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Lebensquellen Französischer Metaphysik. Descartes, Rousseau, Bergson PDF

128 Pages·1949·2.608 MB·German
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FERDINAND LION LEBENSQUELLEN FRANZÖSISCHER METAPHYSIK • DESCARTES ROUSSEAU BERGSON EUROPA VERLAG ZÜRICH/WIEN Aue dem Franxöaiedieii übertragen tod Rnth GilliBchewski Alte Redbte Torbehilten Copyright 1949 by Europe Verleg A.-G„ Zuriá INHALT DESCARTES Die Lebens quelles des cartesianisdien Ralionalisnim ....................... 7 Gedädilrm unil Sdiöpfung bei Descartes . . 21 Die cartesiauiidien Gewebe . . . . . . 36 ROUSSEAU Frühlingsmorgen bei Roatsean....................... 49 BERGSON Frankreidi am die Jahrhundertwende . . 81 Die doppelte Leben aridittmg der Bergsonsdien Philosophie ....................... 96 Barrés und Gide aU Führer in die Vergangenheit und Zukunft . . . . 107 NACHWORT über den Zusammenhang der französischen Philosophie . , . . . . 118 DESCARTES Die Lebensquellen des carteiianischen Rationalismus "Wenn als Schlußwort des Cogito ergo sum der Begriff des Sein laut ertönt, so liegt der Grund darin, daß Descartes persönlich Träger eines Lebens von überzeugender Stärke und Dichte war. Er empfindet es so stark, daß er gar nidit die Notwendigkeit sieht, das Sein als solches beweisen oder seinen Grad bestimmen zu müssen. Ihm geht es nur um das Wissen, ob das Sein an die Dinge und an seine Person geknüpft sei, die es bereits in einem sol­ chen Grade enthielt, daß ihn Bedenken nur vorübergehend zu be­ unruhigen vermochten. Man braucht nur die Qualität des Sum, bei dem er Halt macht, mit der seines anfänglichen allgemeinen Zwei­ fels zu vergleichen: wenn dieses auch bis an die Grenzen des Mög* liehen vorgetrieben wird, so bleibt es doch offenbar ein Experiment, ein Spiel, ein geistiges Abenteuer. Seine innerliche unabänderliche Überzeugung steht bereits fest. Mit den ersten Worten des Discours und der Meditations, unverkennbar schon am Tonfall seines Stils, ist das Sein, zu dem er strebt, bereits bestimmt. Er imaginiert nur alle Phasen eines Lebens voll möglicher Zweifel, um sich und an­ deren vor Augen zu führen, wie sdiwierig es ist, zum Sein zu ge­ langen. Möglicherweise hatten ihn in seinen Jugendjahren Zweifel befallen, die sein Leben höchstens vorübergehend erschüttert bat­ ten. Als er sich nach seinen mathematischen und physikalischen Studien und Entdeckungen deren philosophische Untermauerung zur Aufgabe machte, kehrte er im Geiste in jene Jugendjahre zurück, und wenn er je die schwankende Welt des Skeptizismus er­ lebt hatte, so übertrieb er jetjt in der Erinnerung diese Erfahrung um seines augenblicklichen Anliegens willen. Derjenige, der dauernd das Gefühl des Zweifels gehabt hatte, war dreißig Jahre vor ihm gekommen. Montaigne stellt eine höchst selt­ 7 same Mischung dar: während er selbst ein Ich bcsitjt, das immer gegenwärtig und also trot} aller Schwankungen und Wandlungen von Sein erfüllt ist, hat die übrige Welt bei ihm ein Sein von äußerst gebrechlicher und minderer Qualität, dessen Fluidität und mangelnde Kohäsion und Festigkeit sie dem Niditsein nähert. Die anderen Ichs, mit Ausnahme seines Freundes de la Boetie, haben für ihn weniger teil am Sein als sein eigenes Ich, und er dringt nicht etwa darauf, daß sie ihm ähnlich zu sein hätten, so wenig liegt ihm am Vorherrschen oder gar am Überwältigen. Einen hohen Seinsgrad erkennt er dagegen der Antike zu, vor allem Rom, das es zum Ent­ zücken Montaigne® in ungewöhnlichem Maße besessen hat. Sein Zweifel ist indessen stärker als seine Verehrung, und so macht er die antiken Dinge, indem er ihnen durch Levitation alle Schwere nimmt, hauchleicht, so daß sie jugendlich werden und zu tanzen an­ heben. Ebenso verwandelt er auch den Seinsgrad der Natur, obwohl sie ihm fast über sein liebes Ich geht und eigentlich das Sein im höchsten Grade besitjen müßte: sobald er ihr gegenübersteht, erhebt er sie, verwandelt er sie ins Aetherische. Gar menschlichen Zu­ ständen wie religiösen und politischen Überzeugungen, Sitten, Ge­ wohnheiten gegenüber läßt er seiner Neigung freien Lauf. Rings­ umher hatten das Leben in den Religionskriegen und die daraus resultierenden Erschütterungen der Gesellschaft ihm die Unsicherheit des Seins handgreiflich vor Augen geführt. Sein Zweifel war nicht nur das Vermächtnis der antiken Skeptiker. Es wäre gar zu seltsam, daß ein noch junges Volk sich die Philosophie der athenischen Ver­ fallszeit zu eigen gemacht hätte. Aber er durchlebte mit seinem jungen Volk eine trübe Epoche. Und so findet man ihn geteilt zwi­ schen all den Gefahren des Sichverlierens im Nichtsein, die ihn von allen Seiten umbranden, und einer Lebensfreude, die er in seinem Ich und in dem an Seinsreserven so reichen Frankreich empfand, und in die er sich willig versinken ließ. So wurde er zum positiven Skeptiker, der an allem zweifelte, doch an das Leben glaubte. In der nächsten Generation tritt eine Wendung zum Besseren ein. Ein Sein, von einer ganz anderen Kraft wie bei Montaigne, berei­ tete sich vor, war im Keim für einen so wissensdurstigen und eifri­ gen Geist, wie Descartes ihn besaß, schon wahrnehmbar. Nicht un- beteiligt daran war der Religionsfriede unter Heinrich IV. Wenn Descartes später die Dogmen der Kirche mit Respekt behandelte, so tat er es zweifellos aus Klugheit und um bei seinen, wie er schon voraussah, weitläufigen Forschungen keine Unannehmlichkeiten be­ fürchten zu müssen. Aber abgesehen von diesen rein persönlichen Gründen hat er sicher sehr genau gewußt, welche Bedeutung eine einzige Religion als Grundlage einer Gesellschaft haben muß, die nur so die seinem ganzen System zugrunde liegende Seinsqualität erhalten konnte. Aus dem gleichen Grunde ist er Anhänger des ab­ soluten Königtums. Er braucht solche Ballungen von Solidität. Als er das Land wechselte, wodurch er den Wirren in Frankreich zu entgehen vermochte, hatte er das Glück, daß er Holland fand, im Stande der Reife damals, voller Selbstsicherheit und bedächtiger Kraft. Es zog ihn dahin wie später nach dem nordischen Schweden, dessen für ihn allzu hartem Klima er erliegen sollte, weil der Win­ ter mit seiner weißen Reinheit, seiner harten, strengen Konsistenz seine liebste Jahreszeit war. Das gleiche Verlangen nach einem hohen Seinsgrade zwang ihn, sich parallel mit dem Frankreich Corneilles von Griechenland ab- und Rom, sei es dem ältesten, sei es dem imperialen Rom, zuzuwenden. Immer, wenn Frankreich das Sein erreicht, mißt es sich an diesem Vorbild. Das Ich. Viel mehr als das Ich Montaignes hat das carte- sianische die Neigung, sich von allen Dingen zu lösen und nach Einsamkeit zu streben, die es offenbar zu seiner Entfaltung braucht: stolzes Ich, von einer bisher noch nicht dagewesenen Fülle und Weite. Bei Platon wird die Wahrheit in Gesprächen zu zweien oder zu mehreren geboren, bei Descartes einzig in der Einsamkeit; er kennt den Dialog nur in seinen Briefen oder in seinen Erwiderun­ gen auf die Einwände gegen seine Meditationen, aber selbst dann ist sein Hang zur Einsamkeit so stark, daß er trotj seiner außeror­ dentlichen Höflichkeit ständig in den Monolog verfällt. Kein Mysti­ ker in seinen ekstatischen Visionen war jemals einsamer als Des­ cartes in seinen rationalen Intuitionen. In dem „Ich denke, also bin ich“ (in der französischen Version tritt das Ich stärker hervor als in der lateinischen) erscheint das zweimal vorkommende Ich als Mitte der Gleichung. Stufenweise dehnt dann Descartes das Sein 9 auf alle Gebiete aus, aber sicherlich ist es das Ich, das die größte Quantität desselben besitjt und gleichsam sein dauerndes Reservoir bleibt. Es hat, nachdem es bei Montaigne so eng mit dem flüchtig­ sten und wogendsten Werden verknüpft gewesen war, nun seine Konturen fest Umrissen. Während der zwanzig Jahre, in denen sich Descartes über sein Ich gebeugt hatte, hatte er dessen Pflege mit soviel Eifer betrieben, daß es unangreifbar, dicht, ohne jeden Riß und stahlhart geworden war; es hatte sidi in ein derart mächtiges Sein verwandelt, daß alles Werden in der Welt von diesem unver­ rückbaren Mittelpunkt magnetisch berührt und beherrscht wurde. Das dominierende Ich teilte allem, was es umgab, seinen Festig­ keitsgrad mit. Andererseits stellte sich alles, was draußen Sein besaß, in der Politik wie in der Natur, zur Bildung dieses neuen Ich zur Verfügung und bestärkte es so in seinen Strebungen, daß Ich und Sein geradezu identisch miteinander wurden. Das war das heimlich Betörende und Verlockende, das die von Jahr zu Jahr, von Winter zu Winter fortschreitende Entwicklung des cartesianischen Ich begleitete. Descartes hat vergessen, wie lange schon das Leben an der Er­ schaffung seines Ich, das er naiv wie ein unverdientes Geschenk hin­ nimmt, gearbeitet hatte. Ein mächtiges Ich findet man bei den grie­ chischen Tyrannen, befleckt von Hybris gegen die Stadt und die Götter, dann bei den Cäsaren ganz veräußerlicht und auf das Uni­ versum ausgedehnt, das sie in ihrer Person verkörpern wollten, während Christus ein höchst demütiges, ganz verinnerlichtes Ich ge­ lehrt hat. Im Mittelalter war es im Begriff sich zu verlieren. Gerettet wurde es durch die beiden großen, gegen das Mittelalter gerichteten Bewegungen, in zwei verschiedenen, ja entgegengese^ten Richtun­ gen : die italienische Renaissance verlieh ihm eine gewalttätige, wag­ halsige, verwegene Unabhängigkeit, eine Virtuosität mit plötzlichen Sprüngen über die Grenzen des Menschenmöglichen hinaus, wah­ rend die Reformation zwar ebenfalls dem Ich zur Autonomie ver- half, doch mit dem Gefühl der Zerknirschung und Sündhaftigkeit, mit Grübeleien über die Auslegung von Gottes Wort und endlosen Gewissenserforschungen. Miteinander verglichen war das italienische Ich reicher an äußeren Möglichkeiten, während das protestantische sich in sein Inneres vertiefte. 10 Wie stand es in Frankreich um diese beiden Möglichkeiten? Es kannte sie beide, hatte sie erlebt, die Renaissance vor allem durdi die Aristokratie, die Reformation durch die Hugenotten. Weder die eine noch die andere befriedigte es ganz. Es hatte die Neigung, sie im richtigen Maß zu vereinen. Rabelais war schon ein Kreuzweg, wo beide einander begegneten: sein Ich ist ein Kentaur, halb Re­ naissance, halb Reformation; vielleicht überwiegt bei ihm, kraft seiner üppigen Fülle, das antike Element. Bei Montaigne herrscht sanfte Ausgewogenheit. Hätte man ihn gefragt, zu weither von bei­ den Möglichkeiten er neige, würde er wie immer entgegnet haben: weiß ich es? Um beide miteinander zu vereinen, hat es eines gewissen Abstandes von beiden bedurft. Das Ich, das die weltliche Kraft der Renaissance und die geistliche Macht der Reformation umschließen und vermählen würde, sollte erst später heranreifen. Descartes erscheint in dem einzigen Augenblick, da sich die beiden Arten miteinander verschmelzen konnten. Was in seinen Augen einfache Einheit ohne Schichtung, ohne den geringsten Riß, den mindesten Bruch ist, war das Ergebnis des Zusammenflusses des italienischen Lebens des ganzen Quattro- und Quintocento mit dem Protestantismus, der nur noch in einer Minderheit fortlebte, aber in der ganzen Atmosphäre Frankreichs spürbar war. Zu dieser kam infolge der Reisen, die Descartes unternahm, die Atmosphäre der in Deutschland, Holland und Schweden dem Protestantismus gewonnenen Gebiete. Vielleicht wird sich niemals wieder eine solche Lebensfülle in den engen Bezirk eines einzigen Ich ergießen, das gerade durch diese Vereinheitlichung die Möglichkeit erhielt, den höchsten Seinsgrad zu erreichen. Die Klarheit. Der Imperativ des Denkens — und für Des­ cartes gehören das Gedächtnis, der Glaube, die Imagination, der Wille1 zum Denken — heißt: klar sein. Die Verbindung unserer Seele mit unserem Körper ist eine ständige Quelle der Verdunke­ lung; das ist die eine dauernde Gefahr, Eine weitere, nicht minder große, bedeutet die mittelalterliche Scholastik, die durch das Gegen­ teil guter Erziehung die natürliche Klarheit getrübt hat. Es gilt, über­ i In seiner Entgegnung auf den fünften Einwand gegen die Meditationen sagt er ausdrücklich: ich denke, daß ich will. 11

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