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Literatur und Leben: Stationen weiblichen Schreibens im 20. Jahrhundert PDF

195 Pages·1996·16.903 MB·German
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Christa Bürger (Hrsg.) . Literatur und Leben Christa Burger (Hrsg.) Literatur und Leben Stationen weiblichen Schreibens im 20. Jahrhundert Unter Mitarbeit von Lena Lindhoff MJ> VERLAG FUR WlSSENSCHAFT UNO FORSCHUNG Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahrne Literatur und Leben : Stationen weiblichen Schreibens im 20. Jahrhundert / Christa Bürger (Hrsg.). Unter Mitarb. von Lena Lindhoff. - Stuttgart : Mund P, Verl. für Wiss. und Forschung, 1996 ISBN 978-3-476-45154-5 NE: Bürger, Christa [Hrsg.] ISBN 978-3-476-45154-5 ISBN 978-3-476-04250-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-04250-7 Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustim mung des V~tlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel fältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und Einspeicherung in elek tronischen Systemen. M Be P Verlag für Wissenschaft und Forschung ein Verlag der J,B. Metzlerschen Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart © 1996 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1996 INHALT Christa Burger Zwischen Werk und Nicht-Werk 7 Toni Tholen Nahe des Lesens. Zu Clarice Lispectors Die Passion nach G. H. ........... 21 Lena Lindhoff Das weibliche Androgyne. Kunst als andere Praxis des Wissens in Virginia Woolfs To the Lighthouse 41 Johannes SuJ3mann Zeitroman, mimetisch. Textgeschichte, Verfahren und Status von Marieluise FleiJ3ers Mehlreisende Frieda Geier ................................................................... 62 Christa Burger Annaherungen an Marieluise FleiJ3er .................................................... 101 Margot Brink Colette Peignot: Fragmentarisches-Leben ........................................... 110 Ben Morgan At One Remove: The Paradoxes ofJelinek's narrative Voice ............... 132 Heike Schmitz Spaziergange mit Lol .......................................................................... 152 Lena Lindhoff Dekonstruktive Hysterie oder Die EntrOckung der 'Frau' in die Texte der Manner.. ............................ 164 Christa Burger Zwischen Werk und Nicht-Werk Eindeutigkeit "leh machte mich zur Schwachen, ich entsagte meinem Willen, meinen Wun schen, meinem Leben ... Damit er nicht auf mich als Kunstler eifersuchtig sein sollte, verbarg ich vor ihm meine Kunst" (MW, 35). Marianne Weretkin, die Malerin, beschreibt in ihrem Tagebuch eine Geste, deren besonderes Pa thos dadurch nicht geringer wird, daB sie sich unzahlige Male wiederholt hat. leh, Frau, bin nur der Grund, bin der Hintergrund fur das Werk eines GroBe ren als ich, eines, der "mehr" ist (GM, 43). leh muB mich unsichtbar machen, zu Nichts machen, damit jenes Werk sei (MW, 62). Gabriele Munter kommt sich leicht "wenig" vor und wagt es nicht, sich mit irgend jemandem zu ver gleichen. Urn sich zu vergleichen, muBte sie ja wissen, was sie ist. Sie muBte ihre Form gefunden haben, sie hat aber verschiedene. Wenn sie es genau nimmt, weiB sie auch uberhaupt nicht, was das ist: FORM (GAl, 56). Was diesen Frauen fehlt, ist: Eindeutigkeit. Die Kunst, wie die Literatur, nimmt aber nur das Eindeutige und Deutliche in ihren Kanon auf, das Unbe stimmte grenzt sie aus; was sich nicht Werk will, was nicht restlos aufgeht als Form. Die Beimischung des Autobiographischen, die Spuren des Lebens, die Ausdruck geblieben sind, statt in der Form zu verschwinden, verdachtigt sie der Trivialitat. Das Werk, die "einmalige Erscheinung einer Feme" soli sich nicht mit der AIltaglichkeit beriihren. Was sich mit dem Leben bescheidet, verwirkt den Anspruch, zur Sphare der Kunst zu gehoren. Sie sind der Grund und der Hintergrund, der Gegenstand und die geheime Energie des Werks, aber seIber ohne die AusschlieBlichkeit eines Triebs zur Selbstverwirklichung, der alles an das Werk setzt. Sie konnen sich nicht eindeutig machen; sie konnen sich nicht entscheiden, ob sie ihr Selbst im Leben oder im Werk haben wollen; sie konnen nicht ent scheiden, wie sie wirklich sein wollen. - Wahrend ich das Schreiben dieser Frauen zu beschreiben versuche, merke ich, daB es mir schwerfallt, die richti- 7 gen Satze zu finden; denn ich habe auf "Methode" verzichtet, urn mich selbst jener Uneindeutigkeit auszusetzen. Ich merke, daB ich davon nur in der Form der Negation sprechen kann; ich kann ihr nichts zuschreiben. So, ohne Me thode, ohne Besitz, hore ich die Stimme der Eindeutigen und Deutlichen: Die Nahe zum Leben, die Scheu vor dem Werk ist ein Mangel, eine Art Apriori weiblicher Kunst. Diese ist niemals ganz rein, niemals "arm", restlos in Form verwandelter Lebensstoff. "Die Armut am Geiste wird [von den Frauen] nie errungen werden", laBt Georg Lukacs, Zeitgenosse von Munter und Weref kin, sein alter ego in einem unheimlichen Dialog behaupten. Denn "Armut am Geiste" ist: "Sich aufzugeben, urn dadurch das Werk, das von mir aus gesehn nur zufallig mir gehort, wodurch aber ich mir seiber notwendig werde, zu realisieren" (AG, 86). Jene aber wollen einem anderen notwendig werden. Unheimlich ist der Dialog, weil er das Wesen der Kunst als eines von Herrschaft zu erkennen gibt: Herrschaft des nur mannlich zu denkenden Kunstlers uber den Stoff und uber die eigene Subjektivitat, die ins Werk nur eingeht als Arbeit an der Form. Unheimlich aber ist er noch mehr, weil er fUr uns, die wir jetzt Lukacs' Briefe aus dieser Zeit kennen, als Konfession lesbar wird. Als Konfession gelesen, verwandelt sich Fiktion in Leben zuruck. Eine Frau ist gestorben, und der mannliche Dialogpartner nimmt die Schuld an ihrem Tod auf sich, obwohl er nach menschlichem Recht unschuldig ist (AG, 69). Wie Iwan KaramasofffUhlt er sich aber schuldig in einem hoheren Sinne, als einer, der eine Tat gedacht - als notwendig gedacht hat. Er weiB, daB seine Kraft zum Entsagen eine "Kraft zum Schlechtsein und Hartsein [ist]. Denn ihr Leben hat er zugrunde gerichtet" (SuF, 144). Sie mul3te sterben, damit sein Werk vollendet werde, damit fUr ihn nichts in der Welt bleibe als das Werk. Darum ist ihr Tod fUr ihn so etwas wie ein Gottesurteil (AG, 81). Die Armut am Geiste braucht ein Opfer, das zufallig eine Frau ist. - Lukacs' Jugendliebe, die Malerin Irma Seidler, hat sich getotet, nachdem sie zuvor von ihm ihre Freiheit zUrUckerbeten hatte und vor der AusschlieB lichkeit seiner Entscheidung: fUr das Werk, gegen das Leben, in eine triviale Ehe gefluchtet war. 1st ihr Tod notwendig gewesen? Hat sie sich ausge loscht, damit er der Verfiihrung des Lebens entzogen ware, auf die unwider ruflichste Weise? Solange sie da ist, ist auch er im Leben. Durch ihren Tod 8 wird er eindeutig: Er kann sich aus dem Leben zUrUcknehmen und sich kenntlich machen als der, der das Werk will und nur das Werk. Sie ist der Hintergrund, von dem die Form sich abhebt. Ihre Entscheidung, sich den Tod zu geben, gibt seiner, auf das Leben zu verzichten urn des Werks willen, den Grund. Fur uns nur wird dieser Wille zum Werk, der seinen Trager zum Ein zelnen macht (SuF, 232), erkennbar als Wille zum Selbst, in dem ein Ich sich seiber notwendig wird (AG, 86). Das ICH setzt sich einen Sinn: das Werk, wei! es die chaotische Sinnlosigkeit des Lebens nicht auszuhalten vermag. Der Dialog des jungen Lukacs enthalt, vielleicht sogar gegen die Absicht des Autors, eine Mythologie der Geschlechterdifferenz: Die Frau fol81 dem "Ruf des einfachen, gra/3en Lebens" (LBW, 44), sie ist, und wo sie ist, ist das Leben ganz. Der Mann ist Negativitat, er scheidet; seine "gewalttatigen Hande" kneten Formen aus dem Rohmaterial des Lebens, schaffe n Eindeu tigkeit aus dem Chaos, verleihen den wechselnden Erscheinungen Bedeutung (SuF, 61). Vnd dies Formenmiissen ist sein Schicksal, ein Midasschicksal: Was er anfa/3t, erstarrt; das lebendige Leben gerinnt zur Gestalt (LBW, 61ff.). Form: "das einzig Mogliche" Das Denken des jungen Lukacs, an dem wir das notwendige Scheitem weib lichen Schreibens oder Bildens ablesen kannen, ist darauf gerichtet, die Au tonornie der Kunst bis in die letzten, extremsten Konsequenzen zu verfolgen. Form ist ihm der alles entscheidende Begriff; als positiver Gegenbegriffist er dem des Lebens eingeschrieben. Das Leben ist eine Anarchie des Helldunkels: Nichts emllt sich in ihm je ganz, und nie kommt etwas zum Ende; immer mischen sich neue Stimmen, verwirrende, in den Chor jener, die schon friiher klangen. Alles flie6t und flie6t ineinander, hemmungslos, in unreiner Mischung; alles wird zerstort und alles zerschlagen, nie bliiht etwas bis zum wirklichen Leben (SuF, 219). 9 Das Leben bestimmt sich fur Lukacs durch einen unauthebbaren Mangel; ihm geht die Form abo Es ist ein Chaos unreiner Mischungen: von Licht und Dunkel, von Klangen und Stimmen, von Korpem und Schatten, etwas Atmo spharisches, Unbestimmtes. Das Leben ist das Unwirkliche, dem einzig die Form Wirklichkeit geben kann. Die Form schaffi das empirische Dasein zum wirklichen Leben urn. Form ist Tathandlung. Ihr Ursprung ist die Sehnsucht des Menschen nach der Erscheinung der Wahrheit durch die verschwinden den Augenblicke des Lebens hindurch; das Bediirfuis, die Ganzheit des Le bens zu erfassen, das Vielerlei der Dinge als Einheit zu erleben (LBW, 134, 180). Form ist Tathandlung, Trennung, Unterscheidung, Einschnitt. Den flie Benden Gebilden des Lebens gibt sie UmriB und Farbe. So tritt das Werk aus dem Leben heraus, ein Einzelnes, von allen anderen Werken scharf geschie den, die Einzelnheit und Deutlichkeit seines Autors bezeugend. Es liegt diesem Denken die fast wahnhafte Vorstellung zugrunde, die Formen (konkret: die literarischen Gattungen) miiBten apriorisch sein, sie miiBten dem Dasein vorausliegen, so daB der schOpferische Mensch sich nur zum Akt des Formens zu entscheiden hatte, urn aus dem Chaos des Lebens eindeutige, unterscheidbare Strukturen herauszuarbeiten, die seiner Sehn sucht nach Einheit entsprechen (LBW, 149). Wenn Lukacs von dem "Widermenschlichen der reinen Form" spricht, so bekennt er sich zu dem gewalttatigen Zug, der in seinem Denken wirksam ist (LBW, 230). "Schriften, die nicht Werke sind" Vielleicht ist das Vergangenheit: der Glaube an die Form, die unversohnliche Scheidung von Kunst und Leben, die Heroisierung des Werks. Vielleicht konnen wir uns der surrealistischen Rebellion gegen die LITERA TUR anschlieBen. Die Poesie, sagt Breton, kommt aus dem Leben der Menschen, Schriftsteller oder nicht (PP, 134). Das Leben ist mehr als das Geschriebene. Das wendet sich gegen jene wahnhafte Ver-Herrlichung der Form, des Werks: "Das Leben", hieB es bei Lukacs, "das Leben ist nichts, 10 das Werk ist alles, das Leben ist lauter Zufall und das Werk ist die Notwen digkeit selbst" (SuF, 36). Noch heute erwarte ich nur von meiner Aufuahmebereitschaft etwas, von diesem Durst herumzuirren, urn aUem zu begegnen, wovon ich sicher bin, daB er rnich in geheirnnisvoJler Verbindung mit anderen aufuahmewilligen Wesen halt, so als ob wir aufgerufen waren, uns plotzlich zu vereinen. Ich wiinsche mir, daB mein Le ben kein anderes Murmeln zuruckliillt als das eines Wachterliedes, eines Liedes, das das Warten verkiirzen soli. Unabhiingig von dem, was sich ereignet oder nicht ereignet, ist die Erwartung groBartig (AF, 39; Aujourd'hui encore je a n'attends rien que de rna seule disponibilite, que de cette soif d'errer la rencontre de tout, dont je m'assure qu'elle me maintient en communication a mysterieuse avec les autres etres disponibles, comme si nous etions appeles nous reunir soudain. J'aimerais que rna vie ne laissat apres elle d'autre murmure que celui d'une chanson de guetteur, d'une chanson pour tromper l'attente. Independamment de ce qui arrive, n'arrive pas, c'est l'attente qui est magnifique). Das ist ein anderer Ton; er ist uns irgendwie vertraut, als hatten wir ihn vor langer Zeit schon einmal gehort. Das ist ein leh, das nieht Angst maeht und nieht Angst hat; das sieh yom Leben und yom Zufall treiben lii13t; das verhei Bungsvollen Spuren folgt, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben; das nieht for mend eingreift. Was dieses Ieh sueht, ist nieht die Form als das einzig Mogli ehe, sondern die Offenbarung aller mogliehen Augenblieke. Es ist nieht der yom Willen naeh dem Werk verzehrte einsame Kunstler, sondern einer von vielen, denen die Hingabe an das Leben gemeinsam ist. Es geht nieht urn die Unsterbliehkeit, die das Werk verheiBt, sondern urn den Augenbliek, das Hier und das Jetzt in ihrer vollen Gegenwartigkeit. Das surrealistisehe leh, das gegen das Werk rebelliert, erfindet sieh eine Sehreibweise, das automatisehe Sehreiben (ecriture automatique), die sieh nieht dureh die Vorstellung, Vorbildern naeheifern zu mussen, aufhaIten laBt, die urn die LITERATUR gleiehsam herumlauft, freie Produktivitat, allen erreiehbar, unabhiingig von der Autoritat asthetiseher Normen und lite rariseher Traditionen. 11

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