Klaus Schenk • Medienpoesie Klaus Schenk Medienpoesie Modeme Lyrik zwischen Stimme und Schrift Verlag 1. B. Metzler Stuttgart . Weimar Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stuttgart ; Weimar: Metzler, 2000 (M-&-P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung) ISBN 978-3-476-45224-5 ISBN 978-3-476-45224-5 ISBN 978-3-476-04317-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-04317-7 Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigungen, Übersetzung, Mikroverfilmungen und Einspeicherung in elektronischen Systemen. M & P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung © 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2000 ... - ---_ _ .. ... - - - - - - - ---- --_. - - - - __ - . ..... m - - - - - - - - - - - MA:'\ R.\Y P.III. M. . 1924 ManRay »Lautgedicht« (chant bruyant) In: 113 Dada-Gedichte, hrsg. v. Kar! Riha, Ber!in 1992, S. 188. Zuerst in: 391, Nr. 17, Paris 1924, S. 3. Inhalt Einleitung ...................................................................................................... 9 f. Die lyrische Poesie: Medienaspekte eines Gattungsparadigmas .............................................................. 13 1. "Taubes Lesen" - "stummes Schreiben": Die Medienproblematik in Hegels Poesie-Konzeption ..................... 15 2. Anthropologie der Stimme und Linguistik der Schrift ...................... 21 3. Parameter eines phonozentrischen Gattungsparadigmas ................... 29 4. Goethe und die Rätsel der Schrift ...................................................... 34 5. Phono-Gramme: Grenzen einer arabesken Poetik ............................. 51 6. Verse flechtenIV erse schreiben: Hofinannsthal und Rilke ................ 56 7. Poetik der Gestaltung in der Wortkunst von Arno Holz ................... 67 11. Linguistische Poetik und poetische Avantgarde ........................... 80 1. Die Entwicklung der Phonem-Theorie im Kontext der poetischen Avantgarde ............................................. 81 2. Phonologische Lyrik-Analysen .......................................................... 87 3. Gramma und Graphem: Die graphische Ebene poetischer Texte ................................................................................. 97 4. Vom Anagramm zur ecriture ........................................................... 104 5. DasA-N-N-A-BLUME-Syndrom ......................................... 110 6. Opto-Phonetik und Lautgedicht (107) ............................................. 126 7. Vers !ibre und typographische Kombinatorik .................................. 139 IIf. Metapher und Material: Konkrete Poesie ........................... ....... 154 1. Die Rede vom Abstrakten und Konkreten ....................................... 157 2. Poetische Tektonik ........................................................................... 164 3. Das Schweigen schreiben ................................................................. 176 4. Visualität und phonozentrisches Gattungsparadigma ...................... 186 5. Das artikulierte Geräusch ................................................................. 195 6. Die Macher und die Dichter ............................................................. 205 7 IV. Schreibweisen moderner Lyrik der 50er und 60er Jahre ...................................................................... 213 1. Gedicht und Graphik - Graphik des Gedichts ................................. 215 2. Die Untreue der Schrift .................................................................... 227 3. Semiotisierte Schrifträume ............................................................... 251 4. Palimpsest - Pastiche - Parodie ....................................................... 273 5. Manieristische Ver(s)stellungen zwischen Klartext und Arabeske ..................................................................... 295 6. Komposition des Schreibens ............................................................ 318 7. Gedichte einer Medienlandschaft .................................................... 332 Schlußbemerkung .................................................................................... 351 Literaturverzeichnis ................................................................................ 357 8 Einleitung Unser Auge sagt uns schnell, was Verse sind. Wenn auf einer Seite um das Gedruckte herum viel weißer Raum ist, dann haben wir es gewiß mit Versen zu tun. (Wolfg ang Kayser, 1980, S. 9) Zu keiner Zeit hat die Frage nach den Grenzen der Gattungen die theore tische Reflexion auf Literatur so beschäftigt wie in der Modeme. Anschei nend hat die literarische Praxis Grundannahmen der Gattungszuschreibung derart verunsichert, daß die Funktion von Gattungsbegriffen selbst zweifel haft wurde. Besonders im Bereich moderner Lyrik erwies sich diese Frage stellung als äußerst prekär. Die vorne abgebildete Graphik von Man Ray veranschaulicht in Kürze eine Problematik, die mit der Verunsicherung über die Gattungsgrenzen von Lyrik einherging: die Frage nach dem Verhältnis von Lautgestalt und Schriftbild in poetischen Texten. Offensichtlich handelt es sich bei der Graphik nicht mehr um ein Gedicht oder gar, wie der Titel angibt, um ein Lautgedicht (chant bruyant, vgl. Massin, 1970, S. 231). Lediglich der unlesbare Schatten eines Textes wird präsentiert. Dennoch ruft die Graphik einen visuellen Eindruck hervor, der mit der Schreibweise poetischer Texte eng verbunden ist: die räumliche Anordnung in Verse und Strophen. Zur Geschichte der Gattung Lyrik gehört, daß sie mit einer be stimmten graphischen Erscheinungsweise identifiziert wird. In diesem Sinn visualisiert die Graphik von Man Ray die Silhouette eines Gedichts mit unregelmäßigen Zeilenlängen, sogenannte freie Verse. Was der Graphik auf provokante Art und Weise allerdings völlig fehlt, ist die Möglichkeit zu einer Konstitution von Bedeutung, das heißt jeglicher Zusammenhang von Schriftbild, Lautgestalt und Sinn. Die Graphik formiert lediglich die Umrisse eines Gedichts, ohne sie in Schrift zu artikulieren, wodurch das Spannungsverhältnis zwischen räumlicher Struktur und (unlesbarer) Textur umso deutlicher wird. Denn erst der phonographische Charakter der alpha betischen Schrift ermöglichte ein lyrisches Sprechen, das sich als Unmit telbarkeit des Ausdrucks inszenierte und dabei die graphischen Aspekte von Schriftlichkeit verdeckte. Der Fokus der vorliegenden Arbeit soll es deshalb sein, den Status von Schriftlichkeit in moderner Lyrik zu hinterfragen. Die Grundannahmen, welche die Untersuchung leiten werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen. Seit im Bereich der Lyrik der enge Konnex zwischen lyrischer Subjektivität, Lautgestalt und Bedeutungskonstitution fiir die Eingrenzung der Gattung ausschlaggebend wurde, mußten Aspekte der Schriftlichkeit 9 lyrischer Texte hinter die Dominanz ihrer lautlichen Gestaltung zurück treten. Bei dieser Autonomisierung des poetischen Sektors gegenüber anderen Kunstgattungen wurde der Zusammenhang zwischen Medien kontext und Gattungsgeschichte ausgeblendet. Die alphabetische Schrift erfüllt diese Anforderungen umso mehr, als sie idealiter bei der Lektüre völlig zurücktritt. Die Schrift der Texte spielt in diesem Zusammenhang die Rolle eines verdeckten Mediums, das Klang in Sinn transformiert, ohne wahrgenommen zu werden. Literaturhistorisch lassen sich diese gattungs konstitutiven Prämissen am Begriff der lyrischen Poesie aufzeigen, wie sie Hegel in seiner Ästhetik rekapitulierte. Mit der Entwicklung technischer Medien Ende des 19. Jahrhunders aber und besonders mit der Erfindung des Phonographen relativierte sich die Eintracht zwischen dem Schriftbild und der Lautgestalt poetischer Texte. Einerseits konnte die Stimme selbst in anderen Speichermedien aufgezeichnet werden, die Schrift verlor ihr phono graphisches Primat. Andererseits traten im Bereich der Literatur schriftliche Aspekte der Texte in Konkurrenz zum medialen Umfeld zunehmend hervor. Innerhalb der Gattung Lyrik wird eine Graphie der Texte unübersehbar, die ihr in verdeckter Gestalt zugehörte und bisher lediglich in einem Bündel raum-zeitlicher Bezüge verschränkt war. Im Bereich moderner Lyrik er scheint so die stumme Graphie der Texte als irreduzibler Faktor. Das Kern stück meiner These lautet deshalb: Indem die Schriftlichkeit der Texte aus der Rolle eines verdeckten Mediums heraustritt, werden auch die latenten Zusammenhänge zwischen Medienkontext und Gattungsparadigma wieder offengelegt. Schriftlichkeit selbst ist Medium, reproduzierbare Technik, und bindet dadurch die Texte an ihr Medienumfeld zurück. Diese wahrnehmbare Schriftlichkeit, die im Begriff des Konkretismus gipfelt, resultiert aus der Problematik einer Artikulation poetischer Texte. Nicht mehr allein der Zu sammenhang zwischen Laut und Bedeutung, sondern auch der Aspekt ihrer graphischen Verräumlichung wird für die Schreibweise der Gattung zu nehmend konstitutiv. Gerade von einem Begriff der Schreibweise (ecriture) her lassen sich deshalb wesentliche Veränderungen im Bereich moderner Lyrik erfassen. Moderne Lyrik entdeckt in ihrer Schreibweise die sub kutanen Verbindungen zwischen der Geschichte der Gattung und der Entwicklung technischer Medien. Allerdings können die Analysen der vorliegenden Arbeit nicht an kohärente Medientheorien anknüpfen, da diese vorwiegend auf pragmatische Gesichtspunkte ausgerichtet sind und nur bedingt ästhetische Fragestellungen integrieren. Vielmehr wird gerade von solchen Autoren die Verbindung von literarischer Produktionsweise und Medienumfeld mitbedacht, die sich nur essayistisch zum Verhältnis von 10
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