Katrin Meyer Macht und Gewalt im Widerstreit Politisches Denken nach Hannah Arendt Dieses eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und verfügt u.a. über folgende Funktionen: Volltextsuche, klickbares Inhaltsverzeichnis sowie Verlinkungen zu Internetseiten. Die gedruckte Ausgabe erhalten Sie im Buchhandel sowie über unsere Website www.schwabeverlag.ch. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen. Hannah Arendt (1906-1975) hat die politische Theorie des 20. Jahr- hunderts durch eine folgenreiche begriffliche Unterscheidung nachhaltig herausgefordert. Sie entwickelt in ihren Schriften Vita activa, Über die Revolution und Macht und Gewalt die These, dass Macht und Gewalt zwei politische Phänomene darstellen, die gegenteilige Ursachen und Effekte haben und darum radikal zu unterscheiden sind. Arendt unterzieht die politische Geschichte der Gegenwart im Lichte des Gegensatzes von Macht und Gewalt einer Relektüre und ent wickelt ein neues Verständnis von Revolution und Demo- kratie, von ökonomischer Rationalität und totaler Herrschaft. Den Ausgangspunkt ihrer politischen Philosophie bildet die Über- zeugung, dass sich der freiheitliche Charakter der Politik daran bemisst, wie weit sie Gewalt in ihren verschiedenen Facetten ver- meiden und transformieren kann. Katrin Meyer analysiert Arendts politische Philosophie, indem sie die deskriptive und normative Unterscheidung von Macht und Gewalt ins Zentrum rückt. Der Gegensatz der beiden Konzepte bie- tet einen Schlüssel, um wichtige Aspekte von Arendts politischem Denken zu klären, die bei Arendt selber wie auch in der Sekundär- literatur nur ansatzweise ausgeführt sind. Dies beinhaltet einer- seits die genauere Bestimmung des Konzepts der Macht, verstan- den als Ermöglichungs macht und als Durchsetzungsmacht, und deren Abgrenzung zu Formen der politischen Gewalt. Andererseits geht es darum, Arendts emphatisches Verständnis von Macht als Praxis des Anfangens, Teilens und der Teilhabe kritisch nach sei- nen Grenzen und Ausschlüssen zu befragen. Das Buch bietet eine klare und detaillierte Rekonstruktion von Arendts Verständnis von Macht und Gewalt und diskutiert dessen aktuelle Bedeutung für eine politische Theorie demokratischer Praxis. Katrin Meyer, geb. 1962, ist Privatdozentin für Philosophie an der Uni- versität Basel und Lehrbeauftragte für Philosophie und Gender Stu- dies an verschiedenen Schweizer Universitäten. Sie promovierte über Friedrich Nietzsche und habilitierte sich mit einer Studie über Michel Foucault und Hannah Arendt. Ihre aktuellen Forschungsgebiete sind Theorien der Macht und Gewalt, (Post-)Demokratie, Kritik der Sicherheit und feministische Theorien der Intersektionalität. Katrin Meyer Macht und Gewalt im Widerstreit Politisches Denken nach Hannah Arendt Schwabe Verlag Basel Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung im Rahmen des Pilotprojekts OAPEN-CH This work is licensed under the Creative Commons Attribution- NonCommercial-NoDerivs 3.0 which means that the text may be used for non-commercial purposes, provided credit ist given to the author. For details go to http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/ Schwabe Reflexe 47 Lektorat: Barbara Handwerker Küchenhoff, Schwabe Verlag Umschlaggestaltung: Heike Ossenkop, h.o.pinxit//editorial design, Basel Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel, Schweiz ISBN Printausgabe 978-3-7965-3556-7 ISBN E-Book 978-3-7965-3561-1 [email protected] www.schwabeverlag.ch Inhalt Einleitung 7 . ................................................................................. I. Macht ohne Gewalt: Arendts Vision sinnhafter Praxis 21 ...... 1. Macht und Gewalt als Gegensatz 23 ......................................... 2. Macht als gemeinsame Praxis und die Dialektik der Ermächtigung 30 . .................................................................... 3. Ermöglichungsmacht: gemeinsam anfangen 41 ..................... 4. Politik und das Recht auf Teilhabe an Macht 66 ...................... II. Machtteilung: Ambivalenzen der Macht bei Arendt 87 .......... 1. Durchsetzungsmacht: Die Macht der Mehrheit 92 .................. 2. Machtteilung 105 . ........................................................................ 3. Agon und Antagonismus 113 ..................................................... 4. Neue Perspektiven auf Gewalt 123 ............................................. III. Macht und Gewalt im Widerstreit: Politisches Denken nach Arendt 135 . ............................................. 1. Auf der Suche nach der reinen potentia 135 . ................................ 2. Der Zirkel von Macht und Gewalt nach Arendt und Foucault 146 ............................................................................. 3. Intersektionale Machtteilung: Die Bedeutung Arendts für feministische Politik und Theorie 167 . ..................................... Nachweise und Danksagung 187 . ................................................... Siglen 189 ........................................................................................ Literaturverzeichnis 191 . ................................................................. Einleitung Ein solches Absolutes ist auch die Macht; sie ist, wie man zu sagen pflegt, ein Selbstzweck. (H. Arendt) Macht ist Ausdruck menschlichen Handelns. Machtvolles Handeln macht Mögliches wirklich und ermöglicht, was wirklich werden soll; es gestaltet soziale Verhältnisse und realisiert subjektive Prak- tiken. Entsprechend weit ist die alltagssprachliche Bedeutungs- spanne des Wortes, die von überlegener Kraft, Gewalt und Zwang bis zu Einfluss, Wirkung und Potenz reicht und die eine definitori- sche Bestimmung des Begriffs erschwert. Was Macht bedeutet, so lässt sich analog zu Augustinus’ berühmtem Diktum über die Zeit sagen, ist allgemein bekannt, aber nur solange niemand danach fragt, was sie sei. Die Unschärfe des Machtbegriffs ist gerade in philosophischen Darstellungen des Themas mittlerweile ein Ge- meinplatz geworden. Doch ist sie auch ein Problem? Soll Macht überhaupt philosophisch bestimmt werden? Die Klärung des Machtbegriffs, um die es im Folgenden gehen wird, ist darum wichtig, weil der Machtbegriff seit der Neuzeit zu einem zentralen Bezugspunkt gesellschaftlicher und politischer Selbstverständigung geworden ist. Es ist die These dieses Buches, dass es möglich ist, anhand des Machtbegriffs geschichtliche Verhältnisse von naturhaften Ereignissen abzugrenzen und dem Verantwortungsbereich des Menschen zu unterstellen. Mit ihm lässt sich unterscheiden, welche sozialen Phänomene ethisch und poli- tisch rechtfertigungsbedürftig sind und welche nicht. Zugleich re- gelt er, wann das Nachdenken über Widerstand gegen bestehende Verhältnisse überhaupt sinnvoll ist und wann individuelle und kol- lektive Handlungsmacht an ihre Grenzen stößt. Der Machtbegriff ist, mit anderen Worten, eine sozialphilosophische und politische Grundkategorie, weil er den Rahmen absteckt und die Bedingungen formuliert, unter denen gesellschaftliche Praktiken und politische Verhältnisse denkbar sind. Unter der Perspektive des Begriffs kön- nen, wie unter einem Brennglas, die unterschiedlichsten Möglich- 7 Einleitung keiten gebündelt werden, wie sich Menschen als aktiv handelnde, politisch wirkende und sozial eingebundene Wesen verstehen. In Anlehnung an Martin Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein, die das Verstehen des eigenen Daseins strukturiert, eröffnet die Frage nach dem Sinn von Macht eine Perspektive auf das Politische als eine Praxis kollektiver und sinnhafter Selbstverständigung.1 Ein kurzer Blick auf die neuere Geschichte des Machtbegriffs und seiner Verwendung in politischen Theorien und Sozialphilo- sophien zeigt, dass sich der Sinn von Macht grundlegend unter- scheidet, je nachdem ob Macht im Hinblick auf die eigene Hand- lungs- und Gestaltungsmacht thematisiert wird – mithin als Bedingung und Effekt von Autonomie, Freiheit, Emanzipation und Kreativität – oder aber als Begriff für gesellschaftliche Strukturen, die solche Handlungsformen für die meisten Menschen gerade verunmöglichen, weil Macht mit Unterdrückung, Ungleichheit, Herrschaft, Gewalt und Entmündigung gleichgesetzt wird. Diese gegensätzliche Bestimmung des Machtbegriffs wird in wenigen Debatten so deutlich wie in jenen des Feminismus. Vor allem von den radikalen Feministinnen der 1970er Jahre wird Macht mit einer durchwegs negativen, weil unterdrückenden und gewalt- förmigen Herrschaftsstruktur gleichgesetzt. Das Patriarchat gilt als Name für eine gesellschaftliche Macht, die Frauen ökonomisch und sexuell ausbeutet, die in Familie, Politik, Wissenschaft und Kultur Normen etabliert, die Männlichkeit aufwerten und Weib- lichkeit abwerten, und die es Frauen verunmöglicht, eigene Begeh- rens- und Handlungsformen zu entwickeln. Macht ist in diesem Kontext immer männlich konnotiert. «It’s hierarchical, it’s domi- nant, it’s authoritative», wie es Catharine MacKinnon in ihrem Text Desire and Power formuliert.2 Entsprechend ist die Vorstellung weib- licher Macht für MacKinnon ein Widerspruch in sich selbst.3 1 Vgl. zur konstitutiven Geschichtsverwiesenheit solcher Selbstverständigung Angehrn, Emil: Wozu Philosophiegeschichte? in: ders.: Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken, Würzburg 2008, S. 111–133. 2 MacKinnon, Catharine: Desire and Power, in: Theorizing Feminisms, hg. von Elizabeth Hackett und Sally Haslanger, New York/Oxford 2006, S. 256–265, hier S. 260. 3 Ebd. 8
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