft, dem genetisches Grundgesetz" der Begriff „von biogenetischen Grundgestz zufolge, während BAER-Gesetz" verwendet. Wie das Biogeneti- seines Fötuslebens verschiedene tierische sche Grundgesetz zeigt, wurde in der damali- Organisationsstufen, die bei Tieren mit niede- gen Zeit die Entwicklungsgeschichte der Tiere rer Organisationsstufe (Fische, Reptilien, in erster Linie als Schlüssel für die Genealo- Vögel) den bleibenden Zustand bilden. gie, die Verwandtschaft und Abstammung der Es darf aber nicht verschwiegen werden, Tiergruppen, betrachtet. daß vor HAECKEL bereits viele andere Autoren HAECKEL selbst hat wenig embryologische (71!) darauf hingewiesen haben, daß gewisse Forschungen betrieben. Die große Bedeutung embryonale Formen den bleibenden Formen HAECKELS für die embryologische Forschung niederer Tiere ähnlich sind. Der eigentliche seiner Zeit liegt eher in der von ihm, leider oft Wegbereiter dieses Gesetzes ist Johann Frie- auch falsch, durchgeführten Verallgemeine- drich MECKEL (1781-1833), der nach einem rung von Fakten der vergleichenden Embryo- für alle Tiere gültigen Grundtyp suchte und logie und deren Nutzung für die Begründung bereits 1811 ähnliche Gedanken wie HAECKEL der Evolutionstheorie. Dies ruft auch heute formulierte. Auch der in Brasilien lebende noch starke konträre wissenschaftliche Emo- Zoologe Fritz MÜLLER (1821-1897) hat das tionen hervor. Doch hatten HAECKEL-Schüler, biogenetische Grundgesetz exakt formuliert wie Anton DOHRN, die Brüder Richard und und erst dann folgte HAECKEL, wie dieser Oscar HERTW1G, Wilhelm ROUX, August selbst zugegeben hat. WEISMANN und Hans DRIESCH einen heraus- Ein bedeutender Gegner dieser Formulie- ragenden Anteil an den Erkenntnisfortschrit- rungen war der aus Estland stammende ten in der embryologischen Forschung. Eine Embryologe Karl Ernst von BAER (1792- entscheidende Initiative für neue embryologi- 1876), der darauf hinwies, daß die wesentli- sche Forschungsansätze ging von HAECKELS chen Eigenschaften einer Tiergruppe niemals ersten Assistenten in Jena aus. Es war Anton bei den embryonalen Formen einer anderen DOHRN (1840-1909), der erkannte, daß für die höheren Gruppe vorkommen. Was den Fisch Klärung morphologisch-phylogenetischer zum Fisch macht (Atmung durch Kiemen), Fragestellungen die Lebendbeobachtung der den Vogel zum Vogel (Flügel, Schnabel) Individualentwicklung mariner Organismen kommt niemals im embryonalen Zustand und damit die Einrichtung einer meeresbiolo- einer anderen Tiergruppe vor. Nach von BAER gischen Station eine Notwendigkeit darstellt. entwickeln sich alle Embryonen so, daß der So wurde DOHRN, obwohl er zeitlebens des- 137 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at kriptive embryologische Forschung betrieb talen Unterschied zwischen Keimzellen und und mehr theoretisierte als experimentierte, Körperzellen (Somazellen). Er entwickelte in durch die Gründung der Zoologischen Station seiner Keimplasmatheorie eine Vorstellung in Neapel im Jahre 1872 ein Wegbereiter für über die Vererbung einer Kernsubstanz von die neue, die gesamte Biologie umwälzende spezifischer Molekularstruktur, von ihm Forschungsrichtung der experimentellen Keimplasma genannt, und prägte den Begriff Embryologie. Der Grund, warum gerade diese „Keimbahn" derzufolge Eigenschaften, die im Meeresstation und nicht andere Meeresstatio- Laufe eines tierischen Lebens vom Körper nen einen herausragenden Stellenwert hatte, erworben wurden, nicht auf die Keimzellen lag sicher einerseits an seiner Lage am Mittel- übertragen werden können. In Bezug auf die meer und dem damit verbundenen leichten Vererbung ist der Körper nur ein Behälter für Zugang zum Beobachtungsmaterial, anderer- die Keimzellen oder, wie es der englische seits aber auch in der Begabung DOHRNS als Novelist und Essayist Samuel BUTLER zusam- Wissenschaftsorganisator und -manager. Die menfaßte: „Eine Henne ist nur der Weg des Station wurde von DOHRN mit den besten Eies, um daraus ein anderes Ei zu machen". Einrichtungen ausgestattet, sodaß sich bald WEISMANN stellte weiters ein Modell über nach Gründung Wissenschafter aller Natio- Entwicklung vor, bei dem der Kern der Zygo- nalitäten und Forschungsrichtungen an der te eine Anzahl von speziellen Faktoren oder Station tummelten. Dies veranlaßte Theodor Determinanten enthalten soll. Er vermutete, BOVERI, selbst ein häufiger Besucher der Stati- daß, wenn das befruchtete Ei sich zu teilen on zu dem Ausspruch, sie sei ein „permanen- (furchen) beginnt, diese Determinanten ter Zoologenkongress". Unter den unzähligen ungleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt Forschern, die an der Station arbeiteten und werden und so die zukünftige Entwicklung der dort bedeutende embryologische Entdeckun- Zellen kontrollieren. Das Schicksal jeder Zel- gen machten, sind besonders die Deutschen le wäre daher im Ei durch die Faktoren, die es Hans DRIESCH, Curt HERBST, Otto WARBURG, während der Furchung erhält, determiniert der Italiener Pio MlNGAZZINI und die Ameri- oder präformiert. Dieser Entwicklungstyp kaner Edmund B. WILSON und Thomas Hunt wurde „Mosaikentwicklung" genannt, weil MORGAN hervorzuheben. das Ei als ein Mosaik von nicht zusammen- hängenden Faktoren betrachtet wurde. Zen- tral bei WEISMANNS Theorie war die Annah- Das Entstehen der experimentel- me, daß frühe Zellteilungen asymmetrische len Embryologie: Mosaik- versus Teilungen und die Tochterzellen, als Resultat Regulationsentwicklung der ungleichmäßigen Verteilung von Kem- komponenten, ganz unterschiedlich vonein- ander sein müßten. Diese Annahme war zwar Nachdem man die Rolle, die der Zellkern falsch, doch lieferte das Modell der Mosaik- bei Zellteilungen spielt, erkannt hatte und entwicklung neue Denkanstöße. gesehen hatte wie die Zellen der Embryonen durch Zellteilungen aus der Zygote entstehen, In den späten achtziger Jahren des vorigen stellte sich die Frage, wie es dazu kommt, daß Jahrhunderts kamen für WEISMANNS Vorstel- sich Zellen während der Embryonalentwick- lung der Mosaikentwicklung zusätzliche Argu- lung unterschiedlich weiter entwickeln. mente vom deutschen Embryologen Wilhelm Eine sowohl für die Genetik als auch die ROUX (1850-1924), einem Schüler von Ernst Embryologie wichtige Anregung lieferte der HAECKEL, der mit Froschembryonen experi- deutsche Biologe August WEISMANN (1834- mentierte. ROUX zerstörte nach der ersten 1914), der feststellte, daß die Nachkommen Furchung eine der rwei Zellen mit einer von Tieren ihre Charakteristika nicht vom heißen Nadel und stellte fest, daß sich die Körper (soma) der Eltern bekommen, sondern überlebende Zelle in eine wohl ausgebildete nur von den Keimzellen - den Eiern und halbe Kaulquappe entwickelte. Er schloss dar- Spermien - und daß die Keimzellen nicht aus, daß die Entwicklung des Frosches auf vom Körper, der sie in sich trägt, beeinflußt einem Mosaikmechanismus beruht, der bei werden. WEISMAKN zeigte so einen fundamen- jeder Furchung die Eigenschaft der Zellen und 138 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at ihr Schicksal vorbestimmt. Leider war, da er Der Amerikaner Edmund B. WILSON die abgetötete Zelle nicht entfernte, der Ver- (1865-1939), der die Experimente DRIESCHS suchsansatz und somit auch das Ergebnis, wie mit Anneliden- und Molluskenembryonen sich später herausstellte, falsch, doch Roux, wiederholte, fand, daß diese Organismen sich der sich zum Ziel gesetzt hatte, die Kausalzu- nach Entnahme von Zellen zu keinem voll- sammenhänge der Formbildung (heute kommenen Organismus entwickeln und daher Musterbildung genannt) mit Hilfe von zerglie- eine Mosaikentwicklung durchmachen, wie dernden Techniken zu klären, rief mit diesem sie ROUX postulierte. Heute weiß man, daß im einfachen Experiment eine ganz neue For- Tierreich sowohl der determinative Mosaik- schungsrichtung ins Leben, die sich von den entwicklungstyp als auch der Regulationsent- bisherigen deskriptiven Verfahren der wicklungstyp vorkommen und die Ergebnisse Embryologie durch ihr methodisches Vorge- von der untersuchten Tierart abhängen. hen, nämlich der experimentellen Entwick- Obwohl das Konzept der Regulationsent- lungsstörung, unterschied und die er „Ent- wicklung stillschweigend voraussetzte, daß wicklungsmechanik" bezeichnete. Zellen miteinander interagieren müssen, wur- Als ROUX' Kollege und Landsmann, Hans de die zentrale Bedeutung der Zell-Zell-Inter- DRIESCH (1867-1941), diese Experimente aktionen in der Embryonalentwicklung bis zur wenige Jahre später in Neapel bei Seeigeleiern Entdeckung des Induktionsphänomens, bei wiederholte, erhielt er ein ganz anderes Resul- dem ein Gewebe die Entwicklung eines ande- tat. Angeregt durch die bahnbrechende Ent- ren, benachbarten Gewebes beeinflußt, nicht deckung von Curt HERBST (1866-1946), der wirklich verstanden. festgestellt hatte, daß kalziumfreies Seewasser Durch Verpflanzungsexperimente von den Zusammenhalt der Furchungszellen auflöst, Blastomeren bei Seeigelembryonen, insbeson- hatte DRIESCH die Zellen des 2-Zellstadiums ders von Sven HöRSTADIUS, kristallisierte sich komplett voneinander getrennt und erhielt die Gradientenhypothese heraus. Bei diesen daraus normale, jedoch halb so große, Seeigel- Experimenten zeigte sich, daß die Entnahme larven. Dies war genau das Gegenteil von oder Verpflanzung von einzelnen Blastomeren ROUX' Ergebnissen und war der erste klare oder ganzer Zellkränze bei frühen Furchungs- Beweis eines Entwicklungsganges, der als „regu- stadien den Entwicklungsablauf der Embryo- lativ" bezeichnet wird. Dabei besitzt ein nen beeinflußt und daß besonders die vegeta- Embryo die Fähigkeit (= Potenz), sich - auch tiven Mikromeren die anderen Zellen beein- wenn einige Teile entfernt oder umgeordnet flussen. Diese und weitere Beobachtungen werden - normal zu entwickeln. Die Ergebnisse waren Anlaß zur Aufstellung der Gradienten- dieser Versuche bestärkten DRIESCH in der theorie, die annimmt, daß Zellen in einem Ansicht, daß eine mechanische Deutung des sich entwickelndem Zellverband auf eine Sub- organischen Geschehens im Sinne physi- stanz im Zytoplasma - einem sogenannten kalisch-chemischer Kausalität nicht ausreicht, Morphogen - reagieren und ein Konzentrati- die Leistungsfähigkeit eines Organismus zu onsgefälle dieser Substanz im Embryo unter- erklären, wie dieser bei beliebiger Entnahme schiedliche Reaktionen der Zellen hervorruft. oder Verlagerung von Teilen diese ersetzen Die Bedeutung der Induktion und anderer kann. DRIESCH spricht daher von „harmonisch- Zell-Zell-Interaktionen in der Entwicklung äquipotentiellen Systemen", bei denen die wurde erst im Jahre 1924 durch die bedeuten- Potenzen gleichmäßig auf alle Zellen verteilt den „Organisator"-Transplantationsexperi- sind, die stets in Harmonie zueinander stehen mente bei Amphibienembryonen der beiden und bei denen ein Hauptkriterium die „Selbst- deutschen Forscher Hans SPEMANN (1869- differenzierung", also „Jeder kann jedes" und 1941) und seiner Assistentin Hilde MANGOLD „alles Einzelne steht in Harmonie zueinander" geborene PRÖSCHOLDT (1898-1924) mit ist. DRIESCH, der später von der Biologie zur einem Schlag eindrucksvoll unter Beweis Philosophie wechselte, versuchte seine Ergeb- gestellt. Sie zeigten, daß durch Verpflanzung nisse mit „spezifischen richtenden Lebenskräf- einer kleinen Region eines Molchembryos auf ten in Form von elektrischen oder magneti- eine andere Stelle eines anderen Embryos, die schen Strömen" zu erklären (Neovitalismus). Bildung eines zusätzlichen Embryoteiles ange- 139 © Biologiezentrum Linz/Austria; download unter www.biologiezentrum.at regt (= induziert) werden kann. Das ver- tiefgreifende Auswirkungen auf die experi- pflanzte Gewebe wurde bei diesen Versuchen mentelle Embryologie. Sie lösten einen Boom von der dorsalen Urmundlippe des Blasto- an Experimenten bei den verschiedensten porus, der schlitzförmigen Einstülpung, die Tiergruppen aus und leiteten in den dreißiger sich bei Gastrulationsbeginn an der dorsalen Jahren unseres Jahrhunderts die besonders Oberfläche des Amphibienembryos bildet, intensive Suche nach der biochemischen entnommen. Diese kleine Region, die für die Natur der Induktion ein, die jedoch durch die Kontrolle des Aufbaus eines vollständigen nationalistische Strömung in Deutschland funktionierenden embryonalen Körpers und den dadurch ausgelösten 2. Weltkrieg benötigt wird, nannten sie „Organisator". Für über viele Jahre unterbrochen wurde und diese Entdeckung erhielt SPEMANN im Jahre danach nur langsam wieder in Gang kam. Die 1935 den Nobelpreis für Physiologie oder biochemischen Grundlagen für die Induktion Medizin, einen der zwei jemals für embryolo- wurden nicht gefunden, doch kam man zur gische Forschung vergebenen Nobelpreise. Erkenntnis, daß zwei gegenläufige morphoge- Hilde MANGOLD starb leider vorher durch netische Gradientensysteme, eines für die einen Haushaltsunfall und konnte daher Längs- und eines für die Querachse des nicht mehr geehrt werden, doch wurden die Embryos, sehr detaillierte Positionsinformati- Arbeiten über die Determination embryona- on über das gesamte Ei darstellen und ausrei- ler Zellen von ihrem Mann Otto MANGOLD chen, um die Musterbildung in sich ent- (1891-1962) fortgeführt. wickelnden Organismen zu erklären. Heute sind bei Wirbeltieren viele Beein- flussungen der Entwicklungsgänge durch gesetzmäßige Induktionsabfolgen bekannt, Der Werdegang der Genetik und auch, daß das Organisatorzentrum der ihr Einfluss auf die embryologi- Amphibien nicht das primäre Induktionszen- sche Forschung trum ist, sondern dessen Lage bei Amphibien schon bei der Befruchtung durch den Ort der Bereits DARWIN erkannte, daß für die Fusion des Spermiums mit der Eizelle festge- Erklärung der stammesgeschichtlichen Ent- legt wird. Bei der Befruchtung kommt es in wicklungsprozesse zu seiner Variabilitäts- der Eizelle zur Verlagerung von cortikalem Selektionstheorie noch zusätzlich eine Verer- Plasma (Segregation), wodurch ein halb- bungstheorie notwendig sei. Die Vergleichen- mondförmiges, oft speziell gefärbtes Plasma- de Morphologie brachte für die Embryologie areal sichtbar wird, das die dorsale Achse des kaum weitere Erkenntnisse, weshalb sich die Embryos festlegt und das bei den nachfolgen- Evolutionsbiologen in zwei Gruppierungen den Furchungen in ein begrenztes Gebiet, das aufspalteten. Die eine Gruppe, Naturalisten NlEWKOOP-Zentrum (benannt nach einem genannt, zu der auch HAECKEL gehörte, blieb niederländischen Embryologen), eingebaut weiterhin der vergleichend morphologischen wird. Dieses Zentrum induziert später die Aus- Arbeitsrichtung treu und lehnte die Laborme- bildung des „SPEMANN"-Organisatorzentrums. thoden, wie Fixieren, Schneiden, Färben oder Wie diese Induktionsabfolgen zeigen, können experimentelle Eingriffe ab. Die andere Grup- bei manchen Tieren die Achsen der Körper- pe arbeitete experimentell. Der Großteil der grundgestalt schon vor der ersten Furchungs- Experimente waren Kreuzungsexperimente teilung festgelegt und die Zellverteilung und und wurden im 19. Jahrhundert in erster Linie Musterbildung im Embryo bereits durch den von Tier- und Pflanzenzüchtern durchgeführt, Spermieneintritt eingeleitet werden. die sich die Frage stellten, inwieweit durch Hybridisierung neue Alten entstehen oder Die Entdeckung der Induktion, sowie die negative Merkmale der Elternformen bei neu- von Johannes HOLTFRETER, einem Schüler gezüchteten Rassen vermieden werden kön- von SPEMANN, entwickelten Kulturverfahren nen. Charles DARWIN, selbst Tauben- und für embryonales Gewebe und dessen Ent- Pflanzenzüchter, nahm an, daß in jeder Zelle deckung, daß sogar abgetötetes Wirbeltierge- kleine „Keimchen" (gemmules) als Merkmals- webe verschiedenster Herkunft harmonische träger vorhanden seien, die durch Permeabi- Organisationsmuster induzieren kann, hatten 140

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