Lebensweltgestaltung junger Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in der dritten Generation Sevnur Bülbül-Emanet Lebensweltgestaltung junger Frauen mit türkischem Migrations- hintergrund in der dritten Generation „Mama, erzähl mir neue Sachen, deine sind schon veraltet“ Sevnur Bülbül-Emanet Hamburg, Deutschland Dissertation Leuphana Universität Lüneburg, 2013 u.d.T.: Sevnur Bülbül-Emanet: „Mama, erzähl mir neue Sachen, deine sind schon veraltet“. Über die sinnhafte Lebens- weltgestaltung von Mädchen und jungen Frauen der dritten Generation mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland ISBN 978-3-658-08376-2 ISBN 978-3-658-08377-9 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-08377-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- bliogra(cid:191) e; detaillierte bibliogra(cid:191) sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikrover(cid:191) lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa- tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Fachmedien Wiesbaden ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com) Danksagung Besonderem Dank verpflichtet bin ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Hans- Joachim Plewig für seine Unterstützung und Betreuung während des gesamten Promotionsstudiums. Außerdem danke ich Prof. Dr. Mathias von Saldern für die Begutachtung der Arbeit. Weiterhin danke ich ganz besonders Prof. Dr. Andreas Zick für das Interesse an meiner Arbeit und seine wertvollen Anregungen und Hinweise. Ein sehr spezieller Dank geht an meine Freundin Antje Kohlschied für ihre moralische Unterstützung und die Bereitschaft, meine Arbeit mit großem Interesse zu lesen und zu diskutieren. Meinen wundervollen Söhnen Batuhan und Alp Ensar sowie meinen lieben Eltern Nezaket und Seref danke ich für ihr Verständnis, ihre Geduld, ihre moralische Unterstützung und ihren Glauben an mich. Ohne ihre Fürsorge, den mir gewährten Freiraum und die Unterstützung, auf die ich mich immer verlassen konnte, wäre diese Arbeit nicht entstanden. Es war nicht einfach, die Mädchen und jungen Frauen für ein Interview zu gewinnen. Deshalb möchte ich mich in tiefer Anerkennung bei meinen Inter- viewpartnerinnen für ihr Vertrauen und die Bereitschaft bedanken, mich an ihrer Lebenswelt teilhaben zu lassen. Den größten Dank aber schulde ich meinem Mann Kenan, der mich über die Jahre liebevoll in allem unterstützt und viel Geduld aufgebracht hat. Ihm, unseren beiden Söhnen Batuhan und Alp Ensar und meinem Bruder Onur widme ich diese Arbeit. Sevnur Bülbül-Emanet Inhaltsverzeichnis Einleitung ........................................................................................................................................... 9 1. Mädchen und junge Frauen der dritten Generation mit türkischem Migrationshintergrund im politischen und wissenschaftlichen Diskurs .............................. 17 1.1 Entwicklung der Arbeitsmigration ....................................................................................... 18 1.2 Der Diskurs über Migration und Integration in Deutschland ............................................... 22 2. Theoretische Erklärungsansätze zur individuellen Entwicklung und Lebensweltaneignung ............................................................................................................... 33 2.1 Reflexiver Bedeutungszusammenhang von gesellschaftsstrukturellen Bedingungen und individuellen Konstruktionen............................................................................................... 33 2.2 Wissenssoziologische Perspektive ....................................................................................... 38 2.3 Sozialisation und individuelle Entwicklung ......................................................................... 44 2.4 Der symbolische Interaktionismus nach George Herbert Mead ........................................... 50 2.5 Identität und Dialektik des Rollenhandelns.......................................................................... 53 2.6 Pierre Bourdieus ungleichheitstheoretische Perspektive ...................................................... 56 2.6.1 Das Habituskonzept .................................................................................................. 57 2.6.2 Soziale Chancenungleichheit gegenüber Bildung und Kultur.................................... 61 3. Vorbereitung und Durchführung der empirischen Untersuchung ...................................... 67 3.1 Methodisch-wissenschaftliche Einordnung .......................................................................... 67 3.1.1 Ethnomethodologie ................................................................................................... 68 3.2 Vorbereitungsphase ............................................................................................................. 71 3.2.1 Zugang zur Untersuchungsgruppe ............................................................................. 71 3.2.2 Auswahl der Interviewpartnerinnen .......................................................................... 73 3.3 Erhebungsmethode .............................................................................................................. 74 3.3.1 Das narrative Interview ............................................................................................. 74 3.3.2 Datenerhebung .......................................................................................................... 76 3.3.3 Transkription ............................................................................................................. 78 3.4 Datenanalyse........................................................................................................................ 80 4. Familienbeziehungen zwischen Autonomie und Abhängigkeit ............................................ 85 4.1 Beziehungen zu den Eltern .................................................................................................. 85 4.2 Geschwisterbeziehungen ..................................................................................................... 94 4.3 Weitere Verwandtschaftsbeziehungen als Sozialisationsinstanz ........................................ 102 4.4 „Kultur hat doch nichts mit der Religion zu tun“ – Die Rolle der Religion im Alltag der Mädchen und jungen Frauen ................................... 107 8 Inhaltsverzeichnis 5. Selbst- und Fremdwahrnehmung .......................................................................................... 115 5.1 Freundschaften in demselben Kulturkreis und ihre Bedeutung für die Mädchen und jungen Frauen .................................................. 115 5.2 „Ah, die verstehen uns doch eh nicht“ – Freundschaften außerhalb des eigenen Kulturkreises ........................................................ 120 5.3 „Aggressiv, warum denn wohl“ – Bewältigung aufgestauter Aggression im Alltag ......... 125 5.4 Der Blick von außen – die gefühlte Fremdheit .................................................................. 129 6. Individuelle Lebensweltaneignung ........................................................................................ 137 6.1 Der „goldene Armreif“ – sozialer Aufstieg durch schulische und berufliche Bildung ...... 138 6.2 Partnerschafts- und Heiratsvorstellungen ........................................................................... 146 6.3 „Wir sind nicht unsere Eltern“ – Wunsch nach einer eigenständigen Generationenpersönlichkeit ........................................ 151 6.4 „In der Ferne gibt es noch das Land deiner Vorfahren“ – emotionale Beziehungen zur Türkei .................................................................................. 158 7. Zusammenführung der empirischen Ergebnisse .................................................................. 163 7.1 Familienbeziehungen zwischen Autonomie und Anpassung ............................................. 164 7.2 Selbst- und Fremdwahrnehmung ....................................................................................... 171 7.3 Individuelle Lebensweltaneignung .................................................................................... 179 8. Schlussbetrachtung und Ausblick ......................................................................................... 189 Literaturverzeichnis ...................................................................................................................... 195 Anhang ........................................................................................................................................... 205 Einleitung Kopftuchzwang für Frauen, Zwangsverheiratungen, sogenannte Ehrenmorde an jungen Frauen, Integrationsunwilligkeit, Kulturkonflikt und muslimisch-religiöse Lebensorientierung – diese und andere Schlagwörter bestimmen häufig das stereo- type Bild von Migrantenfamilien aus muslimisch geprägten Kulturen und sind Anlass für öffentliche Diskussionen über eine unzureichende Integration und drohende Parallelgesellschaften. Dieses vorherrschende Bild veranlasste die deutsche Migrationsforschung da- zu, sich im Zuge der Neuorientierung und Intensivierung der Debatten nicht nur den Konzepten räumlicher Mobilität zuzuwenden,1 sondern sich dezidiert auch mit Fragen der Niederlassung von Migranten und mit Vorstellungen über Inte- gration zu befassen. Ein Großteil der Forschungsarbeiten in den 1990er-Jahren konzentrierte sich auf die „Geschichte einzelner Zuwanderergruppen“ oder die erste und zweite Zuwanderergeneration und vernachlässigte damit die Wechsel- wirkungen mit den bereits sesshaften Gruppen und dem langfristigen Prozess der Annäherung zur Mehrheitsgesellschaft, den Alltagserfahrungen und sozialen Beziehungen. Es dominierten oftmals Beobachtungen, die „auf ein Scheitern der Integration hinzudeuten schienen“2. Die Frage, welche Merkmale, Verhaltensweisen, Norm- und Wertvorstellungen für eine „erfolgreiche“ Integration von der Mehrheitsgesellschaft zugrunde gelegt werden, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten, da es darauf ankommt, welcher Begriff von „Integration“ vorausgesetzt wird. Die theoretische Begriffs- definition von „Integration“ ist „umfassend und reicht von wissenschaftlich-theoretischen Debatten im sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Bereich bis hin zu gesellschaftspolitischer Ausrichtung“3. 1 Vgl. Pries 2001: 53 f. 2 Hoerder/Lucassen, J./Lucassen, L. 2007: 46 f. 3 Aigner 2013: 153. S. Bülbül-Emanet, Lebensweltgestaltung junger Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in der dritten Generation, DOI 10.1007/978-3-658-08377-9_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015 10 Einleitung Der eingeführte Begriff verweist auf ein vielschichtiges und mehrdimensionales Phä- nomen, zu dem es unterschiedliche Auslegungen und Interpretationen gibt.4 Eine einheitliche Definition ist demzufolge nicht möglich. „Soziale Integration“ wird als Anpassung an das Normengefüge und den Lebensstil einer Gesellschaft oder Gruppe verstanden.5 Dieser Arbeit liegt ein soziologischer Integrationsbegriff zugrunde, der Randgruppen und Minderheiten einer Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt, „[...] wobei abweichende Verhaltensweisen und -orientierungen zugunsten einer Assimilation nach und nach aufgegeben werden. Diese Erwartung bestimmt in Einwanderungsgesellschaften das Selbstverständnis als Schmelztiegel“6. Im Mittelpunkt der oben angeführten Zuschreibungen stehen insbesondere türkische Familien, die mittlerweile in der dritten und sogar vierten Generation7 in Deutsch- land leben und nicht mehr beabsichtigen, in das Land ihrer Vorfahren zurückzu- kehren. Türkische Migranten gelten als diejenige ethnische Minderheit, die unter den Arbeitsmigranten die größte kulturelle Distanz zu den Deutschen aufweisen.8 Bereits in den 1970er-Jahren wird in Untersuchungen auf die „Andersartig- keit“ von Migrantenfamilien hingewiesen. Die auf Autorität ausgerichteten patriar- chalischen Strukturen der Migrantenfamilien seien für die Lebensweise in einem Industriestaat nicht funktional. Die Mädchen und jungen Frauen seien vor allem von Abhängigkeit und Unterdrückung betroffen. Bei einem Fehlverhalten könnten die Reaktionen der Eltern bis zum Äußersten gehen, indem eine Zwangsverheira- tung erfolge oder mit der Tötung der Tochter gedroht werde.9 Die vermeintliche Andersartigkeit der Familien- und Lebenssituation und die fremde Religions- zugehörigkeit gelten als typische Merkmale für die fehlende Integrationsbereit- schaft der Migrantenfamilien. In den 1990er-Jahren geben Heitmeyer, Müller und Schröder hingegen zu bedenken, dass türkische Familien sehr heterogen sind und Sozialisationsprozesse in zwei Kulturen erfolgreich verlaufen können.10 Solche Erkenntnisse bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung unbeachtet, da in den Medien häufig ein sehr einseitiges Bild über das Leben von türkischen Familien wiedergegeben wird. Eine andere Perspektive beschreibt Stuart Hall: 4 Vgl. Münch 1995: 5 ff.; Neumann 2009: 263. 5 Vgl. Iben 2002: 488. 6 Iben 1997: 492. 7 Als „dritte Generation“ werden die Enkelkinder und als „vierte Generation“ die Urenkel der ersten Einwanderergeneration bezeichnet. 8 Vgl. Nauck 2004: 234. 9 Vgl. Beinzger/Kallert/Kolmer 1995: 16. 10 Vgl. Heitmeyer/Müller/Schröder 1997: 69. Einleitung 11 „Wer zwischen den Kulturen aufwuchs und lernen musste, mit verschiedenen Identitäten zu leben und verschiedene kulturelle Sprachen zu sprechen, dem bietet sich die Chance der Übersetzung, des Brücken-Bauens.“11 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie die anhaltende Stigmatisie- rung durch die Mehrheitsgesellschaft gegenüber türkischen Familien zu erklären ist. Immerhin wachsen mittlerweile Kinder der dritten und sogar vierten Gene- ration mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland auf. Die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund war bisher nur unzurei- chend ein Thema für empirische Untersuchungen. Hinsichtlich der Lebenssitua- tion und -orientierung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund verweisen Boos-Nünning und Karakasoglu auf zahlreiche Lücken in der For- schung. In erheblichem Umfang fehlen immer noch geschlechtsspezifische Dif- ferenzierungen12 und eine „ethniebezogene Forschungsperspektive bei der Analyse des gesellschaftlichen Wandels und der Entwicklung von Lebensbedingungen innerhalb der inzwischen multikulturell gestalteten deutschen Gesellschaft“13. Forschungsarbeiten sollten daher die Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Le- benssituation richten und die zu untersuchenden Migrantenfamilien sollten nach sozialem Status, Zugehörigkeit zu einer Generation oder anderen sozialen Merk- malen untersucht werden. Erst unter diesen Voraussetzungen sind differenzierte Erkenntnisse über Entwicklungsverläufe von Migrantenfamilien möglich. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Lebensweltgestaltung von Mädchen und jungen Frauen der dritten Generation mit türkischem Migra- tionshintergrund in Deutschland. Dabei liegt der Erkenntnisschwerpunkt auf aktuellen gesellschaftlichen Stereotypen gegenüber Menschen mit türkischem Migrationshintergrund und beschäftigt sich mit dem Konzept der Integration. Die Studie bietet Einblicke in lebensweltliche Beziehungen und Einstellungen zu institutionellen Verhältnissen in Bezug auf Mädchen und jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund. Dabei geht es um die Wechselwirkung per- sonaler wie sozialer Faktoren und um die soziale Identität. In dieser Arbeit wird von der Annahme ausgegangen, dass die Angehörigen der „dritten Generation“ ganz andere Vorstellungen über Familie, Religionszu- gehörigkeit, berufliche Sozialisation und Geschlechterverhältnisse verinnerlicht haben als die vorhergehenden Generationen. 11 Hall 1994: 6. 12 Vgl. Boos-Nünning/Karakasoglu 2006: 15. 13 Bednarz-Braun/Heß-Meining 2004: 245.