HERMANN REICHERT Literaturgeschichte 750-1500 Wintersemester 2008/2009 ALTHOCHDEUTSCHE LITERATUR An althochdeutschen Texte bespreche ich hier: Hildebrandslied, Wessobrunner Gebet, Otfrids Evangelienhar- monie, Merseburger (und einige ähnliche) Zaubersprüche. Aufgabe 1: Über weitere vier Themen, die ich nicht bespreche, verschaffen Sie sich bitte anderswoher einen Überblick: Glossare (besonders: Abrogans), Tatian, Straßburger Eide, Notker. Aufgabe 2: Suchen und lesen Sie im ‚Reallexikon der germanischen Altertumskunde‘ den Artikel ‚Heldenliederbuch Karls des Großen‘. Nicht vergessen: auch im Unterkapitel ‚Otfrid‘ sind ein paar Aufgaben in der Bibliothek zu lösen. DAS HILDEBRANDSLIED In [ ] setzen die Herausgeber Textteile, die der Schreiber zur Verdeutlichung hinzufügte, die aber aus metrischen Gründen nicht zum mündlich vorgetragegen Heldenlied gehört haben können. Abweichungen von der Handschrift (Korrekturen vermuteter Schreibfehler) sind durch Kursivdruck gekennzeichnet. ... bedeutet, dass der Schreiber etwas ausgelassen hat, weil offensichtlich Text fehlt (beim Abschreiben irrtümlich übersprungene Wörter bzw. Zeilen). as. = altsächsisch; ahd. = althochdeutsch Die Faksimiles des Hildebrandsliedes kopierte ich von von Arnd GROSSMANN, Berlin, http://www.ib.hu- berlin.de/~hab/arnd/manuskript.html Die Übersetzung veränderte ich stark. Ich hörte das sagen, 1 Ik gihorta dat seggen, dass sich Herausforderer einzeln begegneten, ðat sih urhettun ænon muotin, oder: ‚abmühten‘ – muotin ist an mhd. müejen oder engl. meet anschließbar. - urhēto ‚Herausforderer‘, zusam- mengesetzt aus ur- (nhd. Präfix er-) und as. hētan ‚heißen‘. - ænōn ‚allein‘, Adv. zum Zahlwort as. ēn ‚ein‘. Hildebrand und Hadubrand, zwischen zwei Heeren. Hiltibrant enti Haðubrant untar heriun tuem. untar ‚unter‘. Sohn und Vater. Ihre Rüstung richteten sie, sunufatarungo iro saro rihtun. sunufatarungo ‚Sohnvaterung‘, ein nur hier belegtes Kompositum. - saro ‚Rüstung‘. bereiteten sich ihre Kampfgewänder, gürteten sich ihre 5 garutun se iro guðhamun, gurtun sih iro suert Schwerter um, ana, garwjan ‚fertig machen‘. - as. gūð ahd. gund ‚Kampf‘. - hama ‚Kleidungsstück‘ (dt. Hemd). die Helden, über die Panzerringe, als sie zu dem Kampf helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun, ritten. hring ‚Ring‘ (hier des Panzers). - tō ‚zu‘. - hilt f. ‚Kampf‘ (synonym gund). Hildebrand sprach, Heribrands Sohn, er war der ältere Hiltibrant gimahalta [Heribrantes sunu]: her Mann, uuas heroro man, as. gi-mahlian ‚sprechen‘ (für offizielles Sprechen gebraucht, z. B. auch für die Rede vor Gericht). - her ‚er‘ (die Basis für engl. he und dt. er). - hēroro ‚der ältere‘: nhd. hehr hat die Bedeutung verändert. des Lebens erfahrener. Er begann zu fragen, ferahes frotoro; her fragen gistuont ferah ‚Fleisch (als Sitz des Lebens)‘. - frōt ‚klug, weise, alt‘. - gistantan ‚beginnen‘. mit wenigen Worten, wer sein Vater sei (‚wäre‘) fohem uuortum, hwer sin fater wari fōhem ‚wenigen‘; Dat. Pl. (etym. zu lat. paucus). unter den Menschen im Heer .... 10 fireo in folche, . . . . . . . . . . . . . fireo Gen. Pl. ‚Menschen‘. folk ‚Kriegerschar‘, erst nhd. kam es zur Bedeutung ‚Gesamtvolk‘. „...oder aus welcher Familie du bist. . . . . . . . . . ‚eddo hwelihhes cnuosles du sis. cnuosal ‚Geschlecht, Familie‘. - sīs Konjunktiv (‚seiest‘). 5 Wenn Du mir einen sagst, weiß ich mir die anderen, ibu du mi ênan sages, ik mi de odre uuet, ibu ‚wenn‘ (engl. if). Kind, im Königreich, bekannt ist mir das ganze große chind, in chunincriche: chud ist mir al irmindeot‘. Volk“. Königreich: Italien im Gegensatz zum Kaiserreich Byzanz. - chūd: dt. kund, im Altsächsischen ist das n vor d geschwunden. - irmin- ‚groß, erhaben, umfassen, allgemein‘. - deot > mhd. diet ‚Volk‘. Hadubrand sprach, Hildebrands Sohn: Hadubrant gimahalta, Hiltibrantes sunu: „Das sagten mir unsere Leute, 15 ‚dat sagetun mi usere liuti, alte und weise, die früher schon da waren, alte anti frote, dea erhina warun, ahd. fruot as. frod ‚weise; erfahren; klug‘. - êrhin ‚früher‘. dass Hildebrand mein Vater heiße. Ich heiße Hadubrand. dat Hiltibrant hætti min fater: ih heittu Ha- dubrant. hætti ‚hieße‘ (Konj. Prät.) Vormals ist er nach Osten weggegangen, er floh den forn her ostar giweit, floh her Otachres nid, Zorn Odoakers, forn ‚die alte Zeit‘. - as. giwītan ‚gehen‘. - as. nīd ‚Hass, Zorn, Neid‘. dorthin mit Dietrich und vielen seiner Kämpfer. hina miti Theotrihhe enti sinero degano filu. degan ‚Kämpfer, Krieger‘. - ‚seiner‘: Dietrichs. Er ließ im Lande arm zurück 20 her furlaet in lante luttila sitten as. farlātan ‚verlassen; zurücklassen‘. - luttil ‚klein, unbedeutend‘. - sitten ‚sitzen‘. die Frau im Haus und das unerwachsene Kind, prut in bure, barn unwahsan, prūt ‚Frau‘, nhd. Braut. - būr ‚Haus‘ (nhd. Bau). - barn ‚Kind‘. erblos: Er ritt nach Osten hin. arbeo laosa: her raet ostar hina. ahd. rait ‚ritt‘. Deswegen konnte seither Dietrich nicht entbehren des sid Detrihhe darba gistuontun darbā ‚Nichthaben, Verlust‘. - gistantan ‚entstehen, bevorstehen‘ (gistuontun Prät., 3. Pl.) ‚es standen Verluste bevor‘. - dem Dietrich (Dat.): ‚deswegen standen Dietrich Entbehrungen meines Vaters bevor‘ = ‚deswegen be- fürchtete Dietrich, Hildebrand entbehren zu müssen‘: Dietrich wollte H. bei sich haben, um ihn nicht entbehren zu müssen. meinen Vater (ahd.: Genitiv): Das (Dietrich) war ein so fatereres mines: dat uuas so friuntlaos man. freundloser Mann. fatereres ist wahrscheinlich Fehlschreibung für fateres. Eine alternative Deutung wäre: Gen. von fater-ero ‚Va- ter-Erde, Vaterland‘, aber ein solches Wort wäre sonst nirgends belegt, und es ist auch von der Sache her nicht wahrscheinlich, dass Hadubrand von Italien in Hinblick auf Dietrich als ‚mein Vaterland‘ spricht. Er war dem Odoakar unmäßig feind, 25 her was Otachre ummet tirri, ‚er‘: Hildebrand. - as. tirri (ahd. hieße es zirri) ‚zornig, feindlich‘. der liebste der Kämpfer Dietrichs. degano dechisto miti Deotrichhe. dechi ‚lieb‘. - miti ‚mit‘, hier ‚bei‘. Er war immer an der Spitze des Heeres, ihm war immer her was eo folches at ente: imo was eo fehta ti der Kampf zu lieb, leop: ēo ‚immer‘ (in nhd. ewig). - folk s. V. 10. - enti ‚Ende‘, bei Dingen mit zwei Enden meist die Spitze. - fehta ‚Kampf‘ (dt. fechten). Bekannt war er...tapferen Männern. chud was her ... chonnem mannum. chūd s. V. 13. - chōni nhd. kühn. Ich glaube nicht, dass er noch lebt...“ ni waniu ih iu lib habbe‘ ... wāniu entspricht nhd. wähne. - iu = )o ‚immer, jemals‘. - līb entspricht nhd. Leib, die ältere Bedeutung ist aber Leben (wie engl. life) - habbe ‚habe‘ (Konjunktiv). 6 „Weißt Du, großer Gott“, sprach Hildebrand, „oben vom 30 ‚wettu irmingot [quad Hiltibrant] obana ab Himmel, hevane, as. wēttū = wēt dū ‚weißt du‘. - irmin- s. V. 13. dass du (Hadubrand) nie mit einem so verwandten Mann dat du neo dana halt mit sus sippan man dana ‚von dannen‘ (von Anfang an), neo dana ‚noch nie‘. - halt ‚mehr, eher‘ (auch heute noch halt mundartlich als Füllwort); gemeint ist Hadubrand, der einen Kampf ausführt, nicht Gott, der sie in einen Kampf führt. einen Streit austrugst.“ Dinc ni gileitos‘ ... dinc ‚Ding, Sache‘: Streitsache vor Gericht (z. B. durch Zweikampf ausgetragen), hier: Kampf. - neo ... ni dop- pelte Verneinung. - gileiten ‚leiten, bringen, führen‘. Er wand sich dann vom Arme gewundene Ringe ab, want her do ar arme wuntane bauga, baug ‚Armreif‘. aus kaiserlichem Gold gemacht, wie sie ihm der König cheisuringu gitan, so imo se der chuning gap, gab, cheisur-ing ‚Kaiser-‘: in nhd. Wortbildung würde Kaiserling o. dgl. entsprechen; gemeint ist ‚Goldmünze‘: der Kaiser hatte das Vorrecht, Goldmünzen zu prägen. Goldene Armringe waren das Ehrengeschenk an Krieger schlechthin. Wenn für ihre Herstellung Gold byzantinischer Münzen verwendet wurde, garantierte das einen ho- hen Feingehalt, also hohen Wert. - ‚der König‘: Attila? der Herrscher der Hunnen. „Das gebe ich dir nun als 35 Huneo truhtin: ‚dat ih dir it nu bi huldi gibu‘. Gunstbeweis!“ truhtin ‚Herr, Herrscher‘. Dass Theoderich zur Eroberung Italiens hunnische Hilfe benötigte, ist unhistorisch, aber ein zentrales Thema der Heldensage. In allen späteren Dietrich-Dichtungen, in denen der Name des Hun- nenkönigs genannt wird, ist es Attila. Dieser war aber schon 453 gestorben, zur Zeit von Theoderichs Geburt. it ‚es‘. - bī huldi entspr. nhd. bei Huld ‚als Zeichen der Huld‘. - wörtlich: ‚dass ich dir es nun bei Huld gebe‘. Hadubrant, Hildebrands Sohn, sprach: Hadubrant gimahalta, Hiltibrantes sunu: „Mit dem Speer soll der Mann Geschenke annehmen ‚mit geru scal man geba infahan, (wörtl. ‚Gabe empfangen‘), gēr ‚Speer‘. - geba ‚Gabe; Geschenke‘. - infāhan ‚empfangen; annehmen‘. Spitze gegen Spitze! ... ort widar orte. ............... ort ‚Spitze‘. Du dünkst dich, alter Hunne, unmäßig schlau. du bist dir alter Hun, ummet spaher, ‚bist dir (ein) unmäßig Kluger‘ = ‚dünkst dich ...‘. - ummet = un-met ‚unmäßig‘. - spāhi ‚klug, schlau‘. Verlockst mich mit deinen Worten, willst deinen Speer 40 spenis mih mit dinem wortun, wili mih dinu nach mir werfen. speru werpan. spanan ‚überreden, verlocken‘. - wörtlich: ‚ willst mich mit deinem Speer werfen‘. Du bist ein so alt gewordener Mann, wie du ewig List Pist also gialtet man, so du ewin inwit fortos. führtest. inwitti ‚List, Betrug‘. - fuoren *fōrjan ‚führen‘. - Sinn: Weil du ein Betrüger bist, konntest du alt werden – sonst wärst du im Kampf gefallen. Das sagten mir Seefahrer, Dat sagetun mi seolidante līdan ‚fahren; gehen‘. - sēolīdante ‚seefahrende‘ (Part. Präs.) die nach Westen (kamen) über das Wendelmeer, dass westar ubar wentilsêo, dat inan wic furnam: ihn (ein) Kampf hinwegnahm: westar ‚westwärts‘, anschließend an sēolīdante, wörtl.: ‚westwärts über die W. Seefahrende‘. - Die ‚Wendelsee‘ muss das Mittelmeer sein. Vielleicht hieß es es so nach den Wandalen, die es lange beherrscht hatten. Oder: ‚Ringmeer‘ (zu dt. winden; der Okeanos, von dem man glaubte, dass er rund um die Erde liege). Das Mittelmeer ist nicht Teil des Außenmeeres; zu jedem Meer ‚Okeanos‘ sagen kann nur ein Autor, der mit geographischen Termini sorglos umgeht. Daher bleiben viele bei ‚Wandalenmeer‘. Im Altenglischen heißt diesem Wort aber im- mer ‚Okeanos‘; daher ziehe ich die Deutung vor, dass der binnenländische Autor das Wort aus einem englischen Text kannte, ‚gewundenes Meer‘ als ‚Meer überhaupt‘ interpretierte und das Mittelmeer meinte. - wīc ‚Kampf‘. Tot ist Hildebrand, Heribrands Sohn!“ tot ist Hiltibrant, Heribrantes suno‘. 7 Hildebrand, Heribrands Sohn (oder besser: Hadubrand, 45 Hiltibrant gimahalta, Heribrantes suno: Hildebrands Sohn), sprach: Die folgenden Zeilen geben einen besseren Sinn, wenn man sie Hadubrand zuweist. Dass diese Vorwürfe von Hildebrand an Hadubrand gerichtet werden, widerspricht der Logik des Gedichts. Vielleicht schrieb der Schrei- ber in Zeile 45 die Namen wegen Zeile 44 irrig ab. Der Sinn ist wohl: Hadubrand meint, Hildebrand müsse ein Lügner sein, weil ein Recke des landflüchtigen Dietrich nicht zu einer so guten Rüstung kommen könnte; es müsste ein Hunne sein, der im Ostreich zu Hause ist und von seinem Herrn reich beschenkt werden kann. Dage- gen ist Hildebrand stolz, vom Kaiser trotz seines Daseins als Flüchtling für besondere Taten so reich beschenkt worden zu sein. Hugo KUHN will dagegen den Originaltext belassen: Hildebrand sei der Sprecher und meine, an Hadubrands guter Rüstung erkenne man, dass er nicht das Schicksal eines Exilierten zu tragen gehabt habe. Nicht nötig ist es dagegen, die folgende Rede an eine andere Stelle, nach Zeile 57, zu versetzen. „Wohl sehe ich an deiner Rüstung, ‚wela gisihu ih in dinem hrustim, gi-sihu ‚erblicke‘: gi- ist perfektiv/resultativ, sihu ‚sehe‘. - hrust ‚Rüstung‘. dass du daheim einen guten Herrn hast, Dat du habes heme herron goten, dass du in diesem Reich noch nie vertrieben wurdest. dat du noh bi desemo riche reccheo ni wurti‘. – recke bezeichnet ahd. noch den Helden, der ohne eigenen Landbesitz, z. B. als Vertriebener, durch das Land zieht; mhd. steht es schon für ‚Held‘ allgemein. Wohlan, nun, waltender Gott, sagte Hildebrand, Un- ‚welaga nu, waltant got [quad Hiltibrant], we- heils-Schicksal geschieht: wurt skihit. welaga Interjektion, etwa ‚nun gut‘ (zu engl. well). - wēwurt: wē ‚Unheil‘, dt. weh; wurt ‚Schicksalsmacht‘. Ich wanderte 60 Sommer und Winter außer Landes; 50 ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante, wallōn ‚wandern‘ (dt. Wallfahrt). - 60 ist die Summe aus Sommern und Wintern; also war er 30 Jahre im Exil gewesen. wo man mich immer einordnete in das Heer der Kämp- dar man mih eo scerita in folc sceotantero : fer der ersten Kampfreihe. scerian ‚einordnen‘, wörtl. ‚scharen‘. - ‚Schießenden‘ = ‚Schützen‘ = Krieger vorne in der ersten Reihe; diese haben die Speere auf das gegnerische Heer zu schießen, nicht etwa die von hinten. - folk s. V. 10. Wenn man mir an jedweder Burg den Tod nicht zufügte: so man mir at burc ênigeru banun ni gifasta, einig ‚irgendein‘. - bana ‚Tod‘. - gi-festen ‚festmachen, befestigen‘, hier ‚zufügen‘. Nun soll mich das liebe/eigene Kind mit dem Schwerte nu scal mih suasat chind suertu hauwan, schlagen, altnord. sváss ‚lieb‘; got. swēs ‚eigen‘; insgesamt ist die Zahl der Belege nicht so groß, dass sich die Bedeutung einwandfrei ermitteln ließe. - hauwan ‚hauen, schlagen‘. niederschlagen mit seinem Schwert, oder aber ich ihm breton mit sinu billiu, eddo ih imo ti banin wer- zum Mörder werden. dan. bretōn ‚niederschlagen‘. - billi ‚Schwert‘. - bano ‚Mörder‘. Du kannst wohl leichtlich – wenn dir deine Kraft aus- 55 doh maht du nu aodlihho, ibu dir din ellen reicht – taoc, aod-lihho ‚mit Leichtigkeit‘: ōd- ‚leer‘, (dt. öde); -lihho dt. -lich. - ibu ‚wenn‘ (engl. if). - ellen ‚Kraft‘. - tugan ‚taugen, zu etwas nützlich sein‘. von einem so alten Mann eine Rüstung gewinnen, in sus heremo man hrusti giwinnan, hêr dt. hehr; ursprünglich ‚grauhaarig‘? Raub erbeuten, wenn du dazu irgendein Recht hast. rauba birahanen, ibu du dar enic reht habes‘. birahanen ‚erbeuten‘. - ēnic ‚irgendein‘. Der sei doch nun der feigste, sagte Hildebrand, der Ost- ‚der si doh nu argosto [quad Hiltibrant] ostar- leute, liuto, arg ‚feig‘. - ‚Ostleute‘: ein Synonym für ‚Hunnen‘. der dir nun den Kampf verweigerte, nun es dich so wohl der dir nu wiges warne, nu dih es so wel lustit, gelüstet wīges Gen. von wīg ‚Kampf‘. - warnen hier ‚verweigern‘, eigentlich ‚vor etwas warnen‘. 8 60 gudea gimeinun: niuse de motti, (nach) gemeinsamem Kampf; versuche wer könne, as. gHð ahd. gund ‚Kampf‘. - niosen ‚versuchen‘. - de Relativpartikel ‚der, der‘. - mōttan as. (ahd. muozzan) ‚können, müssen‘. welcher von beiden heute die Rüstung aufgeben müsse hwerdar sih hiutu dero hregilo hrumen muotti, hwerdar ‚welcher von beiden‘ (dt. weder). - sich hrHmen Platz machen, etwas aufgeben‘ dt. räumen. oder dieser Brünnen beider walten (wird).“ Erdo desero brunnono bedero uualtan‘. erdo ‚oder‘. Da ließen sie zuerst die Eschenlanzen losgehen do lêttun se ærist asckim scritan, lēttun Prät. von lātan ‚lassen‘. - ærist ‚zuerst‘, Superlativ von ēr ‚früh‘ (der Komparativ z. B. in dt. eher). - ask ‚Esche, Speer‘: die Esche ist der Baum mit geraden Ästen, daher für Speere geeignet. - scrītan ‚schreiten‘. in scharfen Schüssen, das blieb in den Schilden stecken. scarpen scurim: dat in dem sciltim stont. skHr ‚Schauer‘ (von den wie Hagelschlag auf den Gegner prasselnden Schlägen). - stantan ‚stehen‘, hier: ‚ste- ckenbleiben‘. Da gingen sie auf einander los, die gemalten (?) Bretter 65 do stoptun to samane staim bort chludun, (Schilde) erdröhnten (?), stōpian ahd. stuofen (‚feste Schritte machen, stapfen; zu dt. Stufe,). - to samane ‚zusammen‘. - staim zu altnord. steina ‚malen‘?, bort ‚Brett‘ (dt. Bord). - hlHdan ‚erschallen‘ zu altsächs. hlHd ahd. lHt ‚laut‘? Der Satz hat verschiedene Übersetzungsversuche erfahren. hieben erbittert auf weiße Schilde, heuwun harmlicco huittê scilti, harm: dt. Harm, sich härmen. - -līcco ‚-lich‘. bis ihnen ihre Lindenschilde klein wurden (zerbrachen), unti im iro lintun luttilo wurtun, unti hier ‚bis‘. - as. luttil ‚klein‘. - ‚klein wurden‘ = ‚zu Bruch gingen‘. Im Kampf zerschlagen mit Waffen giwigan miti wabnum ............... giwigan: wörtl.: ‚zerkämpft‘: wīhan ‚kämpfen‘, Part. Prät. giwigan mit grammat. Wechsel g/h). - wābnum für wāfnum, Dat. Pl. von wāfen ‚Waffe‘. Sprachlich auffällig ist, dass hochdeutsche und altsächsische Formen gemischt erscheinen: Das Altsächsische hat, als auffälligstes Merkmal, die 2. Lautverschiebung nicht mitgemacht; sein Nachfolger, das Niederdeutsche, hat heute noch Formen wie dat für das, wat für was, water für Wasser, appel für Apfel, maken für machen usw. und ähnelt dadurch in mancher Hinsicht dem Englischen. Im Hildebrandslied begegnen nebeneinander ik (as.) in Z. 1 (und öfter) neben ih in Z. 17 (und öfter), usw. Das kann man am besten so erklären, dass ein sächsischer Schreiber einen schriftliche bairischen Text vor sich hatte und in seine Muttersprache übertrug, dabei aber stel- lenweise Schreibungen des Originals aus Unachtsamkeit stehen ließ. Das Hildebrandslied ist vermutlich eine Zufallsaufzeichnung. Ein Heldenbuch, das Karl der Große hatte auf- schreiben lassen, wurde schon unter seinem Nachfolger, Ludwig dem Frommen, vernichtet; dem Klerus erschien zur Karolingerzeit die weltliche Heldensage für das ‚heilige‘ Medium Schrift unpassend. Trotzdem wurde im Kloster Fulda (heute in der Bibliothek Kassel) um 830-840 auf die erste und letzte Seite eines älteren theologischen Kodex dieses Heldenlied abgeschrieben. Die erste und letzte Seite eines Buches werden üblicherweise leer gelassen; dieser freie Platz wurde nachträglich genutzt, so weit er reichte: 68 Langzeilen, dann waren sie normal gefüllt. Der Rest stand vermutlich auf einem anderen Blatt, oder er wurde nicht mehr abgeschrieben. Wir wissen es nicht. Unwahrscheinlich ist nur die Verbindung der beiden Hypothesen, es hätten nur wenige Verse bis zum Ende gefehlt, und die Schreiber hätte aus Platzmangel auf den Schluss verzichtet. Wenn das Gedicht nach wenigen Versen geendet hätte und sie keinen weiteren Platz zur Verfügung gehabt hätten, hätten sie den Schluss wohl an den unteren Rand geflickt. Die Faksimiles kopierte ich aus dem Internet: http://www.ib.hu-berlin.de/~hab/arnd/manuskript.html. 9 BLÄTTER 1R. UND 76 V. DER HS. THEOL. FOL.54, BIBLIOTHEK KASSEL 10 Die Situation der Kämpfer wurde unterschiedlich gedeutet: bei ‚zwischen zwei Heeren‘ denken manche, die beiden Heere müssten einander so nahe gewesen sein, dass die Kämpfer einander sehen konnten, und es habe ein Zweikampf angesichts der Heere stattgefunden, in dem stellvertretend für die beiden Heere je ein Vorkämpfer eine gottesgerichtsähnliche Entscheidung auskämpfen sollte. Die Kämpfer seien gezwungen gewesen, einander zu misstrauen, weil sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hätten, sondern auch das Schicksal ihrer 11 Partei. Das kommt jedoch nirgends im Lied zum Ausdruck. Auch hätten Zuschauer leicht den Sachverhalt auf- klären können. ‚Zwischen zwei Heeren‘ begegnen einander in der Heldensage mehrfach Helden auf der warte, dem Vorposten: die beiden Heere sind noch einige Meilen auseinander, dazwischen ist Wald, aber jede Partei will wissen, wie stark der Gegner ist, wo genau sich das feindliche Heer befindet usw. Einzelne Späher werden heimlich ausgesandt, die das erkunden sollen. Dazu nimmt man die stärksten und klügsten Helden, denn auf sich allein gestellt zu sein ist, wenn man plötzlich von einer Gruppe von Feinden entdeckt wird, gefährlich. Wenn Siegfried im Nibelungenlied auf die warte geht, nimmt er es freilich mit dreißig auf einmal auf; dem jungen Alphart werden in ‚Alpharts Tod‘ schon zwei, Heime und Witege, die ihn heimtückisch zu zweit angreifen, zum Verhängnis. Der allein dahinziehende Held, der recke, ist mehrfach Gegenstand der Heldendichtung. Wie könnte der Zweikampf ausgegangen sein? Im Jüngeren Hildebrandslied, das wir in einer erst spätmittelalterlichen Aufzeichnung besitzen, erkennen im letzten Augenblick Vater und Sohn einander, und gehen froh zusammen zur Mutter nach Bern. Der Sohn heißt hier in einer jüngeren Sprachform Alibrand. Dieses Happy-End muss schon spätestens 1250 gedichtet worden sein, denn die Thidreks saga1 kennt es ebenfalls. In ihr wird die glückliche Rückkehr Thidreks in sein ange- stammtes Reich dadurch ermöglicht, dass Hildebrands Sohn nach dem glücklichen Erkennen des Vaters die Berner dazu überredet, zum heimgekehrten Thidrek überzugehen. Anders bietet Hildibrands Sterbelied den Schluss: es ist ein Lied in der im 13. Jh. beliebten Form des ‚Rückblicksliedes‘. Auf Island gab es eine recht häufige Sagaform, die die Inhalte älterer Lieder in Prosa nacher- zählte und einzelne Strophen daraus an den Höhepunkten der Handlung einfügte. Eine solche ist die um 1300, vielleicht erst nach 1300 entstandene Ásmundar saga. In ihr wird Hildibrand von seinem Halbbruder Ásmundr im Zweikampf erschlagen; sterbend erzählt er Ásmund seine Lebensgeschichte und enthüllt ihm, dass er sein Bruder ist. Diese Erzählung Hildebrands ist einem alten Lied entnommen, und zwar 6 Strophen. Der Liedtyp ‚Rückblicksgedicht‘ ist nicht realistisch, aber war im 13. Jh. beliebt.2 In Strophe 4 beklagt Hildibrand, dass unter den von ihm Getöteten auch sein svasi sonr, ‚lieber/eigener Sohn‘ (entspricht dem suasat chind des Hildebrands- liedes) ist; der einzige Erbe, den er gegen seinen Willen erschlagen musste. Das Motiv des Vater-Sohn-Kampfes tritt in den Dichtungen verschiedener Völker auf, alle möglichen Varianten des Ausgangs sind belegt: im Griechischen, im Oidipus Tyrannos (‚Ö. der Herrscher‘) des Sophokles, erschlägt der Sohn seinen Vater Laios; im Persischen (der Held heißt dort Rostem; in Firdausis Schahname, dem ‚persischen Königsbuch‘; bekannt ist die deutsche Übersetzung von Friedrich Rückert aus dem 19. Jh.) erschlägt der Vater den Sohn, ebenso im Keltischen (der Held heißt dort CuChullain). Im russischen bzw. besser ukraini- schen Heldenlied (der Held heißt dort Ilja von Murom) findet sich der glückliche Schluss; er scheint dort dem ‚jüngeren Hildebrandslied‘ nachgebildet zu sein. Obwohl der Vergleich mit den Parallelüberlieferungen den Ausgang offen lässt, zweifelt niemand daran, dass das alte Hildebrandslied so endete, dass der Vater den Sohn erschlug, wie in ‚Hildibrands Sterbelied‘. Die Dramatik der Fabel, die Beleidigung durch die Zurückweisung des Geschenkes und Hildebrands Reaktion der si doh nu argosto ostarliuto ... lassen wohl keine andere Interpretation zu. DAS WESSOBRUNNER GEBET Manches an der im 13. Jh. auf Island in der ‚Liederedda‘ genannten Sammlung aufgezeichneten V÷luspá3 (spá ‚Weissagung‘; v÷lu Genitiv zu võlva ‚Seherin, Wahrsagerin‘4, also ‚die Weissagung der Seherin‘; ein mytho- logisches Gedicht von über 60 Strophen) ist deutlich christliches Gedankengut; eine der Möglichkeiten, das zu erklären, ist, dass man annimmt, sie sei in der Übergangszeit vom Heidentum zum Christentum, also etwa im 10. Jh., entstanden. Eine Vorstellung von der wechselseitigen Beeinflussung christlicher und heidnischer Dichtung ist uns durch den Vergleich von V÷luspá Str. 3 (ich drucke zusätzlich Snorri Sturlusons5 Fassung ab, den wichti- 1 Eine um 1250 entstandene norwegische Übersetzung von (nur in ihr erhaltenen, im deutschen Original verlorenen) deut- schen Heldensagen aus dem Kreis um Thidrek (das entspricht dt. Dietrich). 2 Die Heldendichtung liebt direkte Reden. Die beiden beliebtesten Möglichkeiten, die Lebensgeschichte eines Helden in direkter Rede erzählen zu lassen, waren in Skandinavien im 13. Jh.: entweder ein Seher verkündet dem jungen Mann sein ganzes späteres Lebensschicksal – das Lied steht dann großteils in der 2. Person und die Abschnitte beginnen „Du wirst...“ – oder der Held erzählt unmittelbar vor seinem Tod den Umstehenden seine Lebensgeschichte. Mit so einem ‚Rückblicksge- dicht‘ haben wir es hier zu tun. Keine dieser beiden Erzählsituationen ist realistisch. In der Literaturwissenschaft haben wir es immer wieder damit zu tun, dass andere Forderungen des Publikums wichtiger sind als realistische Darstellung: Wenn es dem Publikum wichtig ist, „die ganze Lebensgeschichte“ eines Helden zu erfahren, und nicht nur einen dramatischen Ausschnitt, wie im Hildebrandslied, aber, wie in diesem, direkte Rede vorherrschen soll, hat man fast keine andere Möglichkeit als die beiden genannten. Fällt Ihnen eine Alternative ein? 3 Das Zeichen ÷ bezeichnet im Altisländischen einen offenen hinteren o-Laut; im modernen Isländischen wird ö gesprochen und geschrieben, diese Schreibung und Aussprache (z. B. Völuspa) ist daher häufig anzutreffen, aber historisch unkorrekt. 4 Die Vokale der Stammsilben des zusammengesetzten Wortes Võlu-spá sind õ und á. Diese gehören daher betont, wie in dt. Ottokar. 5 Isländer, † 1241. 12 gen Unterschied zur Liederedda fett) mit dem althochdeutschen ‚Wessobrunner Gebet‘ (9. Jh.) möglich, das so beginnt: De Poeta. ‚Über den Dichter‘ Dat gafregin ih mit firahim firiwizzo meista, Das erfrug ich bei den Menschen mit größter Klugheit, dat ero ni was noh ûfhimil dass Erde nicht war noch Überhimmel noh paum ... noh pereg ni uuas, noch Baum .... noch Berg nicht war ni ...... nohheinig noh sunna ni scein, noch irgendein .... (wohl: Stern) noch die Sonne nicht schien, noh mâno ni liuhta, noh der mâreo sêo noch der Mond leuchtete noch das weite Meer. Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo, Da dort nichts war an Enden noch Wenden, enti do uuas der eino almahtico cot, und da war der eine allmächtige Gott, manno miltisto, enti dar uuarun auh manake mit inan der mildeste der Männer, und da waren auch viele bei ihm cootlihhe geista. enti cot heilac. göttliche Geister. Und der heilige Gott. firiwizzo ‚Klugheit‘, vgl. nhd. Fürwitz; ni ‚nicht‘ bzw. ‚weder‘; noch-einig ‚noch irgendein‘; mâri ‚berühmt, mächtig‘; ni- wiht ‚nicht-irgendetwas‘; manag ‚viel, zahlreich‘ (engl. many). Damit bricht der stabreimende Teil ab; es geht in Prosa weiter: „Allmächtiger Gott, der du Himmel und Erde schufst und den Menschen so viele Güter gabst, gib mir in deiner Gnade den rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen und Böses zu meiden und deinen Willen zu tun.“ Snorri: Ár var alda, þat er ekki var, ár ‚früh‘ (engl. early); var 1.3. Sing. Prät. zu vera ‚sein‘; alda Gen. Plur. zu ÷ld ‚Zeitalter‘; þat ‚das‘; þat er kann in lokaler, temporaler, modaler Form anschließen, der Kontext entscheidet: hier ár, also temporal; ekki ‚nichts, kein‘. Früh war es der Zeitalter, als nichts war (Liederedda: Ymir), vara sandr né sær né svalar unnir; -a Negation; sandr (m.) ‚Sand‘; né ‚und nicht‘; sær (m.), Gen. sævar ‚See, Meer‘; svalr ‚kühl‘; unnr (f.) ‚Woge‘. es war-nicht (‚weder‘) Sand noch See noch kühle Wogen. iõrð fannz eigi né upphiminn, i÷rð ‚Erde‘; fann Prät. zu finna ‚finden‘; -z Reflexivpartikel ‚sich‘; upphiminn ‚der Himmel oben‘ oder ‚der Überhimmel‘? Die Erde fand sich nicht (‚existierte noch gar nicht‘), noch das Himmelsdach. gap var ginnunga en gras ekki, gap ‚Schlund‘; ginnung ‚Gähnung‘; en ‚und, aber‘. Ein Schlund war der Gähnungen, aber kein Gras, Võluspá Str. 3f. lauten: Ár var alda, þat er Ymir bygði, byggva ‚hausen, (etwas) bewohnen‘. Früh war es der Zeitalter, als Ymir lebte, vara sandr né sær né svalar unnir; es war weder Sand noch See noch kühle Wogen. i÷rð fannz æva né upphiminn, æva ‚niemals, durchaus nicht‘. Die Erde existierte gar nicht, noch das Himmelsdach. gap var ginnunga en gras hvergi, hver-gi ‚nirgends, niemand‘. Ein Schlund war der Gähnungen, aber nirgends Gras, 4. áðr Burs synir bi÷ðom um ypþo, áðr ‚bevor, vorher‘; sonr ‚Sohn‘; bi÷ð (f.) ‚Land‘; yppa - yppta (swv.) ‚erheben‘. bevor Burs Söhne den Boden in die Höhe hoben, þeir er Miðgarð mœran scópo; þeir ‚die‘ (Plur.); garðr (m.) ‚Zaun, umzäuntes Gehöft‘ (dt. Garten); skapa ‚schaffen‘. die Mitgard (die mittlere Wohnstätte), den berühmten, schufen. sól scein sunnan á salar steina,