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Liebe Leserin, lieber Leser 2 schwerpunkt 20 standpunkt 22 aktuell 34 rezensionen 36 ... PDF

56 Pages·2008·2.78 MB·German
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4 /2008 2 schwerpunkt 2 Einführung in den Schwerpunkt: «Vorurteile» 3 Vorurteile ergründen: Das Verhältnis vom Eigenen zum Fremden 7 Am Turm der Wissenschaft bauen: Vom Knarren im Theoriegebälk 10 «Look Twice»: Mit Bildern Vorurteile hinterfragen 12 Bilder im Kopf – Klischees, Vorurteile, kulturelle Konflikte 15 Lehrer gegen Vorurteile: Zwei Experimente mit unerwarteter Dynamik 20 standpunkt Standpunkte 22 aktuell 22 Beziehungsgeschehen und Motivation 27 Schulentwicklung zwischen Maisfeldern und Liebe Leserin, lieber Leser Lehmhütten 30 25 Jahre Studiengang «Allgemein bildender Vorurteile bestimmen unser Denken zu einem grossen, unbewussten Teil. «Vorei- Unterricht» (ABU) lige Urteile», wie sie Ueli Mäder in seinem Schwerpunktbeitrag nennt, können 32 Dieses Jahr in Jerusalem nicht ohne weiteres aufgegeben werden. Dazu braucht es die Bereitschaft, eigene Sichtweisen zu hinterfragen und andere Perspektiven einzunehmen. Nur so blei- 34 rezensionen ben wir nicht verhaftet in verkrusteten Denkstrukturen, die letztlich auch jede Art von Innovation verunmöglichen. 36 bildungsforschung Als der Unternehmer Branco Weiss am 31. Oktober anlässlich des Gründungstags der Pädagogischen Hochschule Zürich den Bildungspreis erhielt, sagte er, dass die Umgebung Innovationen nicht immer mit offenen Armen empfange. Aufgabe der 38 phzh Schule sei es, die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen anzuregen und so die 38 Zukunft bilden Basis zu legen für das Entwickeln zukunftsorientierter Innovationen. Dies sei nö- 41 Was taugen Lehrmittel für Kinder mit Lese- tig, um mit dem gesellschaftlichen und technologischen Wandel Schritt zu hal- Rechtschreib-Störung? ten. 44 PHZH unterstützt Lehrpersonen bei der frühen Sprachförderung Den adressatengerechten Transfer von Wissen bezeichnete der Rektor Walter Bir- 46 Kinderrechte und Musik am 20. November 2008 cher am diesjährigen Gründungstag als zentrale Aufgabe einer Pädagogischen 48 Mitarbeitergespräche führen Hochschule. Am Transferzentrum «ipe» (International Projects in Education) der 50 Nachdenken über das eigene Lernen PHZH wurde dies beispielhaft illustriert. Das Institut unterstützt und koordiniert 52 Oekoland ist für alle Neuland Schul- und Bildungsprojekte in Osteuropa und Ländern des Südens; einzelne Pro- 54 Schreibwettbewerb des Schreibzentrums jekte werden jeweils in ph akzente vorgestellt. Dem Wissenstransfer ist auch ph akzente verpflichtet. Seit dem Start der Pädago- gischen Hochschule im Jahr 2002 berichtet die Zeitschrift viermal jährlich über 56 mediensplitter Themen, welche die Bildungslandschaft bewegen. Nach sechs Jahren im gleichen Gewand steht ein Innovationsschub an. ph akzente wird farbiger, erhält neue Rubriken und möchte Sie als Partnerinnen und Partner der PHZH noch direkter ansprechen. Die Redaktion dankt Ihnen an dieser Stelle herzlich für Ihr Interesse und wünscht Ihnen alles Gute zum Jahreswechsel. Thomas Hermann 1 phIakzente 4 /2008 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 Einführung in den Schwerpunkt: 0000000000000000 0000000000000000 Vorurteile 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 000«W0elch trist0e Epoche, 0in der es 0leichter ist0, ein Atom0 zu 0– «Ein Ur0teil lässt s0ich wider0legen, abe0r niemals0 ein Vor- 0 000ze0rtrümmer0n als ein V0orurteil!»0 konstatie0rte Albert 0Ein- 0urteil.» (M0arie von0 Ebner-Esc0henbach) 000 000st0ein1. 000000000000 000Di0e Tatsache0, dass sich0 Mensche0n, oft ent0gegen alle0r Be- 0Wenn wi0r den Schw0erpunkt 0in dieser 0Nummer g0leich- 0 000w0eise, liebe0r ihre eng0en und fa0lschen Me0inungen u0nd 0wohl dem0 Thema V0orurteile 0widmen, 0so wissen0 wir, 0 000Vo0r-Urteile ü0ber ande0re Mensch0en (auch ü0ber Sachv0erhal- 0dass sich0 allein mi0t Kenntnis0 noch nic0hts änder0t – wes- 0 000te0 oder das 0Geschehen0 in der W0elt) bewa0hren, ist a0lt, 0halb wir0 versuchte0n, je über0raschende0 Sichten a0uf das 0 000w0eit verbrei0tet und tr0ifft viele: 0«... die Am0erikaner 0legen 0Thema zu0 werfen. 00000 000di0e Beine au0f den Tisc0h, Deutsc0he essen S0auerkraut0 – im- 0Ueli Mäd0er zeichne0t in seine0m Beitrag 0«Vorurteil0e ergrün-0 000m0er, in alle0n Lebensla0gen – und0 die Fran0zosen? Die0 0den» nac0h, was wi0r durch ei0nen behu0tsamen Um0gang 0 000ha0ben’s mit0 den Weib0ern – man0 weiss da0s ja! –, tr0inken 0mit eigen0en Meinu0ngen und0 Sichten u0nd der Ak0zeptanz 0 000Ch0ampagner0 und sind0 leichtfert0ige Windh0unde.», w0ie 0von Unsi0cherheiten0 gewinne0n können0 und lässt0 uns, 0 000Ku0rt Tuchols0ky ironisc0h ausführ0t. 000gleichsam0 im Vorbe0ispazieren0, Einblick0 nehmen 0in Stan- 0 000Do0ch bei sol0ch eher h0armlosen 0Feststellun0gen und 0Verall- 0dardwerk0e zum Vo0rurteil. Wi0e leider a0uch der w0issen- 0 000ge0meinerun0gen bleibt0 es oft nic0ht. Gefähr0lich wird 0es, 0schaftlich0e Zugang 0keine Sich0erheit vor0 falschen 0Wahrhei-0 000w0enn aus in0dividuell0en wie gr0uppen-/ma0ssenpsych0olo- 0ten biete0t, zeigt He0inz Moser0 mit kecke0r Feder au0f und 0 000gi0schen Notw0endigkei0ten herau0s andere m0ittels sol0cher 0benennt 0in seinem0 Artikel «A0m Turm d0er Wissen0schaft 0 000Me0inungen 0bzw. Voru0rteilen zu0 «Den And0eren» stili0siert 0arbeiten»0 auch glei0ch, warum0 wir so l0eicht verfü0hrt wer-0 000w0erden. Es 0sind inein0ander ver0schränkte0 Prozesse, 0die 0den könn0en. Ruedi0 Isler und0 Thomas H0ermann ö0ffnen ih-0 000ei0n «Wir» un0d ein «Sie0», ein «Dr0innen» un0d «Drauss0en» 0re Arbeits0mappe zu0m Thema0 Ausgrenz0ung, Rassi0smus 0 000he0rvorbring0en, so, als0 gebe es s0charfe Gre0nzen. 00und Anti0semitismu0s, «Look T0wice», un0d machen0 neugie- 0 000Di0e in den U0SA lehren0de Sozialw0issenscha0ftlerin Git0a Stei- 0rig darau0f, wie sich0 mit den 0neuen, fre0chen, ver0fremde- 0 000ne0r-Khamsi 0erfasste, m0ittels we0lcher Zusc0hreibungs0schrit- 0ten und 0sehr berüh0renden B0ildern von0 Daniel Li0enhard 0 000te0 die Konst0ruktion ku0ltureller U0nterschie0de erfolgt02: Zu- 0und den 0kurzen Ko0mmentare0n arbeiten0 lässt. Au0ch die 0 000er0st wird ein0e Gruppe0 von Mens0chen mit 0bestimmt0en 0Besprech0ung der DV0D/CD-Rom0 «Bilder im0 Kopf» w0eist auf 0 000Me0rkmalen,0 die sie gl0eichzeitig 0von «uns»0 untersch0eiden, 0ein wertv0olles Unt0errichtsmi0ttel hin, d0as an Seh0- und Ar-0 000ch0arakterisi0ert, als Zw0eites werd0en diese 0Merkmale0 abge- 0gumenta0tionsgewo0hnheiten 0rüttelt. De0n Schwerp0unkt 0 000w0ertet und 0drittens w0ird nun e0in Handlu0ngsbedarf0 0schliesst 0der Artike0l von Chri0sta Hanet0seder zu d0en bei- 0 000w0ahrgenom0men. Es e0ntstehen D0eutungsm0uster, wo0bei 0den Film0en «Die W0elle» und 0«Blue eyed0» ab, in d0enen Ju-0 000di0e Zuschrei0bungen an0 «Die And0eren» Sch0uldzuweis0ungen 0gendliche0 durch ih0re Lehrerin0 bzw. ihr0en Lehrer 0ganz un-0 000en0thalten, d0urch die s0ie schlies0slich leich0t in die Sü0nden- ­0mittelbar0 und durc0h das eige0ne Erlebe0n Erfahrun0gen mit 0 000bo0ckrolle ge0drängt un0d ausgegr0enzt werd0en können0. 0unheilvo0llen Ident0ifikationen0 und blin0den Ausg0renzun- 0 000Di0es nun ab0er – das B0eschuldig0en von Sü0ndenböcke0n – 0gen mach0en. 00000 000ha0t eine Jah0rtausende0 alte Trad0ition. Es e0xistiert «e0ine 0000000 000of0fensichtlic0h ubiquit0äre Tenden0z, die Las0t von Schu0ld ... 0Christa H0anetseder00000 000au0f ein Dritt0es abzule0nken, auf 0dieses Dri0tte zu pro0jizie- 0000000 000re0n»3, schre0ibt der Zür0cher Psych0oanalytik0er Bertho0ld 0Anmerkun0gen 00000 000Ro0thschild. 0Er nennt d0amit eine0 wesentli0che Funkt0ion 01 Alle Ap0horismen u0nter <<ww0w.zitate24.d0e>>, 16.9.20008 0 2 Steiner-Khamsi Gita (1992). Multikulturelle Bildungspolitik in 000vo0n Vorurte0ilen: Ande0ren Mensc0hen werd0en Eigens0chaf- 0000000 der Postmoderne. Opladen. 000te0n oder Ver0haltenswe0isen zuge0schrieben0, die eigen0tlich 0000000 3 Rothschild Berthold (1999). Den Bock zum Sünder machen. Die 000zu0r eigenen0 Person (o0der der eig0enen Gru0ppe) gehö0ren, 0000000 universelle Neigung, eigenes Verschulden auf Dritte abzuschie- 000di0e man abe0r nicht be0i sich selb0er wahrn0immt/wah0rneh- 0ben. In0: NZZ, Nr. 720, 27./28. Mä0rz 1999, S. 089–90. 00 000m0en will. V0ielmehr «s0ieht» und0 bekämpf0t man sie 0am 04 Siehe: 0Barres Egon0 (1978). Vor0urteile. Opl0aden. 00 000an0deren Me0nschen – w0ie verhe0erend, das0 hat uns d0as 0 Fischer0 Lorenz & W0iswede Gü0nter (1997).0 Grundlage0n der Sozi-0 000200. Jahrhun0dert mehr0fach drast0isch vor A0ugen gefü0hrt. 0alpsych0ologie. Mü0nchen, S. 2507ff. 000 Altvater Peter & Stamer Maren (2000). Alltägliche Fremden- 000Zu0 den kenn0zeichnend0en Merkm0alen von0 Vorurteile0n 0000000 feindlichkeit. Interpretationen sozialer Deutungsmuster. Mün- 000zä0hlen, so v0iel wissen0 wir4: Sie0 weisen s0ich aus üb0er ei- 0000000 ster. 000ne0n hohen 0Grad an St0ereotypisi0erung, es 0besteht ei0n ho- 0000000 5 Klüger Ruth (2008). unterwegs verloren. Wien, S. 182. 000he0r Grad an0 Emotiona0lität (eine0 eigentlich0e «emotio0nale 0000000 000Ge0ladenheit0»), Vorurte0ile gehen0 einher m0it Ressenti0ments 0000000 000un0d Neid: «0Neid gehö0rt ja zum 0Vorurteil w0ie Pech z0um 0000000 000Sc0hwefel.»5.0 Es besteh0t ein stark0er Widers0tand gege0n die 0000000 000Ve0ränderung0 des Voru0rteils und0 man leug0net neue 0Fakten 0000000 0000000000000000 2 00phI0akzente 40 /2008 000000000000 0000000000000000 h c üri d, Z ar h n e el Li ni a D n: e g a nt o m o ot F Von Ueli Mäder Professor für Soziologie an der Universität Basel und der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW). Seine Arbeitsschwerpunkte sind die soziale Ungleichheit und die Konfliktforschung. Vorurteile ergründen Das Verhältnis vom Eigenen zum Fremden In seinem Beitrag diskutiert der Autor, wie die Differenzierung zwischen der sozialen und der kulturellen Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremdheit. Die soziale Fremdheit beinhaltet eine (ausgren- zende) Nichtzugehörigkeit und erfordert eine strukturelle Fremden dazu beitragen kann, Vorurteile zu er- Integration. Mit der kulturellen Fremdheit ist hingegen ei- gründen und vielleicht sogar ein wenig abzu- ne Unvertrautheit gemeint, die sich durch Lernen und Ge- bauen. wohnheit überwinden lässt. Sich irritieren lassen Ein Vorurteil ist für mich ein voreiliges Urteil, das eine Als ich zur Welt kam, waren andere schon da. Dieser Um- Wertung enthält, die wenig geprüft ist. Soweit mein (Vor-) stand bescherte mir möglicherweise meine erste narzissti- Verständnis. Die Vorurteilsforschung beschäftigt sich seit sche Verletzung – aber andern geht das zum Glück ähnlich. geraumer Zeit damit, wie sich Stereotypen verhindern las- Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir können uns nicht sen. Gordon Allport legt in seinem grundlegenden Werk aus uns selbst erklären. Das Umfeld spielt mit. Entspre- über «Die Natur des Vorurteils»1 dar, wie wichtig persönli- chend lautet eine existenzialistische Kernfrage: Was macht che Kontakte sind. Nach seiner Annahme können häufige der Mensch aus dem, was die Gesellschaft aus ihm macht? Kontakte und gute Kenntnisse Vorurteile auflösen. Wesent- Das Sein prägt das Bewusstsein. Und das Bewusstsein prägt lich sind allerdings die Bedingungen, unter denen die Kon- das Sein; zwar nicht kausal, aber nachhaltig. Das starke, takte stattfinden: Möglichst enge Kooperationen tragen am mündige, emanzipierte Ich gehört ebenso dazu wie das ehesten dazu bei, Vorurteile abzubauen. Unbewusste, das Über-Ich und das Milieu. Das Ich strebt Anders äussert sich Theodor Adorno in seinem Werk nach Freiheit in der Unfreiheit. Unser Wissen, dass die Ge- über die «Autoritäre Persönlichkeit» (1950)2: Er führt Vorur- sellschaft unser Verhalten beeinflusst, entlastet uns da- teile nicht auf einen Mangel an Kontakten zurück. Sie wur- von, alles uns selbst anzulasten, was gesellschaftlich mit zeln vielmehr in der intra-psychischen Dynamik des Indi- verursacht ist. Dies gilt auch umgekehrt: Ich kann mir nur viduums, die es psychoanalytisch und auf die eigene Sozi- auf die eigene Schulter klopfen, wenn mir etwas wirklich alisation bezogen zu deuten gilt. Wichtig ist wohl eine aus eigener Kraft gelingt und nicht, wenn es den günstigen 3 phIakzente 4 /2008 äusseren Bedingungen zu verdanken ist. Und wenn ich und flexibel sein. Die verordnete Ungebundenheit bedeu- mich über andere ärgere, ist es manchmal schmerzlich, tet einerseits Zwang. Sie ermöglicht andererseits aber auch mit etwas Distanz zu sehen, Teil desselben Systems zu eine Beweglichkeit, die freiheitliche Momente beinhaltet sein. Unsere Kritik richtet sich oft an die Adresse unseres und gerade deshalb Neid wecken und bestehende Vorur- eigenen Schattens. Wer sich das vergegenwärtigt, hat es teile gegenüber Armen und Fremden verfestigen kann. nicht einfacher im Leben – aber interessanter. Wenn wir Ich gehe hier, um mich Vorurteilen anzunähern, von Dinge aus unterschiedlicher Nähe und Distanz betrachten, der Frage aus, wie wir Fremdes verstehen. Die Frage unter- verändert sich mit der Perspektive auch die Sicht. So las- stellt, dass es möglich ist, Fremdes zu verstehen. Aber ver- sen sich eigene Vorurteile nicht vermeiden, aber ein wenig stehen wir Fremdes? Wenn Fremdes das ist, was wir nicht prüfen und relativieren. Die Auseinandersetzung mit Vor- verstehen, müsste meine Frage eigentlich anders lauten; urteilen verlangt eine innere Bereitschaft, doch sie erwei- es sei denn, wir verstehen Fremdes, indem wir es nicht tert unseren Horizont. verstehen. Mich interessiert, wie kooperativ das Eigene Was ein Vorurteil ist, meinen wir wohl alle zu wis- und Fremde miteinander im Konflikt streiten und uns hel- sen. Laut Wikipedia ist ein Vorurteil „ein vorab wertendes fen, Vorurteile zu erkennen. Wer die Dynamik zwischen Urteil beziehungsweise eine im Allgemeinen wenig reflek- dem Eigenen und dem Fremden verstehen will, muss das tierte Meinung». Das genügt zunächst als begriffliches In- Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen bzw. im strumentarium. Aber aufgepasst, eine Meinung bleibt eine Vertrauten entdecken. Ich verstehe das Eigene als das Ver- Meinung, auch wenn sie reflektiert ist. Wir sind immer traute, das Fremde als das Unvertraute, und nehme an, nur in der Lage, Standpunkte in Bezug auf andere Stand- dass sich das Eigene und das Fremde miteinander im Kon- punkte einzunehmen. Das beschreibt der im Jahr 2002 flikt befinden. Mit Konflikt meine ich einen Widerstreit, verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu sehr und «Verstehen» ist ein aktives Tunwort. Es bedeutet, ei- schön im Kapitel «Verstehen» seines Buches über «Das nen andern Bezugsrahmen wahrzunehmen und den sub- Elend der Welt»3. Die in der Hermeneutik postulierte Intro- jektiv gemeinten Sinn nach zu vollziehen. spektion lässt eigene subjektive Erfahrungen zu. Sie er- Ob und wie wir Fremdes verstehen, hängt vom (pro- möglicht damit den Zugang zu inner-psychischen Phäno- duktiven) Umgang mit dem Konflikt zwischen dem Eige- menen. Die Verknüpfung des quasi inneren Blicks mit dem nen und dem Fremden ab. Das leuchtet wohl ein, so allge- Gegenstand der Betrachtung wird dadurch ein legitimes mein formuliert. Aber sind das eigene Vertraute und das Mittel der Erkenntnis. Doch unsere Ängste und Projektio- fremde Unvertraute zwei klar voneinander trennbare Be- nen beeinflussen unsere Sicht. Und wir nehmen die Dinge reiche? Gibt es nicht viel Fremdes im Vertrauten und Ver- wahr, je nachdem, welche Bedeutung sie für uns haben. trautes im Fremden? Gegenläufigkeiten und Ambivalenzen Die Reflexion über unser eigenes Handeln ist notwendig kennzeichnen die Moderne. Der Soziologe Ulrich Beck be- und erscheint manchmal als Störfaktor. Aber es lohnt sich, schreibt die «Reflexive Modernisierung»5 als «Epoche des darüber zu stolpern und sich immer wieder irritieren zu Und». Das «Sowohl-Als-Auch» löst das industriegesell- lassen, denn unsere Wahrheiten bleiben unsere subjekti- schaftlich geprägte, mechanische «Entweder-Oder» ab. ven Wahrheiten. Sie äussern sich etwa in der Auseinan- Gleichzeitigkeiten ersetzen Ungleichzeitigkeiten und ulti- dersetzung mit dem Fremden, die besondere Chancen be- mative Gegensätze. Gegenläufigkeiten und Ambivalenzen inhaltet, sich eigenen Vorurteilen anzunähern. gehören dazu. Ich meine damit das Zulassen von Wider- sprüchen, ohne in Beliebigkeiten abzudriften, die zu viel Das Fremde im Vertrauten offen lassen. Dabei interessiert, wie das verbindende Vor hundert Jahren verfasste der Soziologe Georg Simmel in «Und» die Dynamik zwischen dem Eigenen und dem Frem- seinen «Untersuchungen über die Formen der Vergesell- den, zwischen Nähe und Distanz, zwischen drinnen und schaftung»4 einen immer noch aktuellen Aufsatz über den draussen, zwischen Integration und Ausschluss prägt; wo- Fremden. Simmel verglich den Fremden mit dem Armen: bei diese Prozesse aktiver Beteiligung dazu beitragen kön- Beide sind in der Gesellschaft sowohl drinnen wie drau- nen, aus Vorurteilen neue Erkenntnisse zu generieren. ssen. Der Fremde ist nicht der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern derjenige, der heute Das Vertraute im Fremden kommt – und morgen vielleicht bleibt. Nähe und Distanz Das Eigene und das Fremde, das wird aus dem bisher Ge- bilden eine dynamische Einheit: Das Nahe ist fern, das sagten deutlich, sind somit eng miteinander verknüpft. Ferne nah. Der Fremde wie der Arme ist ein Zugehöriger, Das Eigene ist keine feste Kategorie. Es besteht nicht aus der sich (meistens nur teilweise) ausserhalb befindet. In- einem inneren, quasi wahren Kern, den es zu entdecken tegration und Ausschluss sind gegenläufig miteinander gilt. Das Eigene entsteht als fortwährender Prozess und verknüpft. Weil der Fremde bzw. der Arme über wenig befindet sich stets im Wandel. Unser Ich ist ein werdendes materielle Ressourcen verfügt, muss er besonders mobil Ich, das sich nie ganz fassen lässt. Auch das Vertraute ist 4 phIakzente 4 /2008 mir nie ganz vertraut. Es bleibt stets ein wenig unvertraut. fördert die Bereitschaft, aus freien Stücken neue Verbind- Wenn ich mich ihm annähere, entdecke ich Fremdes. So lichkeiten zu suchen und dies im Sinne einer widerständi- wie ich im Fremden auch Vertrautes entdecken kann, gen Verbindung zwischen vertrauter Fremdheit und frem- wenn ich es nicht durch exkludierende Grenzziehungen der Vertrautheit, die das Fremde im Eigenen und das Eige- festzurre, um mein eigenes Ich zu stabilisieren. Ethnozent- ne im Fremden sieht und so, Vorurteile relativierend, auch rische, nationalistische und auch sexistische Sichtweisen ein wenig versteht. zielen darauf ab, Grenzen aufzubauen, oft mit dem Ziel, Darin besteht offenbar das Einfache, das schwierig zu sich über andere zu stellen und die eigene Position zu er- verwirklichen ist. Die einfachen Dinge sind manchmal höhen. Die Abgrenzung ermöglicht Zugehörigkeit zum schwierig verständlich zu machen, wie schon Erich Käst- scheinbar Nicht-Fremden. Doch die Überidentifikation mit ner in seiner eindrücklichen «Ansprache zum Schulbe- dem Eigenen zeugt in Wirklichkeit von Unsicherheit. Sie ginn» schrieb, die ich zur Lektüre empfehle6. Und ähnlich bietet Halt, indem sie simplifiziert und pauschalisiert, äusserte sich der frühere Nationalratspräsident Helmut Hu- statt differenziert. Das Fremde verkommt so zu einem bacher im Frühlingssemester 2008 an einem Vortrag im weitgehend selbst produzierten Konstrukt. Basler Institut für Soziologie. Er sagte, wohl etwas koket- Es gibt aber auch eine andere Nähe: eine Nähe durch tierend, zu den Studierenden, er hätte schon Vieles ver- Distanz, durch Respekt vor dem Fremden, das sich stets standen, wenn man es ihm bloss nicht erklärt hätte. entzieht und weder fassen noch vereinnahmen lässt. Sich Was ich verständlich machen möchte: Die Auseinan- fremd fühlen kann auch Ausdruck davon sein, zu akzep- dersetzung mit Vorurteilen führt weiter, wenn wir versu- tieren, dass sich Fremdes nicht verstehen lässt. Dieses Ver- chen, Differenz(en) zu akzeptieren, ohne zu banalisieren ständnis kontrastiert das intentionale Verstehen der her- oder zu dramatisieren. meneutischen Tradition. Das Fremde bleibt fremd, indem Während den relativ stabilen Wachstumsbedingun- es sich nicht identifizieren lässt. So kann das Verfremden gen der Nachkriegszeit beschrieb der Entwicklungspsycho- sozialer Realitäten dazu beitragen, diese besser zu verste- loge Erik Erikson7, wie (junge) Menschen durch freies Expe- hen. Wer Fremde unter Fremden trifft, mag erfahren, dass rimentieren mit verschiedenen Rollen ihren Platz in einem nichts Menschliches ihm fremd ist und alle Menschen so- gesellschaftlichen Bereich suchen können. Die Erwartun- ziale Wesen sind. Doch die zugelassene eigene wie fremde gen waren einigermassen klar, und die Identität hing da- Fremdheit verbindet, indem sie bestehen bleibt. Sie hilft, von ab, ob sich die Erwartungen erfüllen liessen. Es galt, das andere Ich als anderes Ich zu anerkennen. Die Akzep- Anspruch und Wirklichkeit möglichst zur Deckung zu brin- tanz setzt die Bejahung der Differenz voraus. Dazu gehört gen. Heute macht die Pluralisierung der Lebenslagen die die Integration des eigenen Fremden. Wer zum Beispiel Identitätsarbeit indes zu einem prekären Akt der Balance, seine eigenen Ängste akzeptiert, findet eher Zugang zu an- wie Heiner Keupp8 darlegt. Unter den Voraussetzungen zu- dern Geängstigten, ohne sie dadurch vielleicht «wirklich» nehmender Fragmentierung und Dezentrierung zeigt er die zu verstehen. Das Erkennen des eigenen Fremden ermög- Vorteile einer Patchwork-Identität auf, bei der das Subjekt licht eine Vertrautheit, die Ambivalenzen zulässt und dar- zum Konstrukteur seiner eigenen Person wird und sich auf verzichtet, Ordnung durch rigide Normierung oder von den Erwartungen des Umfeldes abnabelt. Keupp Gleichmacherei herzustellen. Wer auf diese Weise ver- grenzt dabei die Patchwork-Identität von der beliebig mul- sucht, sich, auch bleibende, Vorurteile zu vergegenwärti- tiplen Identität ab. Unter den Bedingungen der Pluralisie- gen, erfährt viel über sich und andere. Das ist ein unab- rung ist es bei den vielfältigen Erwartungen besonders dingbarer Schritt, um Vorurteile ein wenig abbauen zu wichtig, seine eigene Identität zu definieren, die, da stark können. subjektiv geprägt, auch das Bewusstsein über mögliche Vorurteile erhöht. Neue Verbindlichkeit und Identität Zur gelungenen Identität in der pluralistischen Ge- Anstelle des symbiotisch Nahen oder des hochstilisiert sellschaft zählt Keupp das reflexiv-kommunitäre Ich, das Anderen ermöglicht das Selbstverständnis, dass Grenzen sich vom proteischen wie vom fundamentalistischen und Vorurteile partiell überwindbar sind, eine Verbun- Selbst unterscheidet. Zum proteischen gehört die allseits denheit mit sich und andern. Die Akzeptanz der Pluralität flexible Person: Sie sucht keinen persönlichen Kern, legt anerkennt Widersprüche, ohne in eine beliebige Offenheit sich nie definitiv fest. Das fundamentalistische Selbst setzt abzugleiten. demgegenüber auf ewige Wahrheiten und paart sich mit Das Ausbrechen aus früheren Formen der Zwangsge- dem nationalen Grössenselbst. Das reflexiv-kommunitäre borgenheit, die der Soziologe Theodor Geiger als «Kuhstall- Selbst versteht sich als Alternative zum liberalistischen, wärme der Gemeinschaft» bezeichnete, hat zu einer sach- indem es die Fiktion eines ungebundenen Selbst ablehnt. lichen Distanziertheit geführt. Doch bei der angestrebten Heute lässt sich eine Pluralisierung der Lebensstile fest- «Coolness» ist es heute vielen allzu «cool» geworden. Das stellen, die partiellen Freiheiten sind grösser. Vielleicht 55 phIakzente 4 /2008 Anmerkungen gerät die Vielfalt zum heilsamen Stolperstein für jene, die 1 Allport Gordon (1954). The nature of prejudice. Reading. (Dt.: unter den neuen Bedingungen die alte Kongruenz suchen Die Natur des Vorurteils, 1971, Köln). oder der Versuchung erliegen, möglichst vielen fremden 2 Adorno Theodor et. al. (1950). The Authoritarian Personality. Erwartungen gerecht zu werden. Die Pluralisierung bein- New York. haltet die Chance, dass sich mit der Erfahrung der grösse- 3 Bourdieu Pierre (1997). Das Elend der Welt: Zeugnisse und Dia- ren Vielfalt ein Selbstverständnis verbreiten könnte, das gnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. Differenzen respektiert. Die ambivalente Identität lässt Wi- 4 Simmel Georg (1908/1983). Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Berlin. dersprüche zu. Die Akzeptanz einer Differenz, die nicht auf 5 Beck Ulrich (1996). Reflexive Modernisierung: eine Kontroverse. Spaltung angelegt ist, dynamisiert soziale Entwicklungs- Frankfurt a.M. prozesse. Sie fördert die selbstreflexive Auseinanderset- 6 Kästner Erich (1953). Die Kleine Freiheit. Zürich. zung mit Vorurteilen und mindert gefährliche, ausgren- 7 Erikson Erik H. (1957). Kindheit und Gesellschaft. Zürich. zende Homogenisierungen, die Identität als etwas verste- 8 Keupp Heiner et. al. (1999). Identitätskonstruktionen: das hen, das sich von oben und für alle verordnen lässt. Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek. Inserate Kurse/Computer DER Computerkurs in kleinen Portionen – speziell für Lehrpersonen. Mit Themen aus dem Schulalltag lernen Sie Ihren Computer und das Programm Word besser kennen. (cid:115)(cid:0)(cid:0)(cid:43)(cid:69)(cid:73)(cid:78)(cid:0)(cid:48)(cid:82)(cid:219)(cid:83)(cid:69)(cid:78)(cid:90)(cid:85)(cid:78)(cid:84)(cid:69)(cid:82)(cid:82)(cid:73)(cid:67)(cid:72)(cid:84) (cid:115)(cid:0)(cid:0)Monatliche Schritt-für-Schritt-Anleitung per E-Mail (cid:115)(cid:0)(cid:0)(cid:33)(cid:76)(cid:76)(cid:69)(cid:0)(cid:227)(cid:66)(cid:85)(cid:78)(cid:71)(cid:69)(cid:78)(cid:0)(cid:77)(cid:73)(cid:84)(cid:0)(cid:68)(cid:73)(cid:82)(cid:69)(cid:75)(cid:84)(cid:69)(cid:77)(cid:0)(cid:34)(cid:69)(cid:90)(cid:85)(cid:71)(cid:0)(cid:90)(cid:85)(cid:82)(cid:0)(cid:51)(cid:67)(cid:72)(cid:85)(cid:76)(cid:69) (cid:115)(cid:0)(cid:0)(cid:38)(cid:82)(cid:65)(cid:71)(cid:69)(cid:78)(cid:0)(cid:83)(cid:84)(cid:69)(cid:76)(cid:76)(cid:69)(cid:78)(cid:0)(cid:74)(cid:69)(cid:68)(cid:69)(cid:82)(cid:90)(cid:69)(cid:73)(cid:84)(cid:0)(cid:77)(cid:154)(cid:71)(cid:76)(cid:73)(cid:67)(cid:72) Beste Rohmaterialien, (cid:115)(cid:0)(cid:0)(cid:43)(cid:85)(cid:82)(cid:83)(cid:66)(cid:69)(cid:71)(cid:73)(cid:78)(cid:78)(cid:0)(cid:74)(cid:69)(cid:68)(cid:69)(cid:78)(cid:0)(cid:45)(cid:79)(cid:78)(cid:65)(cid:84) Gerätschaften und Zubehör (cid:115)(cid:0)(cid:0)(cid:38)(cid:211)(cid:82)(cid:0)(cid:48)(cid:35)(cid:0)(cid:85)(cid:78)(cid:68)(cid:0)(cid:45)(cid:65)(cid:67) für Hobby, Schulen, Kirchen und Werkstätten: (cid:43)(cid:79)(cid:83)(cid:84)(cid:69)(cid:78)(cid:0)(cid:69)(cid:73)(cid:78)(cid:90)(cid:69)(cid:76)(cid:26)(cid:0)(cid:17)(cid:15)(cid:18)(cid:0)(cid:42)(cid:65)(cid:72)(cid:82)(cid:0)(cid:35)(cid:40)(cid:38)(cid:0)(cid:17)(cid:17)(cid:16)(cid:14)(cid:110)(cid:12)(cid:0)(cid:17)(cid:0)(cid:42)(cid:65)(cid:72)(cid:82)(cid:0)(cid:35)(cid:40)(cid:38)(cid:0)(cid:17)(cid:25)(cid:16)(cid:14)(cid:110) E X A G O N (cid:43)(cid:79)(cid:83)(cid:84)(cid:69)(cid:78)(cid:0)(cid:51)(cid:67)(cid:72)(cid:85)(cid:76)(cid:69)(cid:26)(cid:0)(cid:17)(cid:0)(cid:42)(cid:65)(cid:72)(cid:82)(cid:0)(cid:35)(cid:40)(cid:38)(cid:0)(cid:19)(cid:25)(cid:16)(cid:14)(cid:110) Weitere Informationen und Anmeldung unter: BernerstrasseNord 210, 8064 Zürich Tel.044/430 36 76/86, Fax 044/430 36 66 www.dranbleiben.com E-Mail: [email protected], Internet-Shop: www.exagon.ch 6 phIakzente 4 /2008 Von Heinz Moser Professor für Medienpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich Am Turm der Wissenschaft bauen Vom Knarren im Theoriegebälk Versucht Wissenschaft, Vorurteile zu beweisen, liessen ihn fristlos, seine Karriere als Star in der Scientific oder ist es ihre Aufgabe, diese im Namen der Community war über Nacht beendet. Nun sind solch krasse Fälle eher die Ausnahme. Aber Wahrheit zu zerstören? So einfach, wie es auf auch im normalen Forschungsalltag gibt es immer wieder den ersten Blick scheint, ist diese Frage nicht zu Fragezeichen zu Forschungsergebnissen, denn Forscher lösen. Wer am Turm der Wissenschaft baut, will wollen natürlich ihre Hypothesen und Vermutungen be- weisen – mit der Widerlegung einer These, die man eigent- nicht das Fundament einreissen, auf welchem lich als bahnbrechende Neuerung der Öffentlichkeit prä- er als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin sentieren wollte, ist wenig zu gewinnen. Man stelle sich steht. vor, ein Wissenschaftler berichtet auf einer Konferenz: «Ich habe einen Wirkstoff zur Heilung der multiplen Skle- «Früher verspottet, heute ein begehrter Wissenschaftler», rose entwickelt. Doch das Ergebnis meiner Untersuchun- titelt am 9. September 2008 der Zürcher Tages-Anzeiger. gen lautet: Er wirkt absolut nicht.» Damit ist wohl kaum Der Artikel beschreibt die Karriere des Zürcher Diabetes- ein Nobelpreis zu gewinnen, auch wenn die Untersuchung Forschers Marc Donath, der zu Beginn mit seinen neuen seriös angelegt war. Ergebnissen zur Behandlung der Altersdiabetes bei den Forscherkollegen auf Spott und Hohn gestossen war. So Gewagte Korrelationen musste er sich auf einem Kongress der Europäischen Ge- So ist man häufig gerne bereit, Resultate etwas optimisti- sellschaft für Diabetesforschung, wo er einen Vortrag hielt, scher zu präsentieren, als dies bei kritischem Hinblicken sagen lassen «this Donath from Switzerland» könne un- geschähe. Oder man legt die gefundenen Korrelationen als möglich Recht haben. Der Wissenschaftler erinnert sich: Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge aus, die dann konkret «Alle haben gelacht. Ich sass im Publikum und konnte fast in Massnahmen umgesetzt werden. Ein gutes Beispiel für nicht mehr sprechen, so verletzt sei er gewesen. Nicht die eine solche Praxis ist das Buch von Manfred Spitzer «Vor- wissenschaftliche Kritik, sondern der Spott der angesehe- sicht Bildschirm!: Elektronische Medien, Gehirnentwick- nen Kollegen habe ihm zugesetzt. Ich hatte mehrere lung, Gesundheit und Gesellschaft»1. Spitzer setzt eine schlaflose Nächte. Wenn man von allen Seiten angegriffen Vielzahl empirischer Studien auf gewagte Weise miteinan- wird, fragt man sich irgendwann: ‹Spinne ich oder die der in Verbindung: Aus Studien zur Fettleibigkeit in den anderen?› sagt Donath. Sogar den Vorwurf, er habe Daten USA zieht er den Schluss, dass dort jährlich 400 000 Men- manipuliert, habe er sich damals gefallen lassen müssen» schen an Übergewicht sterben. Dann verweist er auf eine (Tages-Anzeiger, 9.9.2008, S. 32). an dere amerikanische Studie, die gezeigt habe, dass 17 % Der Vorwurf des wissenschaftlichen Betrugs ist ein des Übergewichts Erwachsener durch deren Fernsehkon- Aspekt, den dieser Text anspricht. Er macht deutlich, dass sum in Kindheit und Jugend verursacht wurde. Und es in der Wissenschaft auch um Karriere und um Macht schwupps: 17 % von 400 000 Toten ergeben 68 000 Tote, geht – so, dass mancher versucht ist, die empirische Welt die Spitzer dem Fernsehkonsum anlastet. Solche und ähn- mit einigen Handgriffen (auf gut deutsch: Mani-pulatio- liche Zahlenakrobatik geht munter über viele Seiten wei- nen) zu den eigenen Theorien in Übereinstimmung zu ter. Auch die Todesfälle in Deutschland kann man damit bringen, wenn die Daten nicht das leisten, was die For- hochrechnen, da man ja den Faktor der 17 % mittlerweise schenden von ihnen wollen. Fälle wie derjenige des Nano- bestimmt hat – bei insgesamt 120 000 Tote sind es 20 000 physikers Jan Hendrik Schön gibt es immer wieder und sie Fernsehtote pro Jahr. werden in den Medien genüsslich ausgeschlachtet. 2002 Diese Studie «belegt», was viele eigentlich «immer sollte Schön in Deutschland zum bisher jüngsten Direktor schon» wussten oder zu wissen glaubten: Wer stunden- eines Max-Planck-Instituts ernannt werden. Doch der lang Fernsehen schaut und dabei Chips und Erdnüsse in Traum platzte jäh, als amerikanische Wissenschaftler Un- Mengen futtert, bewegt sich zu wenig und wird davon stimmigkeiten in Schöns Veröffentlichungen entdeckten. auch noch fett. Spitzer «beweist» uns also unser Vorurteil Damit stand der junge Forscherstar unter dem Verdacht des und sattelt noch eins drauf: 20 000 Fernsehtote gebe es Forschungsbetrugs. Die Bell Labs, wo Schön arbeitete, ent- deswegen jährlich in Deutschland. Doch dies ist ein unzu- 7 phIakzente 4 /2008 lässiger Schluss auf ein Ursache-Wirkungsverhältnis. Na- Wunden der Eltern, denen in den ersten Monaten, vom türlich wird man Spitzer nicht Betrug vorwerfen. Vielmehr nächtlichen Geschrei ihrer Kinder genervt, schon Zweifel glaubt er an die «Wahrheit» seiner Ergebnisse und vertritt kommen mögen, wie sozial ihre Sprösslinge denn wirklich sie deshalb fast schon missionarisch. sind. Wie allerdings das Greifen nach der Holzfigur inter- pretiert werden muss, das bleibt allein den Beobachten- Bestätigung bestehender Vorurteile den und ihrer Empathie vorbehalten. Und ob das, was Allerdings kann man sich fragen, wie weit dies noch den hier geschieht, wirklich als «soziale Evaluation» bezeich- Anforderungen an Wissenschaft entspricht, die ursprüng- net werden kann, das bleibt ebenfalls offen. Sind die Re- lich Aufklärung über die Natur und die Gesellschaft bean- sultate vielleicht nicht eher die Projektionen der beteilig- spruchte. Häufig scheint es eher so, dass Wissenschaft be- ten Forscherinnen und Forscher? Die Stichprobe ist ohne- stehende Vorurteile stützt und sie damit der Kritik entzieht hin sehr klein, sie besteht nämlich lediglich aus 28 Kin- – dies ist, wie der eingangs zitierte Tages-Anzeiger Artikel dern … zeigt, ein weiterer Aspekt im Umgang mit wissenschaftli- chen Ergebnissen. Und weil es an Hochschulen und Uni- Hund und Herrchen ähneln sich versitäten viele angehende Wissenschaftler gibt, die sich Ach ja, da können wir noch eins drauf setzen: Haben wir mit einer Forschungsarbeit als Wissenschaftler legitimie- es nicht schon immer gewusst, dass sich Hund und Herr- ren müssen, wird auch geforscht, was das Zeug hält. Dabei chen ähneln? Amerikanische Psychologen haben dies jetzt scheint es oft Erfolg versprechender, wenn man legiti- ein für alle Mal wissenschaftlich bewiesen. Nach ihren miert, was ohnehin schon plausibel ist, als wenn man lieb Experimenten wird die Ähnlichkeit aber im Lauf der Zeit gewonnene Sichten in Zweifel zieht. Will man eine gute nicht stärker. Deshalb kommen sie zum Schluss, dass sich Abschlussnote erreichen, kann man es sich kaum leisten, die angehenden Hundebesitzer solche Tiere anschaffen, Resultate zu präsentieren, die der herrschenden Wissen- die ihnen am ehesten entsprechen. Dies gilt allerdings schaftsauffassung gegen den Strich gehen. nach Nicholas Christenfeld und Michael Roy von der Uni- Eine lehrreiche Website aus der Welt des Publish or versity of California, San Diego, nur für reinrassige Hunde. Perish präsentiert www.scienceticker.info, die über tages- Ihre Interpretation: Man kann die Eigenschaften reinrassi- aktuelle Nachrichten aus der Wissenschaft berichtet. Ein ger Tiere besser vorhersagen, so dass die Käufer eine ver- Beispiel: Nach einem dort publizierten und detailliert be- lässlichere Entscheidung treffen können. schriebenen Bericht schätzen schon 6 Monate alte Babies Kommt Ihnen als Leser/in das alles etwas spanisch Hilfsbereitschaft, während sie Störer negativ einschätzen, vor? In www.scienceticker.info ist die Methode der 2004 wie Versuche amerikanischer Psychologinnen belegen2: im Fachblatt Psychological Science3 erschienenen Studie «Auf dem Schoss eines Elternteils sitzend, sahen die 6 und genau beschrieben: «Das Forscherduo stützt seine Behaup- 10 Monate alten Säuglinge wie ein bunt angemaltes Holz- tung auf ein Experiment mit 28 Studenten. Diese bekamen klötzchen mit grossen Kulleraugen einen Berg zu überwin- jeweils drei Fotografien von Hundebesitzern, deren Hun- den versuchte. Einmal wurde es von einer weiteren Holz- den und fremden Hunden gezeigt und sollten das Hund- figur den Berg hinauf geschoben, dann von einer anders Herrchen-Paar identifizieren. Bei 16 von 25 reinrassigen gestalteten Figur den Berg hinab gedrängt. Vor die Wahl Hunden tippte die Mehrzahl der Studenten richtig. Die For- zwischen Helfer und Störer gestellt, griffen praktisch alle scher fanden keine Belege dafür, dass ein längeres Zusam- Kinder nach der hilfreichen Holzfigur. Die 10 Monate alten menleben von Hund und Mensch die Ähnlichkeit ver- Kinder schienen sogar verblüfft zu sein, wenn der Berg- stärkt. Welche Art von Ähnlichkeit den Ausschlag gibt – steiger selbst die Gesellschaft des Störenfrieds suchte. Die das Erscheinungsbild oder Persönlichkeitszüge – lassen Forscherinnen folgern daraus: ‹Unsere Beobachtungen las- Chris tenfeld und Roy offen. Merkmale wie Haarwuchs oder sen vermuten, dass Menschen sehr viel früher in ihrer Körpergröße scheinen jedoch nicht den Ausschlag zu ge- Entwicklung soziale Evaluation betreiben als bislang an- ben, so die Forscher. In jedem Falle ‹scheint es so, dass genommen.›» Offenbar stelle sich diese Fähigkeit von selbst Menschen ein ihnen ähnliches Lebewesen haben möch- ein und benötige keine Erfahrungen am eigenen Leibe oder ten›.» Da kommen wir in ein weites Feld, das manchmal Erzählungen von anderen … Hauptautorin des Berichts war an Skurrilität grenzt und methodisch auch nicht immer so übrigens nicht eine renommierte Wissenschaftlerin, wie ganz koscher wirkt. Wussten Sie schon, dass der Bericht suggeriert, sondern eine graduierte Studentin, • Koffein bzw. eine Tasse Kaffee hilft, andere zu überzeu- die das Studium noch nicht abgeschlossen hatte. gen, Hand aufs Herz: Hilfsbereite Kinder haben wir uns • die Entwicklung einer Aktie auch davon abhängt, wie doch schon immer gewünscht, und es beruhigt sehr, dass gut sich ihr Name aussprechen lässt, sich diese Fähigkeit so von selbst einstellt. Die Untersu- • Babygeruch Väter weich klopft und die härtesten Kerle chung erfüllt alle unsere Wünsche und ist Balsam auf die schmelzen, 8 phIakzente 4 /2008 • Hunde je nachdem, was den Vierbeinern durch den Kopf Erkenntnisse unerwünscht, weil sie die Macht des Herge- geht, stärker nach links oder nach rechts wedeln? brachten zerstören – und das heisst Prestige, Eitelkeiten All das ist wissenschaftlich bewiesen – in «scienceticker» und schlicht auch ökonomische Macht neu verteilen. Erst steht es. wenn so viele Anomalien in den geltenden Theorien auf- All diese Forscherinnen und Forscher bauen, wie dies tauchen, dass sie sich nicht mehr halten lassen, beginnt Karl Popper in einem Bild ausgedrückt hat, am Turm des die Krise: Das Theoriegebälk trägt nicht mehr, der Turm Wissens, der immer höher und höher wird, je mehr Er- fällt zusammen und das neue Paradigma führt die Wissen- kenntnisse hinzu kommen. Und wie unsere Beispiele zei- schaft zu neuen Ufern. gen, gibt es da auch einige hübsche Schnörkel und Erker- chen, die den Turm der Wissenschaft zuckerbäckerhaft Anmerkungen 1 Spitzer Manfred (2006). Vorsicht Bildschirm!: Elektronische Me- verzieren. dien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Stutt- Doch wie steht es um das Fundament dieses «norma- gart. len Wissenschaftsbetriebs»? Kritisches Überprüfen ist da 2 Hamlin Kiley J., Wynn Karen & Bloom Paul (2007). Social Evalu- oft nur gefragt, solange das tragende Gebälk des Theorie- ation by Preverbal Infants. In: Nature, Vol. 450, 22. November gebäudes nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Das 2007, pp 557-559. musste offensichtlich auch Marc Donath erleben. Thomas 3 Roy Michael M. & Christenfeld Nicholas J.S. (2004). Do Dogs Re- S. Kuhn hat in Die Struktur wissenschaftlicher Revolutio- semble Their Owners? In: Psychological Science, Nr. 5, S. nen4 beschrieben, wie schwierig es ist, dass die Wissen- 361-363. 4 Kuhn Thomas S. (2007). Die Struktur wissenschaftlicher Revolu- schaft ihre zentralen Paradigmen wechselt. Oft sind neue tionen. Frankfurt. 9 phIakzente 4 /2008 Von Thomas Hermann und Rudolf Isler Dozenten an der Pädagogischen Hochschule Zürich «Look Twice» Mit Bildern Vorurteile hinterfragen Die Arbeit mit Bildern in der Erziehung zu Tole- Gegenständen, eine mit Hinweisschildern und schliesslich ranz und zur Rassismusprävention hat Tradi- eine Serie zum Thema Holocaust. Während das Holocaust- Set formal und inhaltlich eine Einheit für sich bildet, kön- tion. Im nächsten Frühling erscheint im Verlag nen die einzelnen Bildmontagen der anderen Typen in- Pestalozzianum eine kommentierte Bildermap- haltlich verschiedenen Steigerungsformen ausgrenzenden pe zu Ausgrenzung, Rassismus und Holocaust.1 Verhaltens zugeordnet werden. Die Bildschiene in dieser Nummer von ph-akzente zeigt Beispiele aus den Serien Die Abbildungen des Schwerpunkts entstam- Tierbilder und Gegenstände. men dieser Bildermappe und geben eine Art Vorschau auf das Lehrmittel. In diesem Beitrag Steigerungsformen von Ausgrenzung wird gezeigt, was daran besonders ist und wes- Die formal nach den beschriebenen Typen gestalteten Bild- serien verweisen mit ihrer Aussage auf eine oder mehrere halb sich sein Einsatz im Unterricht lohnt. Formen von Ausgrenzung. Sie sind im Lehrmittel nach die- sen Steigerungsformen oder Eskalationsstufen geordnet. Zu Wie kann man menschenverachtende Taten illustrieren, jeder Stufe gibt es einen einführenden Kommentar, der ohne die Gefühle gewisser Gruppen zu verletzen oder be- den gesellschaftlichen Kontext und die Aktualität der The- stehende Vorurteile zu zementieren? Wie kann man hoch- matik in der Lebenswelt von Schüler/innen aufgreift. problematische zwischenmenschliche Situationen darstel- len, ohne sie so zu zeigen, dass sich bestehende Stereoty- 1) Feststellen von Unterschieden pen noch verfestigen statt abschwächen? Auf der Suche Die niederschwelligste und im Schulalltag häufigste Form nach Antworten geht Look Twice neue Wege. der Ausgrenzung ist das Feststellen von Unterschieden. Von da ist es oft nicht mehr weit zu einer Wertung, vgl. Keine Zementierung von Stereotypen Abb. Seiten 3, 11. Im Gegensatz zu bestehenden Materialien wie Schau hin! 2) Vorurteile und Stereotypen oder Was Menschen bewegt, die mit dokumentarischen Vorurteile und Stereotypen prägen unser Denken zu einem Fotos arbeiten, oder zum Comics Ich Rassist!? Ich Rassis- grossen Teil. Bildmontagen mit entsprechenden Aussagen tin!? wurde für Look Twice das Medium der Foto- oder Bild- sollen dazu anregen, solche Denkmuster zu hinterfragen, montage gewählt. Dabei wurde ausdrücklich auf die Dar- vgl. Abb. Seiten 3, 13, 17. stellung von Menschen verzichtet. Gezeigt werden plakati- 3) Ausgrenzung/Diskriminierung ve Bilder, die rasche Reaktionen provozieren und zu Dis- Menschengruppen, die mit bestimmten Vorurteilen behaf- kussionen Anlass geben. Der Transfer zu inneren Bildern tet sind oder die in stereotyper Art dargestellt werden, oder realen Ereignissen, welche die Schüler/innen aus ei- sind in Gefahr, von bestimmten Bereichen des öffentli- gener Erfahrung oder aus den Medien kennen, ist gut mög- chen Lebens ausgeschlossen oder andersweitig diskrimi- lich. Die Bildmontagen laden aber auch zum genaueren niert zu werden (z.B. ungleiche Rechte). Dies kann zwi- Hinschauen und zum vertieften Nach- und Weiterdenken schen Schüler/innen spontan geschehen, es gibt aber auch ein. Und: Sie bilden die Situationen, um die es geht, nicht systematische, institutionelle bzw. gesellschaftliche Diskri- eins zu eins ab und vermeiden dadurch, dass genau das minierungen. Auf solche Mechanismen weisen ebenfalls verfestigt wird, welches man aufweichen möchte. eine Anzahl von Montagen hin, vgl. Abb. Seiten 3, 11, 17. 4) Verbale oder physische Gewalt Bildmontagen als gesellschaftskritisches Genre Eine Reihe von Bildmontagen befasst sich mit unterschied- Seitdem die Künstler/innen der Dada-Bewegung ab 1916 lichen Formen und Eskalationsstufen von Aggression und mit Fotomontagen zu experimentieren begannen, wurde Gewalt, mit denen Schülerinnen und Schüler konfrontiert das Medium oft für den Ausdruck von Protest und Gesell- sein können, vgl. Abb. Seite 9. schaftskritik verwendet, etwa in der politischen Propa- 5) Diskriminierung aufgrund ethnischer, nationaler ganda. Auch die Bildmontagen dieser Mappe prangern di- oder religiöser Unterschiede rekt Verletzungen von Menschenrechten an. Es gibt eine Bildmontagen, die sich mit ethnischen, nationalen und Serie mit Tierbildern (in Anlehnung an Fabeln), eine mit religiösen Unterschieden und ihrer Bedeutung in der Le- 10 phIakzente 4 /2008

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weise, lieber ihre engen und falschen Meinungen und. Vor-Urteile über Jones und Jane Elliott wurde durch die Erfahrungen im. Schulzimmer und
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