Macht und Erziehung – Erziehungsmacht: Über die Machtanwendung in der Erziehung Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vorgelegt von Anica Maria Plaßmann Kiel 2003 Erstgutachter: Prof. Dr. Wilhelm Brinkmann Zweitgutachter: Dr. Peter Brozio P.D. Tag der mündlichen Prüfung: 03.02.2004 Durch den zweiten Prodekan, Prof. Dr. Nübler zum Druck genehmigt am: 22. September 2004 Hiermit bedanke ich mich für die Unterstützung durch die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. I Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . 1 1.1. Eine erste Begriffsbestimmung von Macht . . . . . 3 1.2. Pädagogische Relevanz des Themas . . . . . 10 1.3. Der Forschungsstand . . . . . . . . 23 1.4. Die eigene Fragestellung . . . . . . . 32 1.5. Methoden der Arbeit . . . . . . . . 33 1.6. Gliederung der Arbeit . . . . . . . . 36 2. Der Machtbegriff . . . . . . . . 40 2.1. Unifaktorielle Konzepte . . . . . . . 42 2.1.1. Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht (ca. 1886) . . . 42 2.1.2. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (1921) . . . . 48 2.1.3. Dieter Claessens: Rolle und Macht (1968) . . . . . 53 2.1.4. Hannah Arendt: Macht und Gewalt (1969) . . . . . 57 2.1.5. Niklas Luhmann: Macht (1975) . . . . . . 61 2.2. Pragmatisch ausgerichtete Konzepte . . . . . 65 2.2.1. Niccolò Machiavelli: Il Principe (1513) . . . . . 66 2.2.2. Alfred Adler: Handbuch der Individualpsychologie (1926) . . . 69 2.3. Mehrdimensionale Konzepte . . . . . . . 75 2.3.1. Michel Foucault: Dispositive der Macht (1987) . . . . 75 2.4. Zusammenfassung . . . . . . . . 80 3. Macht in der pädagogischen Diskussion . . . . . 86 3.1. Unifaktorielle Konzepte . . . . . . . 87 3.1.1. Fragmente einer pädagogischen Machttheorie . . . . 87 3.1.2. Käte Meyer-Drawe: Versuch einer Archäologie des pädagogischen Blicks (1996) . . . . . . . . 90 3.1.3. Käte Meyer-Drawe: Erziehung und Macht (2001) . . . . 91 3.2. Pragmatisch ausgerichtete Konzepte . . . . . 92 3.2.1. Mathilde Themis Vaerting: Die Macht der Massen in der Erziehung Machtsoziologische Entwicklungsgesetze der Pädagogik (1929) . . 93 3.2.2. Ernst Lichtenstein: Macht und Erziehung (1962) . . . . 95 II 3.2.3. Werner Maria Beer: Macht und Verantwortung. Die Verwaltung der Macht im Werk Reinhold Schneiders als erzieherisches Anliegen unserer Zeit (1966) . . . . . . . . 96 3.2.4. Walter Horney u.a.: Macht (1970) . . . . . . 98 3.2.4. Mathilde Themis Vaerting: Der Notstand der Universität zwischen Macht und Geist (1971) . . . . . . . 98 3.2.6. Hans Thiersch: Angst, Abwehr, Hilflosigkeit, Takt und Notwendigkeit - Fragen zum pädagogischen Umgang mit Macht (1995) . . . 100 3.2.7. Michaela Glöckler: Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung. Grundlagen einer Erziehung zur Konfliktbewältigung (1997) . . 102 3.3. Mehrdimensionale Konzepte . . . . . . . 103 3.3.1. Friedrich Glaeser: Erzieherische Macht (1928) . . . . 103 3.3.2. Erich Peschel: Macht und Grenzen der Erziehung oder „die heimlichen Miterzieher“: Eine Bestandsaufnahme wesentlicher Erziehungsfaktoren (1979) 106 3.3.3. Ludwig A. Pongratz: Schule als Dispositiv der Macht – pädagogische Reflexionen im Anschluß an Michel Foucault (1990) . . . 107 3.3.4. Arthur Brühlmeier: Erziehungsmacht und Konfliktmanagement (1993) . 108 3.3.5. Norbert Ricken: In den Kulissen der Macht: Anthropologien als figuierende Kontexte pädagogischer Praktiken (2000) . . . 109 3.3.6. Christoph Fantini: Macht in der Pädagogik. Theorie eines Tabu – Verleugnungspraxis in der „Neuen Koedukationsdebatte“ (2000) . . 110 3.7. Zusammenfassung . . . . . . . . 114 3.8. Zwischenbilanz . . . . . . . . 122 4. Die Architektonik von Machtverhältnissen . . . . . 124 4.1. Individualität . . . . . . . . . 126 4.2. Anderswertiges Potenzial . . . . . . . 129 4.3. Freiheit . . . . . . . . . 135 4.4. Anerkennung . . . . . . . . . 141 4.5. Überlegenheit . . . . . . . . . 144 4.6. Abhängigkeit . . . . . . . . . 145 4.7. Verantwortung . . . . . . . . 154 4.8. Passungsbereitschaft . . . . . . . . 160 4.9. Zeit . . . . . . . . . . 166 4.10. Zusammenfassung . . . . . . . . 169 III 5. Die Bestandteile der Macht in pädagogischen Kontexten . . . 175 5.1. Überzeugungsmacht . . . . . . . . 178 5.2. Informationsmacht . . . . . . . . 180 5.3. Verfügungsmacht . . . . . . . . 181 5.4. Animiermacht . . . . . . . . . 183 5.5. Zusammenfassung . . . . . . . . 185 6. Macht in pädagogischen Kontexten . . . . . . 192 6.1. Macht in der Familie . . . . . . . . 193 6.1.1. Die Elternteil-Kind-Beziehung . . . . . . 194 6.1.2. Elternmacht . . . . . . . . . 200 6.1.3. Kindesmacht . . . . . . . . . 213 6.1.4. Machtmissbrauch in der Familie . . . . . . 217 6.2. Macht in der Schule . . . . . . . . 228 6.2.1. Die Lehrer-Schüler-Beziehung . . . . . . 234 6.2.2. Lehrermacht . . . . . . . . . 239 6.2.3. Schülermacht . . . . . . . . . 253 6.2.4. Machtmissbrauch in der Schule . . . . . . 259 6.3. Zusammenfassung . . . . . . . . 270 7. Erziehungsmacht . . . . . . . . 274 7.1. Erziehungsmacht als Vollmacht . . . . . . 277 7.2. Erziehungsmacht und Eigenmacht . . . . . . 280 7.3. Erziehungsmacht zwischen Allmacht und Ohnmacht . . . 284 7.4. Ideale Erziehungsmacht . . . . . . . 286 7.5. Missbrauch der Erziehungsmacht . . . . . . 288 7.6. Zusammenfassung . . . . . . . . 294 8. Resümee . . . . . . . . . 296 Anhang . . . . . . . . . 304 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . 306 1 „Macht ist für sich allein weder gut noch böse. Sie ist ein Werkzeug zur Entfaltung der Menschheit wie andere auch. Gut oder böse, weit- oder kurzsichtig, stark oder schwach sind nur, die sich ihrer bedienen. Böse wird sie in schwacher Hand immerzu. Sie schafft dort aller Ge- gengewalt die ersehnte Gelegenheit. Die Macht ist ein Spielfeld des Willens. Kraft verleiht ihr Erfolg, Weisheit, Dauer, Liebe, Segen.“1 1. Einleitung Macht ist ein universelles Phänomen menschlichen Seins.2 Sie ist als Lebensgestaltungsprinzip zu betrachten. Machtaspekte sind Führen und Folgen, Dominanz und Gehorsam, Hilfe und Hilfsbedürftigkeit, Überordnung und Unterordnung sowie Konflikte jeglicher Art, die auf Besitz, Fähigkeiten, Wissen, Zuständigkeit oder Vertrauen basieren. Jeder Mensch übt Macht aus und jeder erfährt, was die Unterwerfung unter die Macht anderer bedeutet. Der Umgang mit Macht gehört zu den grundlegenden Erfahrungen der Menschseins. Elias versteht Macht als „eine Struktureigentümlichkeit (...) aller menschlichen Bezie- hungen“3. Als solche ist sie auch in erzieherischen Beziehungen zu finden. Menschen können als Mächte miteinander kooperieren oder sich als Macht und Gegenmacht gegenüberstehen. Die Macht von Menschen bewegt sich auf der Skala zwischen Allmacht und Ohnmacht. Allmacht bedeutet das Vermögen zu allem zu haben, so auch das Vermögen zu gegenwärtig unmöglich erscheinenden Wirkungen. Hingegen beinhal- tet Ohnmacht Wirkungslosigkeit. Die Macht eines Individuums liegt zwischen den Extremen Allmacht und Ohnmacht.4 Sie sind die Pole, zwischen denen menschliche Machterfahrungen anzusiedeln sind. 1 Jordis von Lohausen (1981) S. 376. 2 Burkolter-Trachsel vertritt sogar die Auffassung, Macht sei ein gesamtgesell- schaftliches Universale. In: Verena Burkolter-Trachsel (1981) S. 2. 3 Norbert Elias (1996) S. 77. 4 Schleiermacher bezieht sich auf diesen Sachverhalt und seine pädagogische Entsprechung. In: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1957) S. 49 ff. 2 Das Machtphänomen ist ausgesprochen wandlungsfähig. Sowohl posi- tive als auch negative Bedeutungsgehalte gehören hinzu. Macht aktua- lisiert sich in jeglicher Form menschlichen Miteinanders. Sie nimmt keine Rücksicht auf moralische Setzungen wie gut oder böse. Sie kann in Zusammenhang beispielsweise mit Unterstützung, Befreiung, Kom- petenz, Unterweisung, Beratung, Ausbeutung, Anordnung, Bevormun- dung, Abhängigkeit und Begrenzung auftreten. In dieser erziehungswissenschaftlich ausgerichteten Arbeit geht es darum, das Phänomen Macht in den Erziehungszusammenhang ein- zubetten. Nicht alle Ausdrucksformen der Macht sind mit Erziehung zu vereinbaren. Deshalb ist eine Grenze zu ziehen zwischen den mit Er- ziehung verträglichen Machtpraktiken wie Hilfe und Unterstützung als Machtgebrauch und schädlichen Praktiken wie Unterdrückung und Verletzung als Machtmissbrauch. Nicht jede Machtausübung ist erzie- herisch in dem Sinne, dass Erziehungsintentionen umgesetzt werden. Nur ein Teilbereich der Macht ist erzieherisch akzeptabel. Dieser Be- reich ist derjenige der Erziehungsmacht, d.i. Machtausübung mit dem Ziel zu erziehen. Macht geht nicht in Erziehung auf und Erziehung nicht im Phänomen der Macht. Es existiert hingegen eine Schnittmen- ge, deren Elemente unter den Begriff der Erziehungsmacht gefasst werden. In der vorliegenden Arbeit geht es darum, die Bedeutung des Phäno- mens Macht für die Erziehung zu erschließen. Dabei wird der Gebrauch und der Missbrauch von Macht in der Erziehung betrachtet. In diesem ersten Kapitel soll zunächst der Begriff Macht bis zu seinen sprachlichen Wurzeln zurückverfolgt und auf seinen Bedeutungsgehalt untersucht werden. Die hier gewonnenen Erkenntnisse werden in einer ersten Begriffsbestimmung von Macht zusammengetragen. Danach wird der Erziehungsbegriff erläutert, welcher den Ausführungen über 3 das Thema Macht zugrunde liegt. Dieser befindet sich in weitreichen- der Übereinstimmung mit Schleiermachers Standpunkt. Es wird des Weiteren geklärt, welche Verbindung zwischen den Phänomenen Er- ziehung und Macht besteht und weshalb Macht für Erziehung von Be- lang ist. In einem Rekurs auf die Handhabung des Machtbegriffs von Seiten der Pädagogen in Fachzeitschriften und Artikeln aus Wörterbüchern und Lexika wird der Stand der Forschung herausgearbeitet. Es folgt die eigene Fragestellung und die Erläuterung der verwendeten Methoden und wissenschaftlichen Untersuchungsinstrumente. Das Kapitel schließt mit einem kommentierten Überblick über die Gliederung der Arbeit. 1.1. Eine erste Begriffsbestimmung von Macht Im vorliegenden Kapitel soll die Entwicklung des Machtbegriffs in der Handhabung durch Wörterbücher der deutschen Sprache dargestellt werden. Dabei wird mit der etymologischen Rückführung des Terminus Macht auf seine sprachlichen Wurzeln begonnen. Es schließt die Ent- wicklung und Entfaltung des Begriffs in Wörterbüchern des 19. Jahr- hunderts an. In der dritten Textsequenz werden die aktuellen Wörter- bücher daraufhin untersucht, welchen Aufschluss sie über die derzeiti- ge Bedeutung des Begriffs Macht geben. Schließlich folgt die Darstel- lung des eigenen Machtbegriffs. Die etymologische Betrachtung Die begriffsgeschichtliche Betrachtung des Terminus Macht zeigt, dass es sich um eine vergleichsweise alte Wortbildung handelt. Kluges E- tymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache sowie das Etymo- logische Wörterbuch des Deutschen datieren das Entstehen des Be- 4 griffs auf das 8. Jahrhundert zurück.5 Der aktuelle Begriff Macht stammt von dem althochdeutschen Substantiv maht ab. Dieses steht für Vermögen, Körperkraft, Anstrengung, Gewalt, Vollmacht, Menge und Fülle. Es wird im 9. und 10. Jahrhundert neben der althochdeut- schen Kollektivbindung gimaht, der mittelhochdeutschen gemacht und dem neuhochdeutschen Gemächt auch mit der Bedeutung männlicher Genitalien verwendet. Das mittelhochdeutsche und altsächsische maht, das afrikanische mecht, macht, das mittelniederdeutsche, altfrie- sische und mittelniederländische macht, das angelsächsische und alt- englische miht und meaht, das englische might und das gotische mahts werden mit der Bedeutung Macht, Kraft oder Führung verwen- det. Das germanische mahti- ist ein mit ti-Suffix gebildetes Abstraktum mit i-Stamm. Es zählt zu den unter ´mögen´ genannten Verbformen im Sinne von mag, kann, vermag. Das germanische Substantiv mahti- , eine erschlossene Form, steht für Macht und Kraft.6 Diese Bedeutung gilt gleichfalls für das neuniederländische macht, might aus dem Neu- englischen oder máttur aus dem Neuisländischen.7 Das letztere ist vergleichbar mit dem altnordischen Substantiv mãttr mit tu-Suffix mit der Bedeutung Kraft und Gesundheit. Laut Trübners Deutschem Wör- terbuch von 1943 ist das selbe ti-Suffix auch in Flucht, Zucht, Saat und Tat enthalten.8 Trübners Wörterbuch führt das Substantiv Macht auf das Verbalabs- traktum zum gotischen magan im Sinne von können, mögen, vermö- gen zurück. Die Grundbedeutung mögen wurde später von können verdrängt. Die Verwendung von Macht im Sinne von physischer Kraft bzw. Stärke ist heute, außer in Ohnmacht, nicht mehr üblich. Später wurde die Bedeutung von Macht erweitert auf die Möglichkeit, den ei- genen Willen auch gegen den anderer durchzusetzen, als „´Wirkungs- 5 Vgl. Kluge Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2002) S. 587 und Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993) S. 821. 6 Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993) S. 821. 7 Vgl. Kluge Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2002) S. 587. 8 Vgl. Trübners Deutsches Wörterbuch (1943) Bd. 4, S. 524.
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