Klassische Texte der Wissenschaft Viktor Sarris Max Wertheimer, Produktives Denken Klassische Texte der Wissenschaft Begründet von Olaf Breidbach (Verstorben) Jürgen Jost Reihe Herausgegeben von Jürgen Jost Armin Stock Die Reihe bietet zentrale Publikationen der Wissenschaftsentwicklung der Mathema- tik, Naturwissenschaften, Psychologie und Medizin in sorgfältig edierten, detailliert kommentierten und kompetent interpretierten Neuausgaben. In informativer und leicht lesbarer Form erschließen die von renommierten WissenschaftlerInnen stammenden Kommentare den historischen und wissenschaftlichen Hintergrund der Werke und schaf- fen so eine verlässliche Grundlage für Seminare an Universitäten, Fachhochschulen und Schulen wie auch zu einer ersten Orientierung für am Thema Interessierte. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11468 Viktor Sarris Max Wertheimer, Produktives Denken Viktor Sarris Frankfurt am Main, Deutschland ISSN 2522-865X ISSN 2522-8668 (electronic) Klassische Texte der Wissenschaft ISBN 978-3-662-59820-7 ISBN 978-3-662-59821-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-59821-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detail- lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Wolf Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Vorwort Max Wertheimer (1880–1943), ein Pionier der Psychologie des 20. Jahrhunderts, hat die Entwicklung der Kognitionswissenschaft maßgeblich beeinufl sst, vor allem die Psycho- logie der Wahrnehmung und des Denkens. Sein in New York entstandenes Buch“Productive Thinking“ – vor einem Dreivierteljahrhundert in den USA erschienen (1945) – gilt als ein Meilenstein in der Kreativitätsforschung. Bestehend aus vielen Beispielen für zielgerichtete kreative Denkprozesse – von einfachen geometrischen Aufgaben über sozialpsychologisch relevante Koniflktlösungen bis hin zur Entwicklung von Einsteins Relativitätstheorie – führt das Buch durch ein facettenreiches Gedankengebäude der Denkpsychologie. Wertheimers Ausführungen sind heutzutage angesichts der zunehmend geistig hemmenden Spiel- und Internetsuchtprobleme aktueller denn je. Im Zentrum dieses von Wolfgang Metzger (1957) ins Deutsche übertragenen Werks stehen vor allem die „Einsicht“ und das „Verstehen“ beim Lösen von Denkaufgaben, wenn einem gleichsam die Schuppen von den Augen fallen. Wertheimers frühe Arbei- ten in Deutschland stellen die Basis für das Buch dar. Allerdings ist dessen Denk- und Schreibstil mit seinem idiosynkratischen Ideenreichtum nicht immer leicht zu verstehen. Auch angesichts der rapiden Entwicklung der Kognitionswissenschaft bedarf der Text einer einführenden Kommentierung, um so die wichtigsten Argumentationsstränge leichter nachvollziehen zu können, das auch als eine Ermutigung für den Einstieg des heutigen Lesers in die Materie des „produktiven“ versus „unproduktiven“ Denkens. Kurzfassungen der nachfolgenden Einführung finden sich an anderer Stelle (Sarris, 1996; Sarris & Michael Wertheimer, 2018). Die englische Neuherausgabe dieses Buchs erfolgt in Kürze im Verlag Birkhäu- ser / Springer. Ich danke einer Reihe von Kollegen und Kolleginnen für die sorgfältige Durchsicht meines Kommentars, vor allem Lothar Spillmann, Freiburg; Armin Stock, Würzburg; Michael Wertheimer, Boulder, CO (USA) sowie Fritz Wilkening und Karin Wilkening, beide Zürich. Ferner bin ich dem Team des Verlags Springer für die sehr gute Zusammenarbeit verbunden, namentlich Stefanie Wolf und Nadine Teresa. Frankfurt am Main, Viktor Sarris im Sommer 2019 V Inhaltsverzeichnis 1 Kommentar zu Max Wertheimer: „Produktives Denken“ ............... 1 2 Produktives Denken (übersetzt ins Deutsche von Wolfgang Metzger, 1957) .......................................... 25 VII 1 Kommentar zu Max Wertheimer: „Produktives Denken“ Es gibt Zusammenhänge, bei denen nicht, was im Ganzen geschieht, sich davon herleitet, was die einzelnen Stücke sind und (wie sie) sich zusammensetzen, sondern umgekehrt, wo – im prägnanten Fall – das, was an einem Teil dieses Ganzen geschieht, bestimmt (wird) von inneren Strukturgesetzen dieses Ganzen. – Max Wertheimer (1925)/Vortrag vor der KANT- Gesellschaft am 17. Dezember 1924 Kurze Würdigung des Werkes Dieses Motto entstammt einem Aufsatz von Max Wertheimer zwanzig Jahre vor der Publikation von „Productive Thinking“ (1945), das im New Yorker Exil erschien – es kann noch heute für die gestalttheoretische Richtung in der Psychologie Geltung beanspruchen (Westheimer, 1999). In dem Werk wird gezeigt, dass • die damals relevanten Theorien (der assoziationstheoretischer Ansatz von Wilhelm Wundt und der „Strukturalismus“ von Edward B. Titchener) nicht in der Lage waren, die entscheidenden Merkmale des produktiven Denkens und Lernens – vor allem die des Verstehens und der Einsicht – angemessen zu erklären, • die gestalttheoretische Perspektive eine Deutungsbasis gerade für solche Fragen und Inhalte der Kognition bietet, welche die traditionellen Theorien bisher vernachlässigt bzw. ignoriert hatten, • Wertheimers Ansatz eine Herausforderung auch für die Theorien und Modelle der modernen Kognitionswissenschaft bedeutet, wobei die zentralen Fragen, die von letz- terer behandelt werden, noch immer ungeklärt bzw. umstritten geblieben sind. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 1 V. Sarris, Max Wertheimer, Produktives Denken, Klassische Texte der Wissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59821-4_1 2 1 Kommentar zu Max Wertheimer: „Produktives Denken“ Das Buch hat eine lange Vorgeschichte. Wertheimers Leben und Werk, oft unvollständig oder verkürzt dargestellt, wurde ausführlich erst in neuerer Zeit behandelt (Ash, 1995; King & Michael Wertheimer, 2005; Michael Wertheimer, 2014). Biografie von Max Wertheimer Max Wertheimer wurde in Prag, im damaligen Österreich-Ungarn, am 15. April 1880 geboren, nur wenige Schritte von der Prager Alt-Neusynagoge entfernt. Sein Vater Wilhelm Wertheimer (1853–1930) war der Leiter einer von ihm in der Prager Altstadt gegründeten Handelsschule; er war auch ein erfolgreicher Lehrbuchautor. Die Mutter Rosa, geb. Zwicker (1855–1919), war eine passionierte Amateurviolinistin; sie hatte gro- ßen Einfluss auf Max im musikalischen und musischen Bereich. Nach einem klassischen Schulabschluss mit Latein und Griechisch studierte Max zunächst an der Karlsuniversi- tät Prag, danach an den Universitäten in Berlin und Würzburg die Fächer Psychologie, Jura, Physiologie und Philosophie. Er promovierte 1904 unter Oswald Külpe mit einer psychodiagnostisch-forensischen Arbeit. Seine Lebensdaten enthält die Zeittafel mit den Jahresangaben auch für einige seiner wichtigsten Veröffentlichungen (Tab. 1.1). Wertheimer hat seine Dissertation – begonnen in Prag und Berlin – in Würzburg fort- gesetzt und abgeschlossen und diese dann an der Würzburger Philosophischen Fakultät mit dem folgenden Lebenslauf eingereicht: Ich, M a x W e r t h e im e r, österreichischer Staatsangehörigkeit, bin geboren am 15. April 1880 zu Prag (Böhmen) als Sohn des Handelsschuldirektors Wilhelm Wertheimer und seiner Frau Rosa, geborenen Zwicker, jüdischer Konfession. Nach Absolvierung der Piaristen- Volksschule, des Prag-Neustädter Gymnasiums und von fünf Semestern an der juridischen Fakultät in Prag, während welcher ich zugleich an philosophischen Vorlesungen und Seminarien teilgenommen hatte, war ich vom Frühling 1901 drei Semester an der philosophischen Fakultät in Berlin, seitdem an der philosophischen Fakultät in Würzburg inscribiert. Belehrung, Förderung und Unterstützung bei Studien im Gebiete der experi- mentellen Psychologie genoss ich in den psychologischen Instituten Berlin und Würzburg und im physiologischen Institut in Prag, insbesondere durch die Herren Külpe, Stumpf, Schumann, (Johannes) Gad (…). Bei Vorversuchen aus dem Gebiet der vorliegenden Arbeit hatte ich zunächst von Professor Hans G r o s s (Prag), dann von Herrn Professor (F.) S c h u m a n n (Berlin) freundliche Förderung erfahren. In erster Linie bin ich Herrn Prof. O. K ü l p e (Würzburg) für reiche Förderung, Belehrung und Unterstützung mit Rat und Tat zu besonderem Danke verpflichtet. Den Versuchspersonen … sei nochmals Dank gesagt. – (Quelle: Sarris & Michael Wertheimer, 1987) Dem Lebenslauf ist zu entnehmen, dass Wertheimers Interessen bereits während seiner Studentenjahre breit gestreut waren (Michael Wertheimer, 2014). Wertheimer hat an die- sen drei Universitäten bei renommierten Professoren studiert, in Prag übrigens auch bei Christian von Ehrenfels (1890), dem wichtigsten Vorläufer der Gestaltpsychologie. Er hat sich dann im Jahr 1912 in Frankfurt am Main an der dortigen Naturwissenschaftlichen Fakultät der Akademie für Sozial- und Handelswissenshaften (ab 1914 als Universität Biografie von Max Wertheimer 3 Tab. 1.1 Max Wertheimer, 1880–1943: Zeittafel. (Quelle: Sarris, 1996) Zeittafel. Max Wertheimer 1880–1943 1880 Geboren in Prag am 15. April 1880 1898–1903 Universitätsstudium in Prag (1898–1990), u. a. bei Chr. von Ehrenfels, und in Berlin (1900–1903) bei C. Stumpf und F. Schumann 1904–1905 Promotion bei O. Külpe in Würzburg („Experimentelle Untersuchungen zur Tatbestandsdiagnostik“; Wertheimer, 1905) 1910 Freier Mitarbeiter am Psychologischen Institut in Frankfurt am Main; Beginn der Experimente über stroboskopische Bewegung („Schein- bewegung“). – (F. Schumann war 1910 als Nachfolger von K. Marbe an das Frankfurter Institut gekommen; W. Köhler und K. Koffka waren seine Assistenten) 1912 Erste bahnbrechende Veröffentlichung (Phi- Phänomen): „Experimentelle Untersuchungen über das Sehen von Bewegung“ 1912–1916 Habilitation (1912) und Privatdozent in Frankfurt am Main 1918–1929 Dozent (1918) und außerordentlicher Professor (1922) in Berlin 1921 Gründung der Zeitschrift Psychologische Forschung, zusammen mit W. Köhler, K. Koffka, K. Goldstein und H. W. Gruhle (wichtigstes Publikationsorgan der Gestaltpsychologie bis 1938) 1929–1933 Lehrstuhl für Psychologie und Philosophie an der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Nachfolger von F. Schumann 1933 Aufnahme einer Gastprofessur an der New School for Social Research, New York City; Berufsverbot in Deutschland 1934–1943 Mitherausgeber der Zeitschrift Social Research (1934–1941); Mitglied des „Committee for Displaced Foreign Psychologists“ der American Psycho- logical Association (APA) 1943 Gestorben in den USA am 12. Oktober 1943 (New Rochelle, N. Y.) 1945; 1959 Postume Veröffentlichungen: Buch „Productive Thinking“ (1945; Anwendung der Gestalttheorie auf problemlösendes Denken); Aufsatz „On Discrimination Experiments“ (1959) in der Zeitschrift Psychological Review 1988 Postume Auszeichnung von Max Wertheimer durch die Deutsche Gesell- schaft für Psychologie mit der Wilhelm Wundt-Medaille gegründet) habilitiert mit einer Arbeit über die Bewegungswahrnehmung („Experimen- telle Studien über das Sehen von Bewegung“; Phi-Phänomen). Mit dieser von Friedrich Schumann betreuten Arbeit sollte er rasch Weltruhm erlangen (Sarris 1987, 1989, 1995; Ash, 1989, 1995; Sekuler, 1996; Westheimer, 1999; s. auch Gundlach, 2014; Stock, 2014). Bereits vor und auch nach der Habilitation beschäftigte er sich mit einer Reihe von weiteren gestalttheoretischen Themen, etwa mit Fragen zur Musikpsychologie und zu den denkpsychologischen Besonderheiten bei Naturvölkern. Wertheimer forschte auch zur Symptomatik von Aphasien bei hirngeschädigten Patienten (Wertheimer, 1913; vgl. Sarris & Michael Wertheimer, 2001).