IW~ESTFALlSCl 'o" m;;;: Z m ~ WISSENSCHAFrEN Nordrhein-Westfalische Akademie der Wissenschaften Geisteswissenschaften Vortrage . G 378 Herausgegeben von cler Norclrhein-Westfalischen Akaclemie cler Wissenschaften WOLFGANG KLUXEN Lex naturalis bei Thomas von Aquin Westdeutscher Verlag 242. Sitzung am 17. Oktober 1979 in Dusseldorf 410. Sitzung am 15. April 1998 in Dusseldorf Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fur diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhaltlich. Aile Rechte vorbehalten © Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden, 2001 Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer. Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulassig und strafbar. Das gilt insbe sondere fur Vervielfaltigungen, Dbersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf saurefreiem Papier. Herstellung: Westdeutscher Verlag ISSN 0944-8810 ISBN 978-3-531-07378-1 ISBN 978-3-322-88141-0 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-88141-0 Inhalt Vorwort .. ..... ..... . ........................................ 7 Einlcitung ................................................... 9 1. Ruckblick auf dic Geschichtc ................................. 13 Zur antikcn Vorgcschichtc .................................... 13 Aufnahmc des antiken Naturgcsetzcs im christlichcn Denken ....... 17 "Gesetz" und Hcilsgcschichte im christlichen Glaubensethos ........ 19 Scholastische Ansatzc zu Naturgesetz und Naturrecht ............. 22 2. Thomas von Aquin und seine thcologischc Synthese ............... 27 Philosophic in dcr Thcologie .................................. 27 Praktischc Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3. Yom Ewigen Gesctz zum Naturgesctz .......................... 32 Mctaphysischc Grundlagenrcflexion in der theologischen Synthese ... 32 4. Dic lex naturalis und das crste Prinzip der praktischen Vernunft ..... 35 Die konstitutivc Rolle der Vcrnunft ............................ 35 Yom Erstcrkanntcn zum crstcn Grundsatz ....................... 36 5. Hinordnung dcr Natur auf menschliche Guter und Ziele ........... 39 Naturgcgcbcnc "Ncigungen" als Vorgabe fur naturgesetzliche Normicrung ............................................... 39 Von den Prinzipicn zur Konkrction dcr Norm .................... 42 6. Ausblicke und cin Beispiclfall ................................. 46 Vorwort Zu dem Thema, das im Folgenden behandelt wird, habe ich zweimal in der Geisteswissenschaftlichen Klasse der Nordrhein-Westfalischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen, in jeweils abgewandelter Perspcktive. 1m vorlie genden Text sind beide Vortrage zusammengefaGt, wobei Wiedcrholungen zu beseitigen waren. Andererseits sind Erganzungen zugefugt, insbesondere der Ruckblick auf die Vorgeschichte, die im mundlichen Vortrag nicht mehr Platz finden konnten, und auGerdem sind Diskussionsbeitrage berucksichtigt, die im AnschluG an beide Vortrage gebracht wurden. Diese Erweiterungen sollen nicht den Charakter eines Vortrages and ern, der sich an ein gelchrtes, aber nicht ein spezialistisches, sondern interdisziplinar zusammengesetztes Auditorium wendet. Bei dies em darf man eine fundierte Allgemeinbildung voraussetzen, welche unter dem Titel "Naturrecht" auch eine Vorstellung von der bedeutenden Rolle des Thomas von Aquin fur diese Doktrin umfaGt. Freilich ist diese Vorstellung zumeist durch das Bild eines Thomismus der Schule gepragt, der Thomas durchgehend "metaphysisch" las, der das "Sollen" aus dem "Sein" begrunden wollte, und dies nicht zuletzt unter dem Eindruck der neuzeitlichen Naturrechtslehren. Hier setzte vielfach die Kritik an, aber es gab auch eine Anhangerschaft, die in einem metaphysisch gesicherten Naturrecht eine Kontrollinstanz gegen eine positivistische Rechts praxis sah. Erstaunlich ist, daG eine solche Vorstellung immer noch recht ver breitet ist, obwohl es seit Jahrzehnten eine Forschung gibt, die ein wesentlich modifiziertes Bild von der authentischen Doktrin des Thomas von Aquin erarbeitet hat. Die Diskussion unter fachlich spezialisierten Thomas-Interpreten findet auf dieser neuen Grundlage statt, und es ist die Absicht der folgenden Darlegun gen, mit wesentlichen Zugen dieser Grundlage bekannt zu machen. Es ist selbstverstandlich, daG unter den Interpreten einige Divergenzen bestehen, darunter auch solche von erheblichem Gewicht, besonders sofern es urn systematische Folgerungen mit Bezug auf aktuelle Fragen geht. Das ist ins besondere in der theologischen Ethik der Fall, fur die Thomas, namlich als Begrunder des nach wie vor fur diese Disziplin als gultig anzusehenden wis senschaftlichen Paradigmas, nicht bloG eine historische GraGe, sondern eine 8 Wolfgang Kluxen stets gegenwartige Instanz ist. Immerhin besteht Einigkeit iiber die Grund lage, und das heiBt wesentlich die MaBstabe, denen eine heutige Lektiire des Thomas-Textes und seines Kontextes zu entsprechen hat. Diese Kontroversen sollen hier nicht eigens beriicksichtigt, geschweige denn ausgebreitet werden. Ich halte es iiberhaupt nicht fiir sinnvoIl, in extenso auf sie einzugehen, und schon gar nicht in einem Vortrag, dem es auf die posi tive Darstellung ankommt, bei dem ich mich folglich (iiber die Angaben zu wortlichen Zitaten hinaus) auf wenige Belege oder erlauternde Hinweise be schranke. Aber es ist unvermeidlich, daB eine Darstellung, die notwendiger weise eine bestimmte Perspektive einnimmt, sich im kontroversen Feld posi tioniert, auch wo das nicht ausdriicklich gemacht wird. Es geschieht schon, wenn die Interpretation in philosophischer Absicht geschieht. Meine Sicht weise habe ich in der strukturanalytischen Untersuchung Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin (Mainz 1964, 3. Auflage Hamburg 1997) begriindet. Sofern mir im einzelnen Verweise darauf angebracht erscheinen, werden sie abgekiirzt gegeben (Kluxen Phil. Ethik). 1m Zusammenhang dieser Unter suchung habe ich auch eine eigene Interpretation der Lehre von der lex natu ralis vorgelegt, die freilich, im Hinblick auf den fachkundigen Leser, recht knapp gehalten war. Sie ist wieder das zentrale Thema der vorliegenden Dar stellung, doch nun in einem erweiterten Kontext, entsprechend der eingangs bezeichneten Absicht. Einleitung Das Lehrstuck von del' lex naturalis, dem "Naturgesetz", ist sichel' em Kernstuck in der philosophischen Ethik des Thomas von Aquin. Hier werden Fragen behandelt, die fur jede Ethik fundamental sind: so die Fragc nach del' Grundlegung der normativen Vcrnunft, so die Frage nach dem Grundbestand inhaltlicher Handlungsnormen, die allgemein und unter allen geschichtlichen U mstanden gelten. Es ist vor allem die zweite dieser Fragen, welche in einer bedeutenden, von stoischen Ursprungen bis zu Wolff reichenden Tradition durch den Hinweis auf die "Natur" beantwortet wird, die fur das wechselnde Handeln konstante Bedingungen setzt und sich im geschichtlichen Wandel menschlicher Zustande als dieselbe durchhalt. Dabei ist "N atur" weder der empirisch erhebbare Bestand, der als solcher keine Verbindlichkeit begrunden kann, noch auch der normenlos gedachte Zustand, der als bloGes "Material der Pflicht" zu gestalten ware, sondern das im Grunde erst durch den metaphysischen Begriff erfaGte, empirische Bestande allererst zu einem Ganzen zusammenordnende "Wesen", das als solches Handlungsmoglichkeiten eroffnet und zugleich dem Handeln den Sinn gibt, eben das Wesen zu erfullen. In solcher Doktrin muG das Gute austauschbar sein mit dem Seienden, das Sollen hangt am Sein - namlich an der metaphysis chen Vorgabe des Wesens -, die Ethik wird abhangig von der Meta physik. Das "Naturgesetz" besagt dann, daG die Natur uns in Pflicht nimmt natura obligat, wie Wolff wortlich sagt!. Es ist uns gelaufig, hier von einem metaphysischen Naturrecht zu sprechen, und es ist bei uns ublich, mit dem Ausdruck "Naturrecht" nicht nur das ius 1 Wolff wird als letzter Vertreter einer Tradition, welche eine metaphysische Naturrechtslehre im systematischen Zusammenhang mit der praktischen Philosophic behandclt, eindrucksvoll ge wurdigt von Joachim RITTER, Naturrecht bei Aristotcles, in: Metaphysik und Politik (Frank furt 1969), 133-146. - Fur eine allgemeine Orienticrung zur N aturrechtsgeschichte und -pro blematik vgl. Hans WELZEL, Naturrecht und matcrialc Gerechtigkeit (Gottingen 1951, "1962); ferner die enzyklopiidischen Artikel "Naturrecht" in: Historisches Worterbuch der Philosophie (= HWP), Bd. 6 (1984), 560-623; Staatslexikon Bd. 5 (11987), 1269-1314; Theologische Real enzyklopadie (= TRE) Bd. 24 (1994), 132-185. 10 Wolfgang Kluxen naturale, sondern auch die lex naturae zu ubersetzen, da wir das "Naturge setz" im gangigen Sprachgebrauch der Physik oder den empirischen Natur wissenschaften uberlassen haben. Aber nicht selten trifft man auch auf die Vorstellung, man habe unter "Naturrecht" eine uber- oder vorpositive Rechts ordnung von systematischer Geschlossenheit zu verstehen, die womoglich metaphysisch verankert, jedenfalls als "von Natur aus" und unmittelbar giiltig zu denken und als MaBstab fur positive Normierungen - wo nicht gar als subsidiare Rechtsquelle - zu verwenden sei. In diesem Sinne kann man die N aturrechtslehre des neuzeitlichen Rationalismus verstehen, und als rechts philosophische Position hat sie zuweilen harsche Kritik gefunden. Dem gegenuber muB man deutlich sagen, daB eine soIehe Vorstellung einer naturge gebenen und metaphysisch begrundeten Rechtsordnung der mittelalterlichen Scholastik und insbesondere Thomas von Aquin durchaus fremd ist. Die lex naturalis gehort uberhaupt nicht zu einer besonderen Rechtsphilosophie; sie ist niemals ein spezifischer Rechtsbegriff, sondern ist, wie schon eingangs gesagt wurde, ein fundamentales Lehrstuck der Ethik. Es ist naturlich nicht falsch, daB auch Thomas' Verstandnis des Rechts auf dies em Fundament beruht, und zwar genau in dem Sinne, wie das Recht ins gesamt notwendigerweise moralisch begrundet und damit auf jene Natur grundlage bezogen ist, auf weIehe die Moral sich grundet. Es ist dann auch von iustum naturale oder von ius naturale die Rede: Die Terminologie, weIehe die Scholastik ihren antiken und patristischen Quellen entnimmt, ist nicht ein deutig, aber vor allem sind ius und iustum oder auch iura nicht notwendig juristische oder Rechtsbegriffe; sie konnen schlicht fur Anspruche stehen, die moralisch gerecht sind, und wenn sie Rechte im strengen Sinne darstellen, so ergeben die iura naturalia, besonders wo sie im Plural auftreten, noch keine umfassende Rechtsordnung. Dabei liegt der Zusammenhang von "Gesetz" und "Recht" auf der Hand: Das Naturgesetz gibt uns "naturliche Rechte", und wenn man terminologisch unterscheiden will-was viele Autoren, selbst Inter preten des Thomas, nicht tun -, so ist "Naturgesetz" der umfassendere Be griff, sofern er die Grundlegung der gesamten normativen Ordnung enthalt. Dagegen wiirden unter "Naturrecht" jene Bezuge fallen, die den speziellen Begriff des "Gerechten" erfullen. Immerhin hat Thomas seinen spaten Schulern und Interpreten hinreichend Stoff geboten, aus dem nun eine thomistische Naturrechtslehre mit Anspruch auf metaphysische Grundlegung auszuarbeiten war. Schlie61ich lehrt Thomas die Vertauschbarkeit von "Seiend" und "Gut", man trifft bei ihm einen meta physischen Begriff der "Natur" des Menschen, es finden sich ethische Aus sagen bezogen auf metaphysische, und es gibt bis in jungste Zeit genug Interpreten, weIehe eine Grundung des "Sollens" auf das "Sein" fur eine ent- rex naturalis bei Thomas von Aquin 11 scheidende Position des Thomas halten. Aus solchen Ansatzen eine im eigent lichen Sinne "naturrechtliche" Systematik auszubauen, das hat mit beacht lichem Erfolg der neuzeitliche Thomismus, so besonders der spanische des 16. Jahrhunderts, unternommen, und er fand seine Fortsetzung bis ins letzte Jahrhundert. Diese Doktrin stand in Konkurrenz zu anderen Schul en, nicht nur "scholastischen", sondern auch jenen rationalistischen Naturrechts der Aufklarung, was sie naturlich deren EinfluG offnete, und nicht minder hat die Gegnerschaft zu anderen Rechtsbegrundungstheorien - positivistischen und idealistischen, liberalen und sozialistischen -, auf die zu reagieren war, Ruckwirkungen gezeitigt. Man darf sagen, daG diese entwickelte Doktrin im kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Raum recht wirksam war, und gerade ihre metaphysische Stabilisierung wurde von ihrer Anhangerschaft geschatzt. Wenn Thomas von Aquin ein "Klassiker des Naturrechts" genannt wird, so hat man regelmaGig diese neuzeitliche Wirkungsgeschichte im Auge. Es fragt sich freilich, wie weit die authentische Lehre des Thomas dafur in Anspruch genom men werden kann, was zugleich fragen laGt, wie weit sie von der Kritik betroffen ist, der die metaphysische Naturrechtslehre ausge setzt ist. Aus der Kritik hebe ich ein Argument heraus, das in vielen Einwanden eine Rolle spielt. Es ist der Vorhalt des "naturalistischen Trugschlusses", wie man seit G. E. Moore, der sich seinerseits auf D. Hume beruft, zu sagen pflegt2• Auf einfachste Form gebracht, besagt das Argument, daG sich aus einem ,,1st" nicht ein "So11" logisch herleiten lasse. Fur jede Folgerung gilt ja, daG sie nichts enthalten kann, was nicht schon in den Pramissen vorkommt. Dies ist eine logische Elementareinsicht, ja eine Trivialitat. Aussagen rein theoretischen oder konstativen Charakters konnen nicht solche wertenden oder normativen Charakters zur logischen Folge habe. Aus einer Erkenntnis der vorgegebenen "Natur", sei sie auch metaphysisches Wesenswissen, laGt sich keine Ethik her leiten. Die Tragweite des Arguments wird aber uberschatzt, wenn dam it normative Erkenntnis von jeglichem Tatsachenwissen abgekoppelt werden solI. Das Gegenteilliegt ja auf der Hand: Wenn etwas "sein soll" in einer Welt, die schon "ist", so ist die Kenntnis dessen, was ist, die selbstverstandliche Voraussetzung dafur, daG jenes "Sollen" uberhaupt einen Sinn fur uns hat. Normenbegrun dungen beziehen sich immer auch auf festgestellte Vorgegebenheiten: Auch 2 George Edward MOORE, Principia ethica (London 1903; deutsch Frankfurt 1970); dag nicht nur der eigentliche "Naturalismus", sondern auch metaphysische u.a. Ableitungen gemeint sind, sagt Moore ausdriicklich, a.a.O. 39.