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Leitfaden Qigong. Gesundheitsfördernde und therapeutische Übungen der chinesischen Medizin PDF

584 Pages·2007·8.629 MB·German
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Zuschriften und Kritik an: Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag, Lektorat Komplementäre und Integrative Medizin, Karlstraße 45, 80333 München Wichtiger Hinweis für den Benutzer Die Erkenntnisse in der Medizin unterliegen laufendem Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Herausgeber und Autoren dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes aber nicht von der Verpflichtung, anhand entsprechender Literatur zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Buch abweichen und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen. Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage Mai 2007 © Elsevier GmbH, München Der Urban & Fischer Verlag ist ein Imprint der Elsevier GmbH. 07 08 09 10 11 5 4 3 2 1 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer- tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektro- nischen Systemen. Planung und Lektorat: Christl Kiener, München Projektmanagement: Christl Kiener, Petra Münzel-Kaiser, München Redaktion: Dr. med. Gabriele Schmid, München Herstellung: Marion Kraus, München Satz: Kösel, Krugzell Druck und Bindung: Appl aprinta GmbH & Co Druck KG, Wemding Fotos: Susanne Kracke, München Umschlaggestaltung: Rainald Schwarz, München Gedruckt auf 80 g Bavaria matt 1,1-faches Volumen ISBN 978-3-437-56340-9 Aktuelle Informationen finden Sie im Internet unter www.elsevier.de und www.elsevier.com V Vorwort Die Übungen, die heute unter dem Namen Qigong zusammengefasst werden, gehören einerseits zu den „Fünf S äulen“ oder Haupttherapieformen der chine- sischen Medizin (neben Akupunktur, Arzneimitteltherapie, Diätetik und chine- sische manuelle Therapie Tuina). Andererseits wurden sie in China auch in ver- schiedenen philosophischen und religiösen Strömungen praktiziert und waren Teil der alltäglichen Lebensführung in der Bevölkerung. In den letzten 30 Jahren findet Qigong auch bei uns im Westen immer regeren Zuspruch. Die meisten Bücher in westlicher Sprache stellen in der Regel eine ausgewählte Übung oder ein einzelnes Übungssystem dar. Vor diesem Hintergrund war es unser Anliegen, ein übergreifendes Buch zur praktischen Anwendung des Qigong im Rahmen der chinesischen Medizin zu erstellen. Es richtet sich demnach vor allem an den in chinesischer Medizin v orgebildeten Therapeuten und an Qigong-Praktizierende, die Qigong inner- halb der chinesischen Heilkunde anwenden möchten. Die anderen Bereiche, d enen Qigong ebenfalls zuzuordnen ist – wie Kunst, Daoismus und Philoso- phie –, sind nicht Schwerpunkte des Buches, weshalb wir sie nur am Rande er- wähnt haben. Anhand von in China und inzwischen auch bei uns in Deutschland weit verbrei- teten Qigong-Übungen (wie die „Sechs Laute“, das „Spiel der Fünf Tiere“) woll- ten wir in diesem Zusammenhang zeigen, wie sie bei unterschiedlichen Krank- heitsbildern therapeutisch angepasst und angewendet werden können. Denn bei den verschiedenen Übungsmethoden des Qigong werden Wirkfaktoren, die die körperlichen, seelischen und geistigen Bereiche des menschlichen Lebens ansprechen, zwar unterschiedlich gewichtet, aber sie sind immer in ihrer Ge- samtheit vorhanden. Deshalb lassen sich die gleichen Qigong-Übungen durch unterschiedliche Betonung der Wirkfaktoren bei verschiedenen Erkrankungen einsetzen. Der Inhalt dieses Leitfadens umfasst zunächst einführende Kapitel, in denen ein historischer Überblick und ein Einblick in die verschiedenen Arten des Qigong (Kap. 1) gegeben sowie seine grundlegenden Konzepte (Kap. 2) und Übungs- prinzipien (Kap. 3) beschrieben werden. Anschließend folgt der Teil zur the- rapeutischen Anwendung des Qigong (Kap. 4 und 5). Bei der Auswahl der Er- krankungen haben wir uns zum einen von klinischen Erfahrungen (z. B. bei Schmerzen) und bereits vorliegenden klinischen Studien (z. B. bei asthmatischen Erkrankungen, Bluthochdruck oder Migräne) leiten lassen, zum anderen haben wir zahlreiche eher allgemeine und weit verbreit ete Beschwerden ausgewählt (wie Appetitlosigkeit, Erkältungskrankheiten etc.), bei denen sich die Anwen- dung von Qigong bewährt hat. Die therapeutischen Hinweise sind so gehalten, dass einerseits eher allgemeine Empfehlungen zur Auswahl von Übungen ge- geben werden, andererseits aber aus einem bestimmten Repertoire von relativ bekannten Qigong-Übungen (Kap. 7) einzelne Teile oder Formen empfohlen werden, wobei bestimmte Wirkfaktoren bei der Ausübung besonders zu berück- Vorwort VI sichtigen sind. Diese Betonung der Wirkfaktoren lässt sich auch auf andere Qigong-Übungen übertragen. In Kapitel 6 haben wir vor allem Anwendungsgebiete des Qigong berücksich- tigt, die sich in westlichen Ländern bereits bewährt haben und die auf hier bekann te Qigong-Methoden zurückgreifen. Sie konzentrieren sich weitgehend auf Gesundheitsförderung, therapeutische Anwendung sowie Unterstützung und Bereicherung in der Lebensgestaltung, wie z.B. die Möglichkeiten des Qi- gong in den verschiedenen Lebensaltern. Im letzten Kapitel (Kap. 7) wird schließlich eine Auswahl relativ bekannter und gebräuchlicher Qigong-Übungen beschrieben. Diese können nur einen Eindruck vom Charakter der Übungen vermitteln und auf diese Weise beim Üben als Ge- dankenstütze dienen. Werden Qigong-Übungen zu therapeutischen Zwecken erlernt, ist immer eine Anleitung durch einen qualifizierten Lehrer erforderlich. Aufgrund der Uneinheitlichkeit der Terminologie für die chinesische Medizin im deutschsprachigen Raum und der daraus resultierenden Unschärfe der Be- griffe haben wir uns dazu entschlossen, für die wichtigsten chinesischen Fach- begriffe sowohl eine relativ gebräuchliche deutsche Übersetzung als auch den lateinischen Begriff zu verwenden; außerdem geben wir die chinesische Pinyin- Umschrift an. Zur Realisation dieses Buches haben viele beigetragen. Unser Dank als He- rausgeber gilt zunächst den Mitautoren, deren Erfahrungen auf Spezialgebie- ten die Konzeption des Buches ermöglicht haben. Weiterhin möchten wir den Q igong-Übenden, die sich für die Fotos zur Verfügung gestellt haben, herzlich d anken: Waltraud Gawlik, Simon Goedicke, Andrea Güstrau, Dariusch Hekmatt, Michael Hölzl, Dagmar Mebus, Heide Perzlmaier und Angelika Rauch. Wir b edanken uns auch bei Agnes Fatrai für ihre t atkräftige Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte, Dr. Rainer Nögel für seine medizinischen Ratschläge und Korrekturen sowie Waltraud Gawlik und Sepp Leeb für die hilf- reiche Durchsicht der Manuskripte. Außerdem danken wir Christl Kiener und Petra Münzel-Kaiser sowie den hier nicht namentlich genannten Mitarbeitern des Verlages Urban & Fischer, Elsevier, für die fachkundige Begleitung. Die Herausgeber Ute Engelhardt Gisela Hildenbrand Christa Zumfelde-Hüneburg VII Herausgeber und Autoren Engelhardt, Ute, Dr. phil. Sinologin und Lehrbeauftragte am I nstitut für Sinol ogie der Universität Mün- chen, Vizepräsidentin der Internationalen Gesellschaft für chinesische Medizin (Societas Medicinae Sinensis, SMS) sowie Chefredakteurin der Zeitschrift Chine- sische Medizin. Im Bereich des Qigong und Yangsheng tätig als Kursleiterin und Referentin. Zu ihren Veröffentlichung en gehören Die klassische Tradition der Qi-Übung en (Qi- gong), 1987/1998, und Chinesische Diätetik, 2006 (3. Auflage). Hildenbrand, Gisela, Priv. Doz. Dr. med. Mitbegründerin und Vorstandsmitglied der Medizinischen Gesellschaft für Qi- gong Yangsheng. Im Bereich des Qigong und Yangsheng tätig als Kursleiterin und Referentin so- wie in der Redaktion der Z eitschrift für Qigong Yangsheng, Herausgeberin von Fachbüchern zum Qigong Yangsheng. Zumfelde-Hüneburg, Christa, Dr. med. Fachärztin für Anästhesiologie, spe zielle Schmerz therapie, Naturheilverfahren, Akupunktur. Nieder gelassen in eigener Praxis seit 1986. Vorstandsmitglied der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng. Im Bereich des Qigong Yangsheng tätig als Kursleit erin und Referentin. For- schungsarbeiten über Atemphy siologie und Kalorimetrie bei Qigong, 1994, 1996. Geißler Manfred, Dipl.-Psych. Psychologischer Psychotherapeut. Vorstandsmitglied der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng; tätig als Kursleiter und in der Redaktion der Zeitschrift für Qigong Yangsheng. Gentz, Wolfram, Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeut. Mit dem Schwer- punkt Akupunktur und Chinesische Medizin niedergelassen in eigener Praxis in München. Veröffentlichung von Artikeln über den Einsatz der chinesischen Me- dizin in der Behandlung von psychischen Erkrankungen. Hofmann, Horst Oberstudienrat für Mathematik und Physik. Kursleiter für Qigong Yangsheng, Lehrerfortbilder, zahlreiche Veröffentlichun- gen zum Einsatz von Qigong Yangsheng in der Schule, entwickelte das Konzept eines Ganzheitlichen Unterrichtsmanagements (GUM). Krafft, Christine Dipl.-Kunsttherapeutin und Tuina-Ther apeutin. Im Bereich des Qigong Yangsheng tätig als Kursleiterin und Therapeutin an der Klinik Dr. Franz Dengler, Baden-Baden. Veröffentlichungen über kli- nische Fallbeispiele in der Zeitschrift für Qigong Yangsheng. Herausgeber und Autoren VIII Lienau, Dagmar, Dipl.-Psych. Approbierte Psychotherapeutin, Ausbildung in Integrativer Gestaltpsychothera- pie und Traumatherapie. Übungsleiterin für Qigong Yangsheng, Mitglied in der Medizinischen Gesell- schaft für Qigong Yangsheng, seit 1995 Arbeit in einer ambulanten Krebsbera- tungsstelle. Martin, Susanne, Dipl.-Psych. Psychotherapeutin, Ausbildung in Systemischer Therapie und NLP-Master- Practitioner; Tätigkeit im Rheumazentrum Schlangenbad (Reha-Klinik), danach Wechsel in die HSK-Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Im Bereich des Qigong Yangsheng tätig als selbständige Kursleiterin, in der Klinik Integration von Qigong als übendes, körperorientiertes Verfahren in die therapeutische Arbeit. Perzlmaier, Heide, Dipl.-Soz. Päd. (FH) Seit 1996 Schwerpunkt der Tätigkeit in der psychosozialen Beratung mit Krebs- patienten. Im Bereich des Qigong und Yangsheng tätig als Kursleiterin, seit 2003 Dozentin bei der Internationalen Gesellschaft für chinesische Medizin (Societas Medici- nae Sinensis, SMS). Reuther, Ingrid, Dr. med. Fachärztin für Anästhesie, Akupunktur. Niedergelassen in eigener TCM-Praxis. Im Bereich des Qigong Yangsheng t ätig als Kursleiterin und Referentin. Koordi- natorin des schulenübergreifenden Arbeitskreises Qigong in der Medizin. Pro- motion 1997 über Qigong Yangsheng als komplementäre Therapie bei Asthma. Rohrmoser, Edeltraut Seit Gründung der Medizinischen Gesellschaft für Qigong Yangsheng Mitglied, Kursleiterin und Referentin. Verö ffentlichungen in Fachbüchern zum Themen- schwerpunkt Qigong Yangsheng in der Pädagogik; spezielles A rbeitsgebiet mit lern- und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Schubert, Stephan, Dipl.-Psych. Psychotherapeut, angestellt in einem neuro-orthopädischen Krankenhaus und Zentrum für Rehabilitation mit neurologischer, orthopädischer und psychoso- matischer Klinik. Dort seit 2000 ermächtigt zur psychotherapeutischen Versor- gung von Patienten im Rahmen der Schmerzambulanz. Als Kursleiter im Bereich des Qigong Yangsheng vor allem tätig im Klinikrah- men. 1 (cid:206) 1 Einführung Inhalt Ute Engelhardt 1.1 „Lebenspflege“ (yang- 1.2.3 Qigong nach der Kultur- sheng): Begriffsklärung revolution . . . . . . . . . . . 10 und historischer Über- 1.3 Verschiedene Arten des blick . . . . . . . . . . . . . . . 3 Qigong . . . . . . . . . . . . . 12 1.1.1 Zum Begriff Yangsheng . . . 3 1.3.1 Einteilungen . . . . . . . . . . 12 1.1.2 Yangsheng zwischen Han- 1.3.2 „Übungen in Ruhe“ und und Tang-Zeit . . . . . . . . . 4 „Übungen in Bewegung“ . . 13 1.1.3 Sui- und Tang-Zeit . . . . . . 5 1.3.3 Übungswege . . . . . . . . . . 15 1.1.4 Song-Zeit . . . . . . . . . . . . 7 1.3.4 Taijiquan . . . . . . . . . . . . 15 1.1.5 Späte Kaiserzeit . . . . . . . 7 1.3.5 Selbstmassage. . . . . . . . . 15 1.2 Qigong: 1.4 Stellung des Qigong in- Begriffsklärung und nerhalb der chinesischen historischer Überblick . . 8 Medizin . . . . . . . . . . . . . 17 1.2.1 Zum Begriff Qigong . . . . . 8 1.2.2 Neuere Geschichte des Qigong . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einführung 2 „Yao richtete folgende Frage an Shun: Was ist das Wertvollste auf 1 E rden? Shun antwortete: Das Leben ist das Wertvollste.“ („Zehn Fragen“, Shiwen, aus dem Mawangdui-Korpus, 168 v. Chr.) Der Wunsch nach Gesundheit und Wohlbefinden, Lebenskraft und geistiger Klarheit bis ins hohe Alter nimmt bei den Menschen aller Kulturen eine tragende Rolle ein. In China zählen Methoden, die der Kultivierung des Lebens, dem Erhalt der Gesundheit und der Stärkung der Lebenskräfte dienen, zu den am meisten geschätzten Kulturgütern. Schon von frühester Zeit an legte man dort besonderen Wert auf Nähren (yang) und Bewahren: Man nährte sein Leben (yangsheng), seine Wesensnatur (yangxing), seine Gestalt (yangxing), seine Per- sönlichkeit (yangshen), aber auch seinen Willen (yangzhi) und sein Bewusstsein (yangxin). Die Konfuzianer nährten oder pflegten vor allem ihre Tugenden und ihre menschlichen Qualitäten, und in den Kreisen der Heilkundigen und Daois- ten wurde besonders „das Leben genährt“ bzw. „das Leben kultiviert“ (yang- sheng). Dies geschah mittels bestimmter Techniken, von denen viele in die heute praktizierten Qigong-Methoden integriert sind. Im alten China umfasste die Kultivierung des Lebens oder „Lebenspflege“ (yang- sheng) eine Vielzahl von Verhaltensweisen, Regeln und Techniken: Atem- übungen, Aufnahme von kosmischem Qi, Diätetik, Arzneimitteleinnahme, Vi- sualisations- und Kontemplationsübungen, gymnastische Methoden, sexuelle Praktiken und allgemeine Gesundheitsregeln für den Alltag sowie kalendarische Ge- und Verbote. Ebenso zählen dazu Vorschläge zum Gebrauch der Sprache, zur Beschäftigung mit den Künsten und zum Umgang mit der Natur. Praktiken zur „Lebenspflege“ (yangsheng), aus denen sich die Methoden des Qi- gong entwickelt haben, waren schon seit dem 3. Jh. v. Chr. und damit seit Beginn der eigentlichen Entstehung der chinesischen Medizin ein integraler Bestandteil derselben. Bis heute zählen diese Praktiken neben Akupunktur, Arzneimittel- therapie, Diätetik und der manuellen Therapie Tuina zu den „Fünf Säulen“ oder Haupttherapieformen der chinesischen Medizin. Allerdings waren sie nicht auf den medizinischen Bereich beschränkt, sondern spielten sowohl im Rahmen a ller philosophischen und religiösen Strömungen als auch in der Kriegskunst und in der alltäglichen Lebensführung der breiten Bevölkerung seit alters her eine wichtige Rolle. Ihre Ausübung war also nicht auf spezifische Gruppen be- schränkt. 1.1 „Lebenspflege“ (yangsheng): Begriffsklärung und historischer Überblick 3 1.1 „Lebenspflege“ (yangsheng): Begriffs- klärung und historischer Überblick 1 1.1.1 Zum Begriff Yangsheng Der Begriff „Lebenspflege“ (yangsheng) erscheint erstmals im Titel des 3. Kapi- tels von Zhuangzi („Meisterschaft in der Lebenspflege“, Yangsheng zhu), das zu den authentischen Kapiteln dieses Werkes zählt und dem Philosophen Zhuang Zhou (4. Jh. v. Chr.) selbst zugeschrieben wird. Die körperlichen Praktiken sieht Zhuangzi allerdings gegenüber den meditativen Methoden eher als minderwer- tig an und schreibt dazu im 15. Kapitel: „Schnaubend ein- und ausatmen, das Alte ausstoßen, um das Neue aufzunehmen, sich wie ein Bär gleitend bewegen und wie ein Vogel ausbreiten, dies alles verhilft nur zu einem langen Leben. Darin erschöpfen sich die Bemühungen der Adepten, die die ‚Übungen zum Leiten und Dehnen‘ (daoyin) praktizieren, ihre Gestalt näh- ren (yangxing) und dadurch ein langes Leben wie (der legendäre ‚Unsterbliche‘) Pengzu zu erlangen hoffen.“ In dieser Passage finden sich bereits Bezeichnungen von Atemmethoden, gym- nastischen Tierübungen und Körpertechniken, die auch in späteren Schriften immer wieder genannt werden. In zahlreichen medizinischen Manuskripten aus der Zeit der Streitenden Reiche (403 – 221 v. Chr.) und der Qin-Zeit (221 – Abb. 1.1 „Sich wie ein Bär gleitend Abb. 1.2 „Sich wie ein Vogel/Kranich bewegen“, Darstellung aus dem ausbreiten“, Darstellung aus dem Daoyintu (Mawangdui, 168 v. Chr.) Daoyintu (Mawangdui, 168 v. Chr.) 1 Einführung 4 206 v. Chr.) werden diese Yangsheng-Techniken wieder aufgegriffen und zum Teil detailliert beschrieben (+ Abb. 1.1, 1.2). Wie aus den Mawangdui-Doku- 1 menten (168 v. Chr.) und den Manuskripten aus Zhang Jiashan (186 v. Chr.) er- sichtlich, wurden sie damals vor allem zur Prophylaxe sowie zur Behandlung von Krankheiten angewendet. In der breiten Auswahl an Übungen scheinen in dieser frühen Zeit sexuelle Praktiken und die Aufnahme von Qi (fuqi, auch shiqi „Essen von Qi“) eine besondere Rolle gespielt zu haben (Despeux, 1989; Harper, 1998; Engelhardt, 1997, 1998, 2000, 2001; Stein, 1999; Lo, 2001). Alle diese Schriften scheinen auf allgemein verbreitete Praktiken zurückgegriffen zu haben, die zum Teil regionale Unterschiede aufwiesen und in Gelehrtenk rei- sen und bei Medizinern regen Zuspruch fanden. Vor allem wegen der damaligen Vorstellung, man könne tatsächlich physische Unsterblichkeit erlangen, wurden sie später allerdings von einigen Literaten auch kritisiert. So zweifelte zum Beispiel Wang Chong (27 bis ca. 100 n. Chr.) an den Bemühungen einiger Daois- ten (daojia), „ihre Wesensnatur (yangxing) mit Gymnastik und Leiten des Qi (dao- qi) zu nähren und auf diese Weise Generationen (von Sterblichen) zu transzendie- ren und unsterblich zu werden“ („Abwägung von Lehrmeinungen“, Lunheng, Kap. 7). 1.1.2 Yangsheng zwischen Han- und Tang-Zeit Nach der Han-Dynastie (206 v. Chr. – 220 n. Chr.), unter der die „Lebenspflege“ (yangsheng) und die chinesische Medizin ihre erste Blütezeit erlebten, begann eine Phase, die durch eine Zersplitterung des Reiches, durch innere Kämpfe und durch Einfälle zentralasiatischer Völker gekennzeichnet war. China blieb mehr als 300 Jahre lang geteilt und wurde erst unter der Sui-Dynastie (589) wieder geeinigt. In diesen unruhigen Zeiten wandten sich viele junge Männer von einer aussichtsreichen Karriere als Beamter ab und widmeten sich stattdessen den schönen Dingen des Lebens, wie Poesie, philosophischem Diskurs, Musik und „Lebenspflege“ (yangsheng). Entsprechend entstanden in dieser sehr individua- listisch ausgerichteten Epoche zahlreiche Werke zur „Lebenspflege“ (yang- sheng), von denen uns leider nur sehr wenige erhalten sind. Ein exemplarischer Vertreter dieser Zeit war der Literat und Musiker Xi Kang (223 – 262), der sich intensiv mit den Praktiken zur „Lebenspflege“ (yangsheng) auseinandersetzte. Er war einer der berühmten „Sieben Weisen aus dem Bam- bushain“ (zhulin qixian) und schrieb unter anderem die „Abhandlung über die Lebenspflege“ (Yangsheng lun) und später eine Antwort auf eine Kritik seiner ersten Schrift mit dem Titel „Erwiderung der Kritik (des Xiang Xiu) an der Ab- handlung über die Lebenspflege“ (Da Nan yangsheng lun) (Engelhardt, 2004; Henricks, 1983; Holzman, 1957). Die relativ kurze „Abhandlung über die Lebenspflege“ (Yangsheng lun) ist trotz ihres Titels kein Handbuch zur „Lebenspflege“ (yangsheng), sondern hinterfragt auf einer allgemeinen, philosophischen Ebene, wem es möglich ist, die Unsterb- 1.1 „Lebenspflege“ (yangsheng): Begriffsklärung und historischer Überblick 5 lichkeit zu erreichen und wem nicht – ein Thema, das damals viele Menschen beschäftigt zu haben scheint. 1 Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen tritt Xi Kang vehement für den Glau- ben an eine reale Unsterblichkeit ein. Diese kann seiner Meinung nach allerdings weder durch einseitiges Studium (xue) noch durch eigene Anstrengung (li) er- langt werden. Vielmehr ist sie eine natürliche Gabe, die sich in Form eines „außer- gewöhnlichen Qi“ (yiqi) manifestiert. Wem dieses besondere Qi nicht b eschieden ist, kann trotzdem durch regelmäßige Übung ein langes Leben erreichen. Im Rahmen der „Lebenspflege“ (yangsheng) betont Xi Kang wie Zhuangzi, von dem er stark beeinflusst war, vor allem die Kultivierung des Geistes. So stellt er zum Beispiel gleich zu Beginn seiner „Abhandlung über die Lebenspflege“ (Yangsheng lun) fest, dass „das Verhältnis der geistigen Kräfte (jingshen) zum Körper vergleichbar ist mit dem eines Fürsten zu seinem Land.“ Entsprechend räumt er Begierdelosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Ruhm und Reichtum einen hohen Stellenwert ein (Engelhardt, 2004). Die Betonung des Geistigen in der „Lebenspflege“ (yangsheng) wird etwa 100 Jah- re später von Zhang Zhan (frühes 4. Jh.) in seinem „Kompendium der wesent- lichen Prinzipien und Methoden zur Kultivierung des Lebens“ (Yangsheng yaoji) weitergeführt. Im Vorwort seines Werkes würdigt Zhang Zhan zunächst Xi Kang, kritisiert allerdings auch seine rein philosophische Argumentation als das „Fern- liegende“. Er selbst möchte sich dem „Naheliegenden“ zuwenden, nämlich der praktischen Anwendbarkeit der Techniken zur Lebenspflege (Stein, 1999). 1.1.3 Sui- und Tang-Zeit In der Sui- und Tang-Zeit (581 – 907) standen die gymnastischen Daoyin- Übungen („Übungen zum Leiten und Dehnen“) sowie Atemtechniken im Zent- rum der „Lebenspflege“ (yangsheng). Sie wurden sowohl in medizinischen als auch in daoistischen Kreisen überliefert. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die 610 von Chao Yuan- fang und anderen verfasste „Abhandlung über Ursprung und Verlauf von Krankheiten“ (Zhubing yuanhou lun), die das erste erhaltene Werk ist, das sich eingehend mit den Ursachen und der Entstehung von Krankheit (Ätiopathoge- nese) und ihrer systematischen Einordnung und Beschreibung (Nosologie) be- schäftigt. Außerdem ist sie auch das erste medizinische Werk, das in offiziellem kaiserlichen Auftrag erstellt wurde. Nach ausführlicher Darstellung der einzel- nen Krankheitsbilder werden darin jedoch keine konkreten Ratschläge für eine Arzneimittel- oder Akupunkturtherapie gegeben, sondern spezielle Yangsheng- Techniken empfohlen. Dies sind vor allem Daoyin-Methoden, Atemübungen, Visualisationen, Massagetechniken und allgemeine diätetische Ratschläge für eine gesunde Lebensführung. Bemerkenswert an diesem Werk ist demnach vor allem das Bestreben, Yangsheng-Methoden ganz gezielt gegen bestimmte Krank- heiten einzusetzen (Engelhardt, 2002).

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