ebook img

Lehrberuf und Gesundheit: Vom Problemansatz zur - Anita Märki PDF

90 Pages·2005·0.83 MB·German
Save to my drive
Quick download
Download
Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.

Preview Lehrberuf und Gesundheit: Vom Problemansatz zur - Anita Märki

Pädagogik/Soziale Arbeit Kompetenzzentrum RessourcenPlus R+ Stress abbauen, Kompetenzen stärken, Gesundheit fördern Lehrberuf und Gesundheit: Vom Problemansatz zur Ressourcenperspektive Eine Materialiensammlung aufgrund von Literaturrecherchen Anita Märki April 2005 Der Bericht entstand am Zentrum RessourcenPlus R+, das im Rahmen des Netzwerkes Schweiz „bildung+gesundheit“ von BAG und EDK an der Fachhochschule Aargau Pädago- gik/Soziale Arbeit geführt wird, und in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Arbeitsstelle des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH). Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung...............................................................................................................................4 1.1 Ziel und Fragestellungen, beteiligte Personen und Institutionen.....................................4 1.2 Übersicht über die Kapitel................................................................................................5 2. Gesundheit, Anforderungen und Belastungen......................................................................7 2.1 Gesundheit.......................................................................................................................7 2.2 Anforderungen und Belastungen...................................................................................12 3. Zugänge zum Verständnis von Ressourcen und Ressourcenmanagement in verschiedenen Settings und Fachgebieten......................................................................................................14 3.1 Ressourcenorientierung und Ressourcendiagnostik in der Psychotherapie..................18 3.2 Verhaltens- und verhältnisorientierte Massnahmen: Vom Risikofaktoren- zum Ressourcenansatz in der betrieblichen Gesundheitsförderung...........................................21 3.3 Burnout-Prophylaxe – erfolgreiches individuelles und institutionelles Ressourcenmanagement.....................................................................................................24 3.4 Stress- und Ressourcenmanagement in der neuen Arbeitswelt....................................27 3.5 Betriebliches Gesundheitsmanagement in Betrieben und in der Schule.......................30 4. Gesundheit von Lehrpersonen............................................................................................34 4.1 Befindlichkeit, Anforderungen, Belastungen, Zufriedenheit, Burnout und soziale Unterstützung im Lehrberuf.................................................................................................34 4.2 Studien zu Arbeitszeit....................................................................................................43 4.3 Arbeitsbedingungen, Belastungen und Ressourcen der Thurgauer Volksschullehrkräfte .............................................................................................................................................47 4.4 Arbeitsbedingungen, Belastungen und Ressourcen von Lehrkräften, Rektorinnen und Rektoren des Kantons Basel-Stadt......................................................................................50 4.5 Verschiedene Rollen und Funktionen von Schulleitungen.............................................53 4.5.1 Personalentwicklung als Führungsaufgabe: einige qualitative Rückmeldungen aus einem Ausbildungsgang für Schulleiter/innen.......................................................................56 4.5.2 Unterstützungs-Strukturen für Lehrerinnen und Lehrer...............................................58 4.5.3 Schulleitung als Schlüsselstelle im Leistungs-Gesundheits-Haushalt der Schule.......59 4.5.4 Erste Erfahrungen mit Schulleitungen in den Kantonen Thurgau, St. Gallen und Aargau..................................................................................................................................59 Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 2 5. Selbstwirksamkeitserwartung im Lehrberuf.........................................................................62 5.1 Einordnung und Kritik am Konzept der Selbstwirksamkeitserwartung...........................62 5.2 Selbstwirksamkeitserwartung in Zusammenhang mit Attribution und Selbstregulation.64 5.3 Verschiedene Formen von Selbstwirksamkeitserwartung.............................................66 5.3.1 Allgemeine Selbstwirksamkeitserwartung...................................................................67 5.3.2 Individuelle Lehrer/innen-Selbstwirksamkeitserwartung..............................................67 5.3.3 Kollektive Lehrer/innen-Selbstwirksamkeitserwartung................................................67 5.4. Studien zur Selbstwirksamkeitserwartung im Lehrberuf...............................................68 6. Gute, wirksame, gesunde oder gesundheitsfördernde Schule?..........................................71 6.1 Gute Schulen – worauf beruht ihre Wirksamkeit?..........................................................71 6.2 Von der Gesundheitserziehung zur Gesundheitsförderung zur gesundheitsfördernden Schule..................................................................................................................................74 6.3 Von der gesundheitsfördernden Schule zur guten gesunden Schule............................76 6.4 Einflüsse von Schulklima auf die Gesundheit von Schülerinnen, Schülern und Lehrpersonen.......................................................................................................................78 Literatur...................................................................................................................................84 Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 3 1. Einleitung 1.1 Ziel und Fragestellungen, beteiligte Personen und Institutionen Der vorliegende Bericht gibt einen Einblick in Fragen von Gesundheit, Anforderungen, Belas- tungen und Ressourcenmanagement im Lehrberuf und in anderen Berufen. Er ist zwar als Überblick zu verstehen, kann aber dennoch lediglich einen Ausschnitt aus diesem weiten Feld vermitteln. Es wird auf vorhandene Artikel, Erhebungen und Interventionen v. a. aus dem deutschsprachigen Raum eingegangen, welche Gesundheit und Krankheit unter salutogenem oder pathogenem Blickwinkel fokussieren und welche Ressourcenmanagement mit individuel- ler oder institutioneller Perspektive thematisieren. Leitfragen für die Auswahl von Artikeln waren einerseits salutogenetische Fragen: „Was hält Lehrpersonen im Lehrberuf gesund?“ „Welches sind (personale, kollektive, institutionelle) Schutzfaktoren im Lehrberuf, die gefördert, gestärkt und ausgebaut werden können?“ Ande- rerseits waren es auch pathogenetische Fragen: „Was belastet Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Beruf?“ „Woran erkranken sie?“ „Weshalb erkranken Lehrpersonen?“. Die beiden Sichtweisen stehen nicht in einem Gegensatzverhältnis zueinander, sondern in einem Ergän- zungsverhältnis. Diese Materialiensammlung entstand im Rahmen von Literaturrecherchen und ist gleichzeitig meine Eintrittsarbeit an meiner neuen Arbeitsstelle am Zentrum RessourcenPlus R+ zum Thema Gesundheit im Lehrberuf. RessourcenPlus R+ ist ein Zentrum an der Fachhochschule Aargau Nordwestschweiz Pädagogik/Soziale Arbeit1. Bestellung Diese Materialiensammlung kann in elektronischer Form im pdf-Format kostenlos oder als ausgedruckter Text zum Preis von Fr. 12.- (zuzüglich Versandkosten) bestellt werden bei [email protected] oder postalisch: FHA Nordwestschweiz, PH Aargau, Institut Wis- sen und Vermittlung, Zentrum R+, A. Märki, Kasernenstrasse 20, Postfach 2743, 5001 Aarau. Neben dieser Materialiensammlung besteht zudem eine rund 20 Seiten umfassende Zusam- menfassung mit dem Titel „Lehrberuf und Gesundheit: Vom Problemansatz zur Ressourcen- perspektive. Ein kommentierte Bibliografie und 10 Feststellungen“. Diese Fassung kann auf dem Internet eingesehen werden unter www.bildungundgesundheit.ch2. Dank Ich möchte mich bei Prof. Dr. Urs Peter Lattmann (R+) und bei Dr. phil. Anton Strittmatter (LCH) herzlich bedanken für die kreativen Inputs, anregenden Gespräche und für die Unter- stützung, welche ich in den vergangenen Monaten erfahren habe. Anita Märki, im April 2005 © Zentrum R+, FHA Nordwestschweiz, PH Aargau, Institut Wissen und Vermittlung, Zentrum R+, Ka- sernenstrasse 20, Postfach 2743, 5001 Aarau (Anita Märki) 1 R+ ist Teil des Netzwerkes Schweiz „bildung+gesundheit“ des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) und der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) (www.bildungundgesundheit.ch). Im Rahmen dieses Netzwerkes wurde an der Fachhochschule Aargau Nordwestschweiz (FHA) Pädagogik/Soziale Arbeit das Zentrum RessourcenPlus R+ gegründet. Innerhalbt der FHA Pädagogik ist das Zentrum eingeglie- dert in die Pädagogische Hochschule Aargau, Institut Wissen und Vermittlung (www.fh-aargau.ch). Das Zentrum R+ ist auf Gesundheitsförderung im Allgemeinen und Ressourcenmanagement und Stressbe- wältigung im Besonderen spezialisiert. Ein Programmschwerpunkt bildet das Thema „Gesundheit im Lehrberuf“, welcher in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Arbeitsstelle des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) gestaltet wird. 2 Kompetenzzentren (cid:198) RessourcenPlus R+ (cid:198) Projekte(cid:198) Lehrer/innengesundheit Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 4 1.2 Übersicht über die Kapitel Die vorliegende Materialiensammlung gliedert sich in fünf Hauptkapitel, welche im Folgenden kurz vorgestellt werden. Im Kapitel 2 werden Fragen von Gesundheit, Anforderungen, Belastungen und dem Umgang damit thematisiert. So wird im Kapitel 2.1 eine Begriffsbestimmung von Gesundheit, Krankheit und Gesundheitsförderung gemacht, u. a. mit Bezug auf die Weltgesundheitsorganisation WHO. Im Kapitel 2.2 gehen wir auf Anforderungen und Belastungen in der neuen Arbeitswelt ein. Im Kapitel 3 stellen wir verschiedene Zugänge zu Ressourcen und Ressourcenmanagement dar. Es wird dabei ersichtlich, dass sich seit Ende der 1980er Jahre der Fokus von der Be- lastungs- zur Ressourcenforschung verschoben hat und vermehrt Schutzfaktoren anstelle von Risikofaktoren ins Blickfeld kamen. Der Begriff Ressource wurde aus psychologischer Sicht anfänglich in einem eher individuellen Verständnis verwendet. Seit den 1980er Jahren werden jedoch in der Beratung und in der Psychotherapie vermehrt systemische Ansätze angewandt. Darauf wird im Kapitel 3.1 eingegangen. Durch diese Perspektivenerweiterung hat der Res- sourcen-Begriff eine Akzent-Verschiebung erfahren, da Ressourcen nicht mehr als lediglich im Menschen liegend verstanden werden, sondern auch auf seine Umwelt bezogen werden. Im Kapitel 3.2 wird auf betriebliche Gesundheitsförderung eingegangen. Es wird mit systemi- schen Ansätzen gearbeitet, d. h. es werden neben verhaltensorientierten vermehrt verhältnis- orientierte, gesundheitsfördernde Massnahmen getroffen. Seit einigen Jahren werden zudem – wie im Bereich Psychotherapie und Beratung – vermehrt Schutz- anstelle von Risikofaktoren thematisiert. In den Kapiteln 3.3 bis 3.5 gehen wir auf einen positiven, wirkungsvollen Umgang mit Stress und auf individuelles und institutionelles Ressourcenmanagement im Setting Be- trieb und Schule ein. Im Kapitel 4 wird die Gesundheit von Lehrerinnen und Lehrern thematisiert. Dazu stellen wir im Kapitel 4.1 Zusammenhänge zwischen Befindlichkeit, Belastungen, Zufriedenheit, Burnout und kollegiale Unterstützung dar. Im Kapitel 4.2 werden Studien zur Arbeitszeit und zu ar- beitsspezifischen Belastungen beschrieben. Im Kapitel 4.3 präsentieren wir erste Ergebnisse der längsschnittlich angelegten Untersuchung „Arbeitsbedingungen, Belastungen und Res- sourcen der Thurgauer Volksschullehrkräfte angesichts der laufenden Bildungsoffensive“. Es werden dabei Zusammenhänge zwischen Schulkultur, Schulleitung, Selbstwirksamkeit und kollegiale Unterstützung ersichtlich. Im Kapitel 4.4 werden Resultate einer ähnlichen Studie aus dem Kanton Basel-Stadt („Arbeitsbedingungen, Belastungen und Ressourcen von Lehr- kräften, Rektorinnen und Rektoren des Kantons Basel-Stadt“) gezeigt. Im Kapitel 4.5 gehen wir auf die Ausbildung und Etablierung von Schulleiterinnen und Schulleitern in Deutsch- schweizer Kantonen sowie auf deren Rollen und Funktionen ein. Wir stellen das „Marbacher Handlungsmodell oder Schulen mit hoher Leistung und gesunden Lehrkräften“ vor, welches Erkenntnisse über wirksame Schulen und über Merkmale gesunderhaltender Arbeitsplatzbe- dingungen integriert. Anschliessend gehen wir auf Fragen von Schulleitungen aus organisati- onspädagogischer Sicht und auf eine Untersuchung zur Wirksamkeit von Schulleitungen im deutschsprachigen Gebiet ein. Im Kapitel 4.5.1 wird auf Rückmeldungen aus einer Schullei- ter/innen-Ausbildung eingegangen. Im Kapitel 4.5.2 werden Unterstützungs-Strukturen für Lehrpersonen thematisiert und im Kapitel 4.5.3 die Funktion von Schulleitungen als Schlüs- selstelle im Leistungs-Gesundheits-Haushalt der Schule. Abschliessend gehen wir im Kapitel 4.5.4 auf erste Erfahrungen mit Schulleitungen in den Kantonen Aargau, St. Gallen und Thur- gau ein. Im Kapitel 5 beschreiben wir die Selbstwirksamkeitserwartung (SE). Die SE kann beschrieben werden als das Vertrauen in das eigene Können, um auch unter widrigen Umständen eine bestimmte Verhaltensweise zu zeigen sowie die Gewissheit, neue oder schwierige Anforde- rungssituationen aufgrund eigener Fähigkeiten meistern zu können. Die SE geht auf Albert Bandura zurück und kann auch als Teil eines Modells verstanden werden, welches die menschliche Verhaltenssteuerung zu beschreiben und erklären versucht, indem kognitive Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 5 Faktoren wie auch Reaktionen des Organismus berücksichtigt werden (sozial-kognitive Theo- rie). Im Kapitel 5.1 wird die SE aus Sicht verschiedener Motivationstheorien beleuchtet, was eine Einordnung erlaubt wie auch Schwachstellen aufzeigt. SE in Zusammenhang mit Attribution und Selbstregulation diskutieren wir im Kapitel 5.2 und im Kapitel 5.3 verschiedene Formen von Selbstwirksamkeitserwartung: die allgemeine SE, die individuelle Lehrer/innen- Selbstwirksamkeitserwartung und die kollektive Lehrer/innen-Selbstwirksamkeitserwartung. Im Kapitel 5.4 werden Resultate verschiedener Studien zur SE im Lehrberuf vorgestellt. Im Kapitel 6 wird Gesundheitsförderung in der Schule bzw. die gesundheitsfördernde Schule thematisiert wie auch Fragen von wirksamen, guten Schulen. Im Kapitel 6.1 geht es um die Themen von Wirksamkeit von Schulen, Indikatoren für gute, wirksame Schulen, Schulkultur, Führung bzw. Schulleitung und Schulklima. Im Kapitel 6.2 stellen wir das Netzwerk Gesund- heitsfördernder Schulen Schweiz, das Europäische Netzwerk und das Schweizerische Netz- werk „bildung+gesundheit“ wie auch der Ansatz von Gesundheitsfördernden Schulen in der Schweiz vor. Im Kapitel 6.3 erwähnen wir den Ansatz der guten gesunden Schule und im Ka- pitel 6.4 Studienresultate zu Einflüssen von Schulklima auf die Befindlichkeit von Schülerin- nen, Schülern und Lehrpersonen. Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 6 2. Gesundheit, Anforderungen und Belastungen Im Kapitel 2.1 wird auf Modell-Vorstellungen und Definitionen von Gesundheit, Krankheit und Gesundheitsförderung eingegangen. Im Kapitel 2.2 folgt eine Begriffsbestimmung von Anfor- derungen und Belastungen. 2.1 Gesundheit Modell-Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit seit dem 20. Jahrhundert Die klassische Verhaltens- und Biomedizin geht vom Individuum aus und beachtet die Umwelt wenig. Die neueren Gesundheitswissenschaften gehen jedoch von einem populations- und systembezogenen Ansatz aus und betrachten Public Health als einen Bereich mit politischen Implikationen (WHO, 1986). Beim biomedizinischen Modell wird Krankheit als Abweichung von naturwissenschaftlich fest- gelegten Normwerten definiert. Krankheit wird auf der Basis einer Trennung von Leib und Seele verstanden und behandelt. Das biopsychosoziale Modell ist ein Ansatz, welcher das biomedizinische Modell um psychische und soziale Faktoren erweitert sowie Krankheit und Gesundheit als Kontinuum definiert. Es werden somit das subjektive Erleben, das Verhalten, die Umwelt wie auch Norm- und Wertvorstellungen in ein Verständnis von Gesundheit einbe- zogen (Freitag, 1998, 26). In der folgenden Abbildung werden Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit in einem Modell dargestellt. 2. Bio-psycho-soziales 1. Biomedizinisches Modell von Gesundheit Modell von Krankheit: und Krankheit beinhaltet: Krankheit als Abwei- naturwissenschaftliche chung von naturwissen- Normvorstellungen zu Ge- schaftlich festgelegten sundheit und Krankheit, Normen psychische Faktoren, soziale Faktoren, Saluto- genese, Empowerment Abb. 1: Zwei Modellvorstellungen von Gesundheit und Krankheit Die salutogenetische Sichtweise richtet den Blick auf die Frage, was Menschen gesund erhält. Sie orientiert sich dabei an Ressourcen und Handlungsspielräumen und nicht an Defiziten. Das salutogenetische Modell, welches von Antonovsky (1997) anfangs der 1970er-Jahre ent- wickelt wurde, versucht zu erklären, wie trotz dauernder Wirkung von Stressoren mit Hilfe von generalisierten Widerstandsressourcen und dem Kohärenzsinn eine positive Entwicklung auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum entstehen kann (Märki, 2004). Auch die Stressforschung und die Sozialepidemiologie legen ein neues Gesundheitsver- ständnis nahe, bei welchem Gesundheit als Ergebnis einer kontinuierlichen Auseinanderset- Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 7 zung zwischen Mensch und Umwelt begriffen wird. Dies kann als eine systemische Sichtweise bezeichnet werden. Es geht dabei um den Umgang mit Risiken und Herausforderungen, bei welchen auf biologische, psychische und soziale Gesundheitspotenziale oder Ressourcen zurückgegriffen werden kann. Es geht um eine salutogene Situationsbewältigung bzw. um das Verständnis und die Erschliessung gesundheitsförderlicher Potenziale in der Person, in ihrer Umwelt und in ihrem Verhalten. Einige Gesundheitsdefinitionen Der Begriff Gesundheit wird in der Konstitution der Weltgesundheitsorganisation von 1946 definiert als: „…ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefin- dens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Behinderung“ (WHO, 1998, 1). Es werden im Folgenden zwei Beispiele von Gesundheitsdefinitionen erwähnt, welche sich im Kerngedanken an die WHO-Definition von 1946 anlehnen: Die eine stammt vom Psychologen Hurrelmann, die andere von den Medizinern Gutzwiller und Jeanneret. Abschliessend werden Systeme und Kriterien zur Klassifikation von Gesundheitsdefinitionen dargelegt. Hurrelmann definiert Gesundheit wie folgt: Gesundheit setzt sich … aus physischen, psychischen und sozialen Anteilen zusam- men, die sich wechselseitig beeinflussen. Gesundheit ist eng mit individuellen und kol- lektiven Wertvorstellungen verbunden, die sich in der persönlichen Lebensführung nie- derschlagen. Sie ist ein Balancezustand, der zu jedem lebensgeschichtlichen Zeitpunkt immer erneut hergestellt werden muss. Sie ist kein passiv erlebter Zustand des Wohlbe- findens, wie die rein körperliche Fixierung des Begriffes in der klassischen Medizin nahe legt, sondern ein aktuelles Ergebnis der jeweils aktiv betriebenen Herstellung und Erhal- tung der sozialen, psychischen und körperlichen Aktionsfähigkeit eines Menschen. So- ziale, ökonomische, ökologische und kulturelle Lebensbedingungen bilden dabei den Rahmen für die Entwicklungsmöglichkeiten von Gesundheit. (Hurrelmann, 1988, 17) Gutzwiller und Jeanneret gehen davon aus, dass sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten das moderne, sozialmedizinische Verständnis von Gesundheit gewandelt hat (Gutzwiller & Jeanneret, 1999). Gesundheit wird von ihnen als ein dynamischer Prozess, als eine Art Fliessgleichgewicht verstanden, bei welchem das Individuum versucht, eine Balance mit sei- ner Umwelt herzustellen, um sein Wohlbefinden zu optimieren. Diese Begriffsbestimmung entspricht einem heutigen vorherrschenden Verständnis und wird von vier Dimensionen be- einflusst: von biologisch-genetischen Gegebenheiten, medizinisch-technischen Aspekten, Lebensstil und Umweltfaktoren. Die beiden Definitionen zeigen, dass der aktuelle Gesundheitsbegriff komplex ist, welcher vom Individuum und von der Gesellschaft geprägt wird, psychische, physische und soziale Komponenten beinhaltet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO (1986) bezieht zudem eine politische Ebene ein und versteht Gesundheit als ein Menschenrecht. Um die Vielzahl von Gesundheitsdefinitionen zu klassifizieren, bestehen verschiedene Kate- gorien: • Abgrenzung Gesundheit-Krankheit: Diese sind eng mit der medizinischen Deutung und Diagnostik von Krankheit verknüpft und auf ein biomedizinisches Paradigma bezogen. Gesundheit wird in diesem Sinn als Abwesenheit von Krankheit verstanden. Solche De- finitionen sind beispielsweise zur Legitimation von Arbeitsunfähigkeit von Nutzen. • Funktionstüchtigkeit: Bei Funktionsaussagen wird Gesundheit im Sinne von Arbeits- und Leistungsfähigkeit in körperlicher und sozialer Hinsicht definiert wie auch im Zusam- menhang mit Rollenerfüllung. Zu dieser Kategorie gehören alle homöostatischen Ge- sundheitsvorstellungen eines körperlich-seelischen Gleichgewichts oder einer flexiblen Anpassung von Körper und Selbst an sich verändernde Umweltbedingungen. • Wertaussagen: Als Beispiel dafür wird die WHO-Definition von 1946 erwähnt, in welcher Gesundheit als das höchste Gut beschrieben wird. Eine andere Kategorisierung erwähnen Schwartz, Siegrist und Troschke (1998, zitiert nach Wulfhorst, 2002), welche Bezugssysteme erwähnen, innerhalb von denen Vorstellungen und Bedeutungen von Gesundheit analysiert werden können: • Bezugssystem der Gesellschaft, insbesondere das Gesundheitssystem und legislative Regelungen: Hierbei wird zum einen auf die Aufgabe des Gesundheitswesens hinge- Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 8 wiesen, die darin besteht, die in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen als Grundrecht bezeichnete Gesundheit zu bewahren, zu verbessern und wiederherzustel- len. Gesundheit wird als Grundwert und Leitbegriff der entwickelten Industriegesellschaft bezeichnet. • Bezugssystem der betroffenen Person: Es geht um die subjektive Bestimmung von Ge- sundheit. Dazu sollten Konzepte vorliegen, welche sich an Fähigkeiten und Befindlich- keiten oder an Gesundheit als Voraussetzung für Aktivitäten, Wohlbefinden und sozialen Funktionen orientieren. • Bezugssystem der Professionen, v. a. des medizinischen Bereichs: Die Autoren plädie- ren dafür, dass von einer dichotomen Sichtweise von Krankheit-Gesundheit zu Gunsten eines Gesundheit-Krankheit-Kontinuums abgekommen werden sollte. Udris et al. (1992, 11) verglichen verschiedene Definitionen von Gesundheit und fanden fol- gende, nicht trennscharfe bzw. sich überlappende Kriterien zur Beschreibung von Gesundheit: • Abwesenheit von Symptomen, Krankheit oder Behinderung • Schmerz- und Beschwerdefreiheit • keine funktionelle Beeinträchtigung von Lebensaktivitäten • positiv bewertete psychologische Erfahrungen • adäquate Einschätzung der eigenen Handlungskompetenz (Selbstvertrauen) • Liebes- und Genussfähigkeit, Fähigkeit zu trauern • Resistenz gegenüber Belastungen • Kapazität/ Potenzial, selbständig Ziele zu setzen und diese zu verfolgen • Fähigkeit, Umwelt- und soziale Anforderungen bzw. Belastungen und Krisen zu bewäl- tigen • Suchen und Finden von Sinn in den eigenen Lebensaktivitäten. Udris et al. (1992, 12f) verstehen Gesundheit als ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den physischen, psychischen und sozialen Ressourcen und Schutzfaktoren des Organismus und den potenziell krank machenden Einflüssen der physikalischen, biologischen und sozia- len Umwelt. Gesundheit muss vom Organismus ständig hergestellt werden, als immunolo- gisch verstandene Abwehr oder als zielgerichtete Veränderung der Umweltbedingungen. Die- se Modellvorstellungen lassen sich dem transaktionalen Stress- und Coping-Konzept3 der Gruppe um Lazarus zuordnen wie auch dem integrativen Anforderungs-Ressourcen-Modell von Gesundheit und Krankheit von Becker (1992). Gesundheit wird von Udris et al. (1992, 13) verstanden als „ein transaktional bewirkter Zustand eines dynamischen Gleichgewichts (Ba- lance) zwischen dem Individuum, seinem autonomen Potential zur Selbst-Organisation und Selbst-Erneuerung und seiner sozial-ökologischen Umwelt“. Gesundheitsförderung Die Ottawa-Charta (World Health Organization, 1986) wurde anlässlich der ersten Internatio- nalen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Ottawa (Kanada) verabschiedet. Die Konferenz war als Antwort auf die wachsenden Erwartungen an eine neue Bewegung für die Gesundheit in der ganzen Welt zu verstehen. Gesundheitsförderung und Gesundheit werden darin wie folgt definiert: Gesundheitsförderung [Hervorhebung von A. Märki] zielt auf einen Prozess, allen Men- schen ein höheres Mass an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl einzel- ne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahr- nehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. sie verändern können. In die- sem Sinne ist die Gesundheit [Hervorhebung von A.M.] als ein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens zu verstehen und nicht als vorrangiges Lebensziel. Gesundheit steht für ein positives Konzept, das die Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für die Gesundheit ebenso betont wie die körperlichen Fähigkeiten. Die Verantwortung für Gesundheitsförderung liegt deshalb nicht nur bei dem Gesundheitssektor, sondern bei al- 3 Coping meint Umgang mit Stress bzw. Bewältigungsstrategien. Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 9 len Politikbereichen und zielt über die Entwicklung gesünderer Lebensweisen hinaus auf die Förderung von umfassendem Wohlbefinden. (WHO, 1986) Bemerkenswert ist, dass mit dieser Definition von Gesundheit von einem „umfassenden“ kör- perlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden gesprochen wird und nicht, wie in der 1946er Definition, von einem „vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefin- den“. Zentral bei dieser Definition ist, dass zur Gesundheitsförderung neben dem Individuum auch der Gesundheitssektor und alle Politikbereiche durch die Entwicklung einer gesundheits- fördernden Gesamtpolitik einen Beitrag leisten sollten. Betont wird bei dieser Definition auch die Bedeutung von sozialen und individuellen Ressourcen für die Gesundheit. Dieses res- sourcenorientierte Verständnis von Gesundheit ist von Antonovskys salutogenetischem Mo- dell von Gesundheit (1997) beeinflusst. Besonders hervorzuheben ist der Abschnitt „Entwicklung von persönlichen Kompetenzen“ der Ottawa-Charta (WHO, 1986): Gesundheitsförderung [Hervorhebung von A.M.] unterstützt die Entwicklung von Persön- lichkeit und sozialen Fähigkeiten durch Information, gesundheitsbezogene Bildung sowie durch die Verbesserung sozialer Kompetenz im Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Sie will den Menschen helfen, mehr Einfluss auf ihre eigene Gesundheit und Lebenswelt auszuüben und will ihnen zugleich ermöglichen, Entscheidungen in ihrem Lebensalltag zu treffen, die ihrer Gesundheit zugute kommen. Es gilt Menschen zu lebenslangem Lernen zu befähigen und ihnen zu helfen, die ver- schiedenen Phasen ihres Lebens sowie eventuelle chronische Erkrankungen und Behin- derung angemessen zu bewältigen. Dieser Lernprozess muss sowohl in Schulen wie auch zu Hause, am Arbeitsplatz und in der Gemeinde erleichtert werden. Öffentliche Körper- schaften, Privatwirtschaft und gemeinnützige Organisationen sind hier ebenso zum Han- deln aufgerufen wie traditionelle Bildungs- und Gesundheitsinstitutionen. Mit diesem Auszug wird betont, dass der gesundheitsförderliche Lernprozess sowohl „in Schulen wie auch zu Hause, am Arbeitplatz und in der Gemeinde“ erleichtert werden soll. Diese gesundheitsfördernde Strategie wird als Setting-Ansatz bezeichnet. Setting meint ein soziales System, welches eine Vielzahl relevanter Umwelteinflüsse auf eine bestimmte Per- sonengruppe umfasst sowie ein System, in welchem die Bedingungen von Gesundheit und Krankheit gestaltet werden können, z. B. in Gemeinden, Betrieben oder Schulen. Wulfhorst (2002) bezeichnet den Setting-Ansatz als Schlüsselstrategie zur Gesundheitsförderung und auch als Antwort auf die beschränkten Erfolge traditioneller Gesundheitserziehungsaktivitäten, die sich mit Informationen und Appellen an Einzelpersonen wenden. Die WHO hat zahlreiche Gesundheitsförderungsprojekte initiiert, welche sich am Setting-Ansatz orientieren, z. B. • gesundheitsfördernde Schule • gesundheitsförderndes Krankenhaus • gesundheitsfördernder Betrieb • Gesunde-Städte-Projekt (WHO, 1998). Die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 schloss mit den Worten: Die Konferenzteilnehmer sind der festen Überzeugung, dass, wenn Menschen in allen Be- reichen des Alltags, wenn soziale Verbände und Organisationen, wenn Regierung, die Weltgesundheitsorganisation und alle anderen betroffenen Gruppen ihre Kräfte entspre- chend den moralischen und sozialen Werten dieser Charta vereinigen und Strategien der Gesundheitsförderung entwickeln, „Gesundheit für alle im Jahre 2000“ Wirklichkeit werden kann. (WHO, 1986) Die Ottawa-Charta ist von einer aufklärerischen und emanzipatorischen Grundphilosophie geprägt. Anlässlich der Folgekonferenzen im australischen Adelaide und im schwedischen Sundsvall wurden die Grundsätze von Ottawa ergänzt und spezifiziert. Mehrebenen-Ansatz von Gesundheit Im Folgenden wird ein Auszug aus Lattmann und Rüedi (2003, S. 27-28) zitiert: „Angesichts der Mehrdimensionalität und Vernetzung der Bedingungsfaktoren von Ge- sundheit und Krankheit postuliert die WHO Strategien zur Gesundheitsförderung auf meh- Materialiensammlung: Lehrberuf und Gesundheit A. Märki April 2005 10

Description:
Dr. Urs Peter Lattmann (R+) und bei Dr. phil. Betracht kommt (Gutscher, Hornung & Flury-Kleubler, 1998, zitiert nach Smith & Grawe,. 2003). Diese Definition
See more

The list of books you might like

Most books are stored in the elastic cloud where traffic is expensive. For this reason, we have a limit on daily download.