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Lebensgeschichte als Appell: Autobiographische Schriften der ‚kleinen Leute‘ und Außenseiter PDF

224 Pages·1991·6.174 MB·German
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Klaus Bergmann · Lebensgeschichte als Appell Klaus Bergmann Lebensgeschichte als Appell Autobiographische Schriften der ,kleinen Leute' und Auflenseiter Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH CIP-Titelaufnabme da' Deutschen Bibliothek BergDIIIIIII, Ia111111 Lebeusgescbichte ala Appell: autobiographische Schriften der "ldeinen Leute" und AIJSIIenlleiter 1 Klaus Bergmann. ISBN 978-3-531-12152-9 ISBN 978-3-663-14370-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-14370-3 Alle Re<:hte vorbehalten © 1991 Springer Faclm!.edien Wiesbaden UrsprDDglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1991 Das Werk ei1111Cblie81ich aller seiner Teile ist urbeberrechtlich geschtttzt. Jede Verwertung au8erhalb der engen Grenzen dea Urbeberrechtsge setzea ist obne Zustimmung dea Verlap unzulllllig und strafbar. Das gilt insbesondere fOr Vervielflltigungen, Obersetzungen, Mikroverfil mungen und die Einspeicberung und Verarbeitung in elektroniscben Systemen. Umscblaggestaltung: Horst Dieter Bflrkle, Darmstadt ISBN 978-3-531-12152-9 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Kapitel 1: Populare Autobiographik Zur Schreibpraxis 'kleiner Leute' . . . . . . . . . . . . 15 Zur terminologischen Bestimmung . . . . . . . . . . . 19 Der Fundus popularer Autobiographik . . . . . . . 31 Kapitel 2: Historische Konstitutionsbedingungen der Autobiographik Zur Entstehung der autobiographischen Gattung . . . 40 lndividualismus und Biirgertum . . . . . . . . . . . . . 44 U nterschiedliche IndividualiHitsformen innerhalb des Biirgertums und Autobiographie . . . . . . . . . . 48 Kapitel3: Individuelles Prinzip und Autobiographik der Unterschichten Menschen 'ohne IndividualiHit' . . . . . . . . . . . . . 54 Massenpsychologie und Individuum . . . . . . . . . . 58 'lndividualismus' als politischer Kampfbegriff . . . . . 65 KlassenbewuBtsein versus lndividualbewuBtsein in der Theorie zur Arbeiterautobiographie . . . . . . . 70 Skizze zur Herausbildung individueller Lebens- formen in der Unterschicht im 19. Jahrhundert . . . . 82 Repressive lndividualisierung . . . . . . . . . . . . . . 95 5 Kapitel4: Widerspruchserfahrung im antobiographischen Projekt Die Autobiographik als Medium sozialer Anpassung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Das subjektive Potential der Autobiographik . . . . 113 Das subjektive Potential der Theorie des Stigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Stigma und Autobiographik . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Kapitel 5: Modelle antobiographischen Schreibens Schuldbekenntnis und Stolz des Titters . . . . . . . . 139 Appell an die Obrigkeit ................. 151 Abgrenzung nach unten . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Wunschraum Privatsphare . . . . . . . . . . . . . . . 161 Streben nach 'Hoherem': Bildung . . . . . . . . . . . 166 Streben nach 'Hoherem': Dichtung . . . . . . . . . . 171 Ostentative Normalitat . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Klassengemeinschaft und Subkultur . . . . . . . . . . 182 SchluBbetrachtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Literatnrverzeichnis Quelle n 197 Sekundarliteratur ..................... 211 6 Einleitung Autobiographien, besonders wenn ihre Verfasser aus bildungsfemen Schichten stammen, haben von jeher auf ihre Leser eine gewisse Sugge stion ausgeiibt. Leicht vermitteln sie namlich den Eindruck von 'Geschichten, die das Leben schrieb', also von Produkten eines voraus setzungslosen Schreibens, das sich nicht in vorgegebenen literarischen Traditionen oder gegen sie artikuliert, sondem neben -quasi extraterri torial·-allen geistesgeschichtlichen und literarischen Referenzen. Schon Ulrich Braker stilisierte sich nach dem Muster: "Ich bin nur ein einfaltiger Laie und schreibe nur meine Gedanken." (Tagebuch 5. Ok tober 1788; vgl. auch Chronik mrich Braker 1985, S. 329) Nur als solcher glaubte sich dieser kleinbiirgerliche Pauper Zugang schaffen zu konnen zu den damaligen biirgerlichen Bildungsgesellschaften; und nur als sol cher, als schriftstellerisches Naturtalent, glaubte er in der damaligen li terarischen Offentlichkeit ein eigenes Terrain abstecken zu konnen. Dementsprechend war die Literaturgeschichtsschreibung eher geneigt, Brakers "urspriingliche Lebendigkeit des Ausdrucks" (Misch IV.2, S. 813) oder die "unverdorbene Naivitat seines Wesens" (Klaiber 1921, S. 94) hervorzuheben, als der Frage nachzugehen, welchen Ein fluB seine intensive Shakespeare-Lektiire, seine Rezeption zeitgenossi scher Literatur und insbesondere seine Auseinandersetzung mit Autobiographien von anderen Autoren, etwa von Rousseau und lung Stilling, auf die Abfassung seiner eigenen Lebensgeschichte ausgeiibt haben. Auch Karl Fischers Denkwurdigkeiten und Erinnerungen eines Arbeiters aus dem Jahre 1903, urn ein weiteres Beispiel herauszugreifen, wurden wegen "ihrer Urspriinglichkeit, Derbheit und Schwerfalligkeit" gelobt; so charakterisierte ihn ahnlich wie viele andere Rezensenten 1904 Franz Liidke in der Zeitschrift Hammer (3. Jg., S. 299). Fischers Her ausgeber, Paul Gohre, hat vermutlich mit seiner Bearbeitung den Ein druck einer naiven Schreibweise zu verstarken gesucht. Leider ist das Orginalmanuskript Fischers nicht mehr vorhanden und laBt sich deshalb zum Vergleich mit der gedruckten Version nicht heranziehen; daB die Eingriffe Gohres in den Text jedoch erheblich waren, geht sowohl aus 7 seinem Vorwort zu der von ihm besorgten Ausgabe als auch aus gele gentlichen Bemerkungen in seiner Korrespondenz hervor. Fischer wurde in den Ankiindigungen des Diederichs Verlages als Mensch ohne ausgesprochene Individualitat vorgestellt. Ganz in diesem Sinne auBerte sich auch Eugen Diederichs gegeniiber Paul GOhre in ei nem Brief vom 24. 9. 1903: "Aus jeder Zeile spricht eine Einfalt des Herzens heraus, die ich geradezu kostlich finde" (zit. nach Diederichs s. 1936, 97). Nicht so herablassend, aber doch nach einem ahnlichen Muster charak terisiert Martin Walser die Schreibweise der ehemaligen Verkauferin, Kellnerin und in verschiedenen Gelegenheitsarbeiten beschaftigten Ur sula Trauberg, die er, nachdem sie wegen eines Totschlages in Haft ge raten war, angeregt hatte, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. In seinem Nachwort zu ihrem Buch Vorleben (1968) klingt das so: "Ursula Trauberg hat ihre 24 Lebensjahre besser ermhlt, als es ein professio neller Nacherzahler Mtte tun konnen. Mir wenigstens kommt es so vor, als entstehe durch die Art ihrer Ermhlung eine Glaubwiirdigkeit, die man nur er reichen kann, wenn man sie nicht beabsichtigt. Fast allen Biichern (und nicht nur Biographien) sieht man an, daB die Verfasser sich anklagen oder verteidi gen wollen .... Ursula Trauberg hat ihr Leben aufgeschrieben weit auBerhalb jener literarischen Brliuche. Sie hat es nicht in der Hand, ob ihr eine Passage zur Selbstverteidigung oder Selbstanklage wird. Sie scheint ganz einfach dem Diktat der Erinnerung folgen zu miissen. (. .. ) Hier wird endlich einmal berich tet, nichts als berichtet." (S. 269) Reinhard Baumgart hinterfragt diese Ausfiihrungen Martin Walsers in seinem Artikel iiber Die Literatur der Nichtautoren (1970), die er als eine zeitgenossische Modeerscheinung sieht: "Walser hiHt die zum Schreiben Gebrachte eben fiir keine Autorin, traut ihr nicht zu, daB sie irgendein Verhaltnis, und sei es das hilfloseste, zu ihren Er fahrungen ausdriicken konnte, als ware sie nur das leere Medium, die Bauch rednerin ihres gelebten Lebens. Er iibersieht, wie fatalliterarisch gerade seine Autorin sich stilisiert hat, daB Erfahrungen ihr immer wieder zu Posen erstar ren, daB eine triviale Romansprache ihr fortlaufend die Lippen schiirzt." (S. 738) Ein nicht geringer Teil der autobiographischen Texte von Autoren der Unterschicht konnte nur und gerade unter dem MiBverstandnis ihrer 8 besonderen Unmittelbarkeit und AuthentiziHit veroffentlicht werden. Besonders in Zeiten, da die Erwartungen an die Literatur von profes sionellen Autoren abgesunken waren, wenn, wie Walser feststellte, "die nachgemachte AuthentiziHit ... uns nicht mehr (schmeckt)" (1968, S. 269), konnten die 'Lebensgeschichten von unten' den literarischen Markt erobern. Auffallig viele Autobiographien von Arbeitern, aber auch von Prostitu ierten, Vagabunden und anderen gesellschaftlichen Parias erschienen in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts; und Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre wuchs das Interesse an Lebensgeschichten von Ge Hingnisinsassen und anderen Unterprivilegierten, dem Zeitungen, Zeit schriften und Buchverlage mit Dokumentationen, Interviews oder selbsWitig verfaBten autobiographischen Publikationen nachkamen. Das Verdikt von der besonderen AuthentiziHit dieser Texte fiihrt zu gravierenden MiBversHindnissen bei ihrer Rezeption; auch erschweren diese Annahmen der V oraussetzungslosigkeit und die VerkHirung einer besonderen Unmittelbarkeit den wissenschaftlichen Zugang zu dieser Literatur. Gerade im Aufweis der vielfaltigen Vermitteltheit dieses scheinbar spontanen und naturwiichsigen autobiographischen Schrei bens liegt eine vorrangige Aufgabe der wissenschaftlichen Auseinander setzung mit diesem Sujet. Die Ausgangssituation und der Antrieb, der die vielen zu verschiedenen Zeiten lebenden und aus den unteren gesellschaftlichen Standen und Schichten stammenden Verfasser von autobiographischen Schriften dazu gebracht hat, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben, diirften, wie schon unschwer aus den drei aufgefiihrten Beispielen zu ersehen ist, recht unterschiedlich sein. Ebenso unterschiedlich mogen die darstelle rischen Mittel sein, die sie jeweils in Anlehnung an die vorfindbare lite rarische Tradition, an die gangigen Zweckformen lebensgeschichtlicher Niederschriften wie Lebenslauf, Brief, Bittgesuch oder Familienchronik oder an die Praxis allHiglichen Erzahlens entwickeln. Und die Erwar tungen ihrer potentiellen Leser, denen sie sich als Autoren je konfron tiert zu sehen glauben und die ein Bezugspunkt ihres Schreibens dar stellen, diirften ebenso erheblich divergieren. 9 Ein zu entwickelndes theoretisches Instrumentarium miiBte die jeweils unterschiedlichen Konstitutionsbedingungen angemessen erfassen. Dies soll jedoch nicht zum Verzicht auf theoretische Uberlegungen verleiten, die die strukturellen Gemeinsamkeiten autobiographischer Texte von Autoren aus der Unterschicht zu erfassen suchen. Ahnliche Anspriiche formuliert Klaus-Detlef Muller in seinen Voriiberlegungen zu seinen Studien zur literarischenAutobiographie der Goethezeit (1976): "Das ... zu gewinnende Modell autobiographischen Erzahlens hat nur heuristi schen Wert, den es bei der Analyse der historischen Einzelwerke bewfihren muB." (S. 3) "Eine rein systematische Analyse, die von der Gattungsproblematik ausginge und die Texte nur zur Exemplifikation und Verifikation heranz<>ge - was grundsfitzlich m<>glich ware -miiBte die theoretische Stringenz auf Kosten der historischen Einsicht erzwingen." (S. 4) Auf wissenschaftliche Vorarbeiten kann eine zu entwickelnde Theorie der Autobiographik der Unterschicht kaum zuriickgreifen. Insbeson dere Studien, die sich mit der Formproblematik der autobiographischen Schriften der 'kleinen Leute' auseinandersetzen, sind rar. Denn die gat tungstheoretischen Entwiirfe zur Autobiographie wurden weitgehend verfaBt, ohne die Beitrage aus der Unterschicht zu beriicksichtigen, - und dies, obwohl diese Ansatze in der Regel umfassende Geltung fiir das gesamte Genre fiir sich in Anspruch nehmen. Trotzdem sollen die eher an den 'groBbiirgerlichen' Autobiographien entwickelten gattungs theoretischen Uberlegungen nicht von vornherein ignoriert werden, wie dies beispielsweise Georg Bollenbeck in seinem Buch Theorie und Ge schichte der frilhen Arbeiterlebenserinnerungen vorschHigt. Schon der von ihm im Titel verwendete Begriff 'Arbeiterlebenserinnerung' ist in be wuBter Absetzung zur von ihm als biirgerlich qualifizierten Autobiogra phieforschung gewahlt: "In der vorliegenden Untersuchung werden die Termini 'Autobiographie' und 'Memoiren' weitgehend vermieden, weil sie an bestimmte Charakteristika der biirgerlichen Erinnerungen gebunden sind. G. Misch, R. Pascal, B. Neumann u.a. haben ihre Unterschiede herausgearbeitet. Wesentliche Merkmale ihrer Unterscheidung, wie die unterschiedliche Gewichtung von Offentlichem und Privatem, oder die Ubernahme einer bedeutenden, passiven Rolle fiir die Memoirenschreiber, treffen fiir unseren Gegenstand nicht zu." (1976, S. 7) 10

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