Franco Prattico Leben, eine unerhörte Begebenheit Vom Chaos zum Bewusstsein LEBEN, EINE CNERHORTE BEGEBENHEIT FRANCO PRATTICO Leben, eine unerhorte Begebenheit VOM CHAOS ZUM BEWUSSTSEIN A us dem Italienischen von Ulrich Prill J. B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Prattico, Franco: Leben, eine unerhörte Begebenheit : vom Chaos zum Bewußtsein / Franco Prattico.A us dem Ital.von Ulrich Prill. -Stuttgart : Metzler, 1991 ISBN 978-3-476-00735-3 ISBN 978-3-476-00735-3 ISBN 978-3-476-03340-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03340-6 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 1991 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1991 IN HALT Einleitung Seite 7 Vom Nichts zum Ganzen Seite 11 Der kosmische Same 11 Die zerbrochene Symmetrie 14 Das Geheimnis der Materie 16 Statisch oder dynamisch? 19 Das Universum nimmt Gestalt an Seite 24 Die Galaxienfabrik 24 >>Locher<< im Urknall27 Quantenkosmologie Seite 32 Das Universum, eine >>Gratisleistung<< 32 Im Reich der Virtualitat 36 Unendlich viele mogliche Welten 39 Das anthropische Prinzip 42 Der Stoff, aus dem das Universum ist Seite 46 Das Wasserstoffatom 46 An den Quellen der Materie 50 Wolkengeboren 54 Das Leben, eine unerhorte Begebenheit Seite 57 Vom Anorganischen zum Lebendigen 57 Ein maBgeschneiderter Planet 62 IN HALT So viele Theorien ... 65 ... iiber einen Ursprung 70 Ein Planet wird erobert Seite 74 Das >>unsterbliche Tier<< 74 Metaphysik der >>notwendigen Evolution<< 77 Eine List des Gens 83 Der Kosmos modelliert das Leben Seite 86 Katastrophe in der Kreidezeit 86 Todeszyklen 91 Der unaufhaltsame Aufstieg der Saugetiere 94 Die Geburt des Mens chen Seite 98 Kampf der Schwer kraft 98 Driftende Kontinente 101 Der Zauberschliissel Sprache 106 Noch ein >>Geschenk<< des Zufalls 110 Die Materie denkt sich selbst Seite 114 Das Neuron, eine intelligente Einheit 114 Die Beziehung Geist - Gehirn 120 Anmerkungen Seite 132 EINLEITUNG Der moderne ErkenntnisprozeB, die Wissenschaft des kritischen Zweifels, gestattet keine metaphysischen GewiBheiten, bietet keine definitiven Vorhersagen an und diskutiert fortwahrend ihre eige nen Ergebnisse; beschaftigt man sich jedoch mit der Stellung des Menschen im U niversum, dann gerat - wie wir sehen werden - dieses kopernikanische Prinzip, das am Anfang der methodischen wissenschaftlichen Arbeit steht, ins Wanken. Die Entwicklung von der >>wundersamen•• Geburt der Materie bis hin zum menschlichen Gehirn, der wir in diesem Buch-wenn auch nur im Uberblick - nachgehen wollen, gibt uns keine Aus kunft dartiber, warum wir sind, erklart nicht, ob das Auftauchen der denkenden - und der sich selbst denkenden - Materie das Er gebnis einer Reihe glticklicher Zufalle, merkwtirdiger Ereignisse ohne Bedeutung ist oder ob es im Gegenteil eine in den Gesetzen des Kosmos verankerte Notwendigkeit darstellt. Die einzige Kon stante, die sich aus der >>Geschichte<< des Universums-soweit wir sie in unserer Begrifflichkeit und in unseren Grenzen erfassen konnen - ableiten laBt, ist die einer ununterbrochenen Zunahme der Komplexitiit. Vom >>Urfeuerball<< des Anfangs tiber das Auftauchen der Materie, der Sterne, der Galaxien, bis hin zum Leben und zum Denken (auch dies ein Ergebnis der Evolution des Universums), scheint eine hartnackige Anhebung des Organisationsniveaus vor zuliegen, ein standiger Ubergang vom Einfachen zum Komplexen, das immer wiederkehrende Aufbrechen geordneter Symmetrien, das der Entstehung von komplexeren Systemen vorausgeht. Das nennen wir Evolution: Ein ProzeB fortwahrender Veranderung, der heute in Form des menschlichen Gehirns seine - soweit wir erkennen konnen - hochste Manifestation erreicht hat - wenn es auch keinen AnlaB zu der Vermutung gibt, damit sei ein Endpunkt erreicht. Die Evolution, die Geschichte des Universums, die Zu nahme an Komplexitat- all das sind Vorstellungen, die die Ein fiihrung eines allgemeingtiltigen Parameters voraussetzen: die Zeit. Die Zeit ist der schillerndste Bestandteil in diesem Gedanken gebaude. Fur die klassische Mechanik gehort die Zeit nicht in den 7 EINLEITUNG Bereich der Physik: die Bewegungsrichtung eines Teilchens wird von den Raum- und Zeitkoordinaten, in denen es sich bewegt, nicht beeinfluf3t, die entsprechenden Gleichungen gelten fi.ir jede Zeit, ob positiv oder negativ gewertet, ob in die Zukunft strebend oder in die Ve rgangenheit gerichtet. Erst in der Thermodynamik, die das Konzept der Irreversibilitat einfuhrt, spielt die einseitig ausgerichtete Zeit, die sich in einem physikalischen System unab anderlich von der Vergangenheit zur Zukunft hin entfaltet, eine Rolle. Und biologische Systeme sind thermodynamische Systeme. Wennjedoch erst durch das Leben die Gultigkeit dieses Zeitbegriffs im Universum eingefiihrt wurde, dann ist unser Anspruch illuso risch, das U niversum in den historischen Kategorien des Anfangs und der Evolution beschreiben zu konnen, da er an die Bedingun gen unserer Wahrnehmung gebunden ist; genauso, wie am Beginn der wissenschaftlichen Erforschung der Welt die Sinnestauschung einer sich im Zentrum des Sonnensystems befindlichen Erde stand, urn die man Sonne, Planeten und Fixsternsphare kreisen lief3. >>Die Zeit ist zu komplex fur die Wissenschaft«, schrieb Bergson. Oder ist sie vielleicht zu einfach und zu trugerisch? Ob nun die Materie Geschichte hat oder ob dies das Ergebnis unserer Denkweise ist, auf jede n Fall steht die Wichtigkeit unserer Denkleistung und des Bewuf3tseins fest. Im Zentrum der jungsten und einfluf3reichsten wissenschaftlichen Disziplin, der Quanten physik, kommt dem Bewuf3tsein des Beobachters und der auf3eren Wirklichkeit (in Form eines Teilchen, der Minimalvoraussetzung fur Wirklichkeit) in den wechselseitigen Beziehungen ausschlagge bende Bedeutung zu. Die W echselwirkung mit dem Bewuf3tsein (dem Geist) eines Beobachters bestimmt den Kollaps der Welle eines subatomaren Objekts, entzieht es dem Bereich der blof3en Moglichkeit und schafft so erst seine Wirklichkeit. Demzufolge ist fur einige Physiker das Bewuf3tsein des Beobachters die Grundlage der Gesetze, die das Universum regieren: Erst als es bewuf3te Beob achter gab, existierte das Universum >>wirklich«. Entsprechend die ser Konzeption, wird die Welt nur wirklich, wenn wir sie erkennen. Ware das wahr, erstunden unter unserer zerbrechlichen sterbli chen Hulle die antiken welterschaffenden Cotter wieder auf. Oder aber unsere Vorstellung ist einfach menschlich, zu menschlich, urn sich ganzlich dem Geheimnis stellen zu konnen, das sich hinter den grof3en Phanomenen verbirgt, die sich urn uns herum abspielen und deren Teil wir sind. Vielleicht gestaltet sich 8 EINLEITUNG dann die Beschreibung von der Geburt des Ganzen und von seiner Entwicklung als eine der groBen Kosmogonien, die der Mensch erdacht hat, urn das Ins-Sein-Kommen des Universums und seine eigene Stellung darin zu erklaren. Doch auch wenn dem so ware, bewahrte das von der modernen Wissenschaft auf die Mauern der Welt gemalte Fresko die Kraft und die Schonheit der Graffiti, die unsere Ahnen auf die Gewolbe der Hohlen von Lascaux und von Altamira gezeichnet haben. Es enthalt jenen Teil der Wahrheit, den der Mensch begreifen kann, und sensibilisiert ihn wieder fiir seine eigene Zugehorigkeit zum majestatischen und unbegreifli chen Kosmos; und auch fur die Verantwortungjedem seiner Teile gegeniiber, so bescheiden sie auch sein mag ... 9 VOM NICHTS ZUM GANZEN Der kosmische Same Wir wollen versuchen, uns das Nichts vorzustellen. Ohne all das, was uns normalerweise umgibt, ohne Berge, ohne Meere, ohne Fliisse. Da ist keine Sonne am Himmel, und da ist kein Himmel mit seinen Sternen, Planeten und Materiewolken. Denn da ist auch keine Materie, und wo keine Materie ist, ist kein Raum. Und dieses Aufblitzen des Nichts ist ewig, zeitlos, denn die Zeit verschwindet gemeinsam mit Materie und Raum. Es ist schwierig, sich das Nichts vorzustellen. Es niitzt gar nichts, an die Leere zu denken, denn wir sind es gewohnt, die Leere als den ••negativen Inhalt« von irgend etwas zu betrachten, eines GefaBes, eines wie auch immer gearte ten Raums. Eine Denksportaufgabe, ·die unserem Verstand wider strebt, ja die ihm recht eigentlich unmoglich ist. Wenn wir alles ausklammern, uns des Existierenden entauBern miissen, dann miissen wir am Ende auch unser BewuBtsein ausklammern. Denn unser BewuBtsein ist ein Teil der uns umgebenden Welt: entweder als ihr Produkt oder als ihr Produzent. Dennoch ist dieser »Nicht-Zustand«, das »Nicht-Dasein« des Ganzen, der Ausgangspunkt der Hypothesen iiber den Ursprung des Universums. Sie beherrschen nicht nur die wissenschaftliche Kosmologie, sondern auch die popularen Vorstellungen, werden in den Massenmedien und bei Stammtischgesprachen diskutiert: der Big Bang, die Theorie von der gewaltigen Explosion des »Ur knalls«, urspriinglich von George Gamow und Georges Lemaitre formuliert, ist heute, mit einigen Korrekturen, zur Standarderkla rung fiir die Entstehung des Kosmos geworden. Der Urknall stellt den stichhaltigsten Erklarungsversuch dar, den die Menschheit erarbeitet hat, seit sie sich zum ersten Mal Fra gen iiber die Welt und ihren Ursprung gestellt hat. Verglichen mit den Kosmogonien der Vergangenheit, den mythologischen oder religiosen Erklarungen, hat das Urknallmodell einen entscheiden den Vorteil: Es beschreibt jenes verbliiffende Ereignis der Entste hung des Ganzen zumindest teilweise auf der Grundlage von Da ten und iiberpriifbaren Verhaltensweisen von Materie, mit Hilfe mathematischer Extrapolationen und sogar einiger (weniger, aber 11