Landkarten der Angst und Pfade, mit ihr umzugehen 24 2016 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de „Eine Landkarte ist zwar nicht das Gelände, aber sie hilft ziemlich, wenn man sich zurechtfinden will.“ Peter a. LeVine Angst – warum sie so normal ist und wie darauf zu reagieren, ist wiederum not- wir mit ihr umgehen können wendig zum Überleben. Man könnte auch Die Angst, wie im Lied beschrieben (siehe sagen, diese Fähigkeit gehört zur evolutio- Seite 27), kann die Angst vor etwas sein. nären Grundausstattung. Nur die Lebewe- Manchmal erleben wir die Angst aber sen konnten fortbestehen, die die Gefahr scheinbar ohne Anlass, dann kommt sie erkannten und entsprechend reagierten. leise angeschlichen, plötzlich heftig oder Angst und ihre neurophysiologische als ein Gefühl, dass wir erst viel später als Landkarte Angst definieren. Was ist Angst, wie erleben wir sie, wofür Wenn Lebewesen sich bedroht fühlen, setzt ist sie gut, wann ist sie schädlich und wie dies automatisch auf der neurophysiolo- können wir mit ihr umgehen? Darum soll es gischen und vegetativen Ebene einen Reak- in diesem Artikel gehen. Verschiedene Land- tionsmechanismus in Gang. Aufgenommene karten der Angst beschreiben verschiedene Informationen werden an unterschiedliche Aspekte und Perspektiven auf ein Gefühl, Areale im Gehirn weitergeleitet sowohl an dass uns allen vertraut ist. den kognitiven Teil des Gehirns in der Groß- Das Wort Angst kommt aus dem Latei- hirnrinde, als auch an tieferliegende ältere nischen Begriff angustia und bedeutet Enge, Strukturen wie das limbische System, dem Beklemmung. Das ist genau das, was wir Mandelkern, dem Hypothalamus und dem erleben, wenn wir Angst haben. Stellen Sie Hirnstamm. In den meisten Fällen geht der sich doch einmal vor, sie stehen ganz ent- bewussten Wahrnehmung die emotionale spannt auf einer Wiese, plötzlich nehmen und somatische Reaktion voraus, reagieren Sie einen Schatten wahr. Was geschieht? also zunächst die älteren Hirnstrukturen. Vielleicht halten Sie inne, die Augen stellen Wir haben so etwas wie eine „Hardware“, sich weit, die Nacken- und Rückenmuskula- ein System zur Entdeckung einer Bedro- tur spannt sich an, das Herz und der Atem hung. Sie befindet sich im Stammhirn und gehen schneller. Vielleicht entsteht aber in der Amygdala (Mandelkern) und erzeugt auch ein flaues Gefühl, Sie spüren Druck Angst. Dabei ist es nicht entscheidend oder Enge. Wenn Sie jetzt noch das Gefühl wovor wir Angst haben, sondern daß wir der Angst an sich beobachten, kann das etwas als Gefahr erkennen. Die „Hardware“ wiederum das Angstgefühl noch erhöhen. sorgt dafür, dass eine Überlebensreaktion Angst erleben wir zunächst körperlich. In in Gang gesetzt wird. Sie unterscheidet vielen Redewendungen wird dieser soma- dabei nicht, was das Angstgefühl auslöst. tische Zusammenhang deutlich: „Mir stehen Ob es sich beispielsweise um eine Begeg- die Haare zu Berge. Jemand erstarrt vor nung mit fremden Menschen handelt oder Angst. Das Herz bleibt vor Schreck stehen. die Konfrontation mit einem gefährlichen Das Blut gefriert in den Adern. Es schlottern Tier, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder die Knie. Man bekommt eine Gänsehaut die anstehende Prüfung. Wird Gefahr oder einen Kloß im Hals.“ erkannt, setzt die Hardware einen neuro- Warum das so ist, erfahren wir, wenn wir physiologischen, biochemischen Automatis- verstehen, warum wir überhaupt Angst mus in Gang. haben. Angst gehört zu den Grundgefühlen Ob wir etwas als bedrohlich einstufen, ist und wir benötigen sie zur Wahrnehmung abhängig von dem, was unsere Sinnes- von Gefahr. Gefahren zu erkennen und organe wahrnehmen. Diese Wahrneh- Landkarten der Angst... 25 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de mungen vermischen sich mit Erinnerungen, ter noch erläutert werden. Manchmal wird Geschichten über uns selbst, mit Gedanken, die Angst dabei auf kognitiver Ebene als Überzeugungen, Erfahrungen von anderen unnötig bewertet. Dennoch ist sie da, wirkt und missglückten Bewältigungsversuchen völlig unabhängig aller vernünftigen Gedan- ähnlicher Gefahren. Man kann analog hier ken und bringt starke Einschränkungen mit auch von der „Software“ sprechen. Die sich. Software ist stark geprägt von dem, was wir Auch die Angst nach Traumatisierungen gelernt und erlebt haben. Schreckerleben, z.B. bei sogenannten Flashbacks1 bringt den Stresssituationen, besonders aus frühen Betroffenen immer wieder in ein Gefühl, als Lebensphasen und Traumatisierungen hin- würde die Katastrophe sich gerade jetzt im terlassen Erinnerungsschleifen und können Moment ereignen. Menschen erleben also durch Außenreize angetriggert werden. So je nach Auslöser und Vorerfahrungen ein ist es also nicht nur eine reale Gefahr, die unterschiedliches Angstniveau. Es kann von ein Angstgefühl und die Angstreaktion in einem mulmigen Gefühl bis hin zu heftigen Gang setzt sondern auch meist unbewusst Angstwellen mit deutlichen körperlichen und bewusst Erinnertes. Beschwerden reichen. Wenn wir Angst Unser Gehirn ist darauf angelegt, sich auf haben, möchten wir vielleicht schreien, weg- Dinge zu konzentrieren, die gefährlich laufen, um uns schlagen, das Herz schlägt und bedrohlich sind. Das erklärt vielleicht bis zum Halse. Vielleicht möchten wir uns den Umstand, dass wir uns mit negativen aber einfach nur einigeln oder suchen Erfahrungen mehr beschäftigen, sie manch- Schutz. Manchmal ist Angst auch mit großer mal eher erinnern und schneller darauf Scham verknüpft. Dann möchte man am reagieren. Der Hintergrund ist, Überleben liebsten ohnmächtig werden, um ihr zu zu sichern. Die Angst ist also eine essenti- entkommen. Wie sind diese Reaktionen zu elle Emotion und schützt uns vor Gefahren. erklären? Wenn Menschen jedoch Angst in einer Form Reaktionen auf Bedrohung – eine evolutio- erleben und Verhaltensweisen entwickeln, näre Landkarte die ihr Leben erheblich beeinträchtigen, 1 Flashbacks sind unkontrolliert hereinbrechende Erinnerungen an sprechen wir von Angststörungen, die spä- das traumatische Ereignis 26 2016 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de Unserem Organismus stehen drei Grund- Angst reaktionen auf Angst zur Verfügung. Diese automatischen Reaktionen haben ihre angst vor der geschichte Begründung in der Evolution. In der Ausei- angst vor sich selbst, sich in sich zurück- nandersetzung mit den Herausforderungen zuziehen angst vor der welt der Umwelt und dem Drang zu überleben, angst auszubrechen, sich zu blamieren, entwickelten sich diese Grundreaktionen. sich aufs eis zu wagen Erstarrung – freeze angst zu verblöden vor der endgültigkeit Die evolutionär älteste Reaktion auf Gefahr sich an alles zu gewöhnen, aus angst vor ist das Abschalten, ist die Erstarrung, der zeit die Immobilität. Sie stellt sich ein, wenn angst zu verblöden, bereits mundtot zu aktive Reaktionen auf die Gefahr ineffektiv sein erscheinen. Dabei wird der Stoffwechsel angst stellt ruhig, angst kriegt klein soweit runtergefahren, dass nur noch die lebenswichtigen Grundfunktionen über angst braucht waffen aus angst vor dem feind, obwohl keiner längere Zeit erhalten bleiben. Nach außen so recht weiß: wer ist damit gemeint? wird signalisiert (Todstellreflex), dass sich angst überholt zu werden, angst vor ein weiter Kampf nicht lohnt. Tiere sind in konkurrenz der Lage eine Art Leichengeruch abzuson- angst vor der dummheit, vor ihrer dern, um den Feind zu vertreiben und dann intelligenz vielleicht noch im entscheidenden Moment mit der letzten vorhandenen Energiereserve angst als methode angewandt, ein- fliehen zu können. schüchtern ist eingeplant Auch wir Menschen kennen es „vor Angst angst stellt ruhig, angst kriegt klein gelähmt“, wie „betäubt zu sein“ zu „kol- angst voreinander labieren“, nichts mehr mitzubekommen. angst ‘rauszugehen, wir sind uns alle Dissoziationen (Abschalten, verschiedene verdächtig Sinneseindrücke voneinander trennen) sind angst in die augen zu sehen Phänomene, die im Modus von Erstarrung angst vor gefühlen geschehen. angst vor zärtlichkeit Kampf oder Flucht – Fight or Flight angst aus erfahrung, zuviel vertraulichkeit Um einer Gefahr zu entgehen, hatten unsere Vorfahren vor Millionen von Jah- angst zu verblöden… ren nur zwei Möglichkeiten: Angriff oder Flucht. Sowohl das Beschaffen von Nahrung angst ferngelenkt zu werden als auch das Entkommen vor feindlichen angst vor dem aus angst es allen recht zu machen Lebewesen ließen keine andere Wahl. Dazu angst frißt auf musste der Organismus sehr schnell alles bereitstellen, um die anstehende Heraus- angst sich zu wehren forderung zu bewältigen: Erhöhung der angst alleine zu sein Herzfrequenz, schneller Atem, Anspannung angst vor der angst der kleinen Muskulatur besonders im wir schlafen ein Zwischenwirbelbereich zur Erhöhung der Sprungkraft, Fokussierung des Ziels, Erhö- Herbert Grönemeyer hung der unspezifischen Abwehr und wei- teres. Der Sympathikus, Teil des autonomen Zugriff am 08.04.16 unter http://www.groenemeyer.de/archiv/musik/spruenge/ Nervensystems, ist dafür zuständig. Er mobilisiert, angeregt durch die Hormonaus- Landkarten der Angst... 27 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de Suche nach Schutz und Sicherheit – tent schüttung von Adrenalin und Noradrenalin, and befriend den Stoffwechsel. Zucker und Fettreserven werden angezapft und der Körper ist in der Lage zu extremer Aktivität. Die Existenz des Mit der Entwicklung der Säugetiere ist die sympathischen Nervensystems wird auf 300 Suche nach Schutz und Sicherheit eine Millionen Jahre zurück datiert bis ins Zeital- weitere fundamentale Reaktion auf Angst. ter der Reptilien. Säugetiere sind in den ersten Lebensmona- Fühlen wir uns bedroht, führt dies auf ten von ihren Eltern abhängig, der Mensch vegetativer Ebene zu einer Steigerung der über viele Jahre. Sie brauchen und suchen Sympathikusaktivität. Wir werden in die Sicherheit bei den Erwachsenen ganz Lage versetzt, zu fliehen oder zu kämpfen, besonders, wenn Gefahr droht. Hat ein Kind auch wenn das für unsere heutigen Bedro- Angst, sucht es den Schutz in den Armen hungen (z.B. ein Vortrag halten vor einem der Eltern. Wir schützen unsere Kinder im großen Publikum, der Brief vom Finanzamt Straßenverkehr, in der Dunkelheit, beim u.a.) keine adäquate Antwort ist. So wird in Gewitter, begleiten sie bei den Herausforde- bedrohlichen Situationen nicht nur Angst rungen des Lebens. Fehlt es an Sicherheit gefühlt sondern eben auch eine starke und Zuverlässigkeit, geraten Kinder früh in körperliche Reaktion ausgelöst und wahr- Stresssituationen und erleben Angst. Dieser genommen. Der Schauer über den Rücken, frühkindliche Stress kann tiefe Spuren bis die Gänsehaut, die Atemnot, die Enge in auf die Ebene der Erbinformationen hinter- der Brust lassen sich so erklären. Da unser lassen (epigenetische Gedächtnisbildung).2 Organismus so reagiert, als müssten wir Aber auch als Erwachsene fühlen wir uns eine körperliche Höchstleistung bringen, tun angstfreier, wenn wir Gefahren nicht alleine wir gut daran, nach einer extremen Anspan- bewältigen müssen. Wir alle kennen die nung für die Abfuhr von Energie zu sorgen wohltuende Nähe eines Menschen, wenn (z.B. durch Bewegung) und erst danach zu wir uns fürchten. entspannen. Dauerstress ohne Abbau der aufgebauten Energie kann zu körperlichen 2 spengler, 2010. Zugriff am 21.02.2016 unter http://www.psych.mpg. de/134953/research_report_431776?c=2007220 Erkrankungen führen. 28 2016 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de Angst sorgt für Weiterentwicklung In der Sicherheit der Gruppe ließ es sich eher überleben als alleine. „(…) die Bil- dung von Gruppen ist eine weit verbreitete Angst zu erleben, hat noch eine zweite Schutzstrategie bei den weidenden Pflan- Seite. Sie warnt nicht nur vor Gefahren zenfressern. Weil immer irgendeiner in sondern hat einen Aufforderungscharakter, der Gruppe wachsam ist, können sie ihren nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Feind viel eher wahrnehmen und ihm durch „Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in Flucht entkommen. Außerdem haben viele einer Situation befinden, der wir nicht oder Räuber Schwierigkeiten, in einem großen noch nicht gewachsen sind. Jede Entwick- Verband ein Tier optisch zu fixieren – die lung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst ver- gezielte Jagd wird erschwert.“3 bunden, denn er führt uns in etwas Neues, Sich in Gruppen anpassen zu können und bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, dafür zu sorgen, dazuzugehören (befriend) in innere oder äußere Situationen, die wir ist auch für uns Menschen wesentliche noch nicht und in denen wir uns noch nicht Überlebensstrategie. erlebt haben (…). Sie kommt am ehesten ins Bewusstsein an besonders wichtigen Stellen Welche dieser drei Grundreaktionen in unserer Entwicklung, da wo alte vertraute Gang gesetzt werden, hängt von Inten- Bahnen verlassen werden müssen, wo neue sität, von Vorerfahrungen und von der Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen Effektivität in einer Gefahrensituation ab. fällig sind.“4 Gefahren und Erschütterungen, Der Organismus ist in der Lage, zwischen wenn sie überlebt werden, führen zu den einzelnen Reaktionen hin und her zu neuem Denken, zu neuem Verhalten und zu switchen, um eine Gefahrensituation zu neuen Erfahrungen. bewältigen. Natürlich haben wir auch durch „Versteht man Angst auch als eine Verbün- unsere Bewusstheit Einfluss auf das Erleben dete, dann wird sie zum Helfer, der uns von Angst und den Umgang damit. Hier Hinweise darauf gibt, was wir brauchen sollte jedoch erst einmal deutlich gemacht oder vermissen. So eröffnen sich neue werden, wie normal und notwendig es ist, Entwicklungswege.“5 Angst zu erleben und welche Mechanis- Gerald Hüther6 spricht sogar von der men in Gang gesetzt werden, auf die wir Notwenigkeit von Erschütterung, die sich in zunächst wenig Einfluss haben. Angstsituationen auch neurophysiologisch vollzieht als Voraussetzung dafür, dass sich Funktionen der Angst überhaupt neue Bahnungen im Nervensy- Zusammengefasst bedeutet das: Angst stem entwickeln können. schützt uns vor Gefahren. Sie gehört zu Auslöser für Angst einem sehr ausdifferenziert und autonom ablaufendem Frühwarnsystem, das in der Auslöser von Angst können Reize sein, auf Evolution aller Lebewesen ihren Ursprung die der Organismus instinktiv reagiert. Dazu hat. Vorsicht ist besser als Nachsicht, ist gehören Geräusche, Gerüche, Berührung, hier das vorherrschende Prinzip, sodass wir Licht und Dunkelheit, Einengung, Schutz- gerade nach negativen Erfahrungen schnell losigkeit und Tiere. Die Angst vor Spinnen auf gefährlich erscheinende Situationen und Schlangen, Höhlen, freien Plätzen, anspringen. Sie mobilisiert das vegetative Menschenansammlungen haben in der Nervensystem und bereitet uns auf Flucht Evolution ihren Ursprung. Sie haben tiefere oder Kampf vor, unabhängig von der Art Spuren hinterlassen als zum Beispiel die der Gefahr. Sie aktiviert die Suche nach Angst vor Elektrizität. Viel Angst entsteht Schutz oder bringt uns als lebensrettende auch durch unsere Bewertungen, also im Maßnahme in einen Zustand der Erstarrung. 4 rieMann, 1986, S.9 3 Zugriff am 08.04.16 unter http://www.scinexx.de/dossier- 5 DiegelMann, iserMann, 2011 detail-133-10.html 6 hüther, 2008 Landkarten der Angst... 29 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de Frontallappen des Gehirns, der komple- Angst und eine xesten Region des menschlichen Gehirns. psychodynamische, „Dort kommt es immer dann, wenn wir eine Diskrepanz bemerken zwischen dem, „kosmische“ Landkarte was wir erwarten oder erhoffen und dem, was wir erleben oder antizipieren zu einer unspezifischen Erregung die sich zu einer Psychodynamik der Angst – ein Modell von Übererregung (Hyperarousal) aufschaukelt. Fritz riemann Unter diesen Umständen ist aus den kom- plexen neuronalen Netzwerken des Frontal- fritZ rieMann hat schon 1961 die Ursache hirns kein ‚vernünftiges‘ handlungsleitendes aller Ängste dahingehend beschrieben, dass Muster mehr aktivierbar. Das Verhalten, das menschliche Leben und dessen Gestal- auch das Fühlen und die Reaktionen des tung vier Grundanforderungen unterliegt, Körpers werden jetzt von den tieferlie- die einander als polare Gegensätze zuge- genden, früher herausgeformten und sta- ordnet sind und sich gleichzeitig ergänzen: bileren neuronalen Netzwerken bestimmt. „Die Grundformen der Angst hängen mit „Wenn kein Ausweg aus dieser Situation unserer Befindlichkeit in der Welt zusam- gefunden wird, übernehmen schließlich die men, mit unserem Ausgespanntsein zwi- archaischen Notfallprogramme im Hirn- schen zwei großen Antinomien, die wir in stamm das Kommando.“7 ihrer unauflösbaren Gegensätzlichkeit und So kommt also alles als Auslöser von Angst Widersprüchlichkeit leben sollen.“8 in Frage, wo diese Diskrepanz erlebt wird. Nach rieMann lassen sich diese gegensätz- Dazu zählen Konflikte, Konkurrenz, Lei- lichen Pole folgendermaßen darstellen: stungsdruck, Bewertungen, Prüfungssitua- Wir sollen ein einmaliges Individuum tionen, Trennung und Verlust, Verlust von werden, unser Eigensein bejahen und uns Eigenständigkeit und Selbstbestimmung, gegen anderes Eigensein abgrenzen. n Wir u.v.a.m.. Angst ist normal in unserer sollen uns der Welt, dem Leben und den Lebensentwicklung, nämlich dann, wenn wir anderen Menschen vertrauend öffnen und Neuland betreten. uns auf sie einlassen. Alles Neue kann neben dem Lockenden und Wir sollen Dauer anstreben, Pläne machen, Kitzelnden auch Angst machen, da es noch diese nachhaltig und zielstrebig verwirkli- keine Sicherheit über Bewältigungsstrate- chen. n Wir sollen uns wandeln, Verände- gien gibt. rungen und Entwicklungen durchmachen, Vertrautes und Gewohntes aufgeben. 7 hüther, 2009 8 rieMann, 1986, S.11 30 2016 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de rieMann erläutert diese Notwendigkeiten und abhängig zu machen, sich auszuliefern, die damit verbundenen Ängste anhand der anzupassen und ihnen wird eine Metapher der vier Bewegungen der Erde: „schizoide Grundstruktur“ zugeordnet. Der betroffene Mensch kreist mit seinen 1. Die Erde dreht sich um die eigene Gedanken und Gefühlen um sich selbst. Achse. Diese Rotation entspricht der Er versucht die Rotation um andere Individuation, der Drehung um sich Menschen, so weit wie möglich zu selbst. vermeiden. Hier finden wir Einzelgänger. 2. Die Erde dreht sich um die Sonne, was er 3. Die Forderung der Wandlung die Revolution oder „Umwälzung“ nennt. Damit Entwicklung möglich ist, sind Es geht um die Einordnung in ein Größeres, Veränderungen und Beweglichkeit die Hingabe an andere und die Welt. notwendig. Menschen mit Angst vor der Wandlung 3. Die Fliehkraft oder Zentrifugalkraft ist haben Angst vor der Vergänglichkeit, die Kraft, die aus der Mitte flieht, also vor der Ungewissheit des Neuen und nach außen strebt. Es ist der Impuls zu rieMann spricht von einer „zwanghaften Veränderung und Wandlung. Ohne diese Grundstruktur“ würde die Erde erstarren und wäre zur „Der zwanghafte Mensch strebt die Unveränderlichkeit verdammt. Dauer an, möchte sich in dieser Welt häuslich niederlassen und die 4. Die Schwerkraft oder die Zentripetale, Zukunft planen. Sein Wunsch ist eine ist die Kraft, die zur Mitte strebt, also feste, verlässliche Zukunft. So wie nach innen. Gäbe es diese nicht, würde die Zentripetalkraft möchte er alles die Erde auseinanderbrechen. Sie verdichten, auf das es sich nicht mehr beschreibt den Impuls nach Dauer und bewegt, damit eine Stabilität gegeben ist. Beständigkeit. Seine Angst betrifft die Vergänglichkeit, das Irrationale und Unvorhergesehene. Daraus leitet fritZ rieMann vier Grundforde- Alles Neue ist für ihn ein Wagnis und rungen des Menschen ans Leben ab und Planen ins Ungewisse ist ihm ein Greuel. ordnet ihnen entsprechende Ängste zu. In seinem Erleben ist die Vergänglichkeit gleich einem Tod.“9 1. Die Forderung nach Einmalig werden kann die Angst auslösen, aus der 4. Die Forderung von Beständigkeit Geborgenheit und dem Dazugehören Dauerhaftigkeit anzustreben bedeutet herauszufallen, Angst vor Einsamkeit Sicherheit und Zuverlässigkeit. Die Angst und Isolierung, Angst vor Ablehnung und vor Beständigkeit zeigt sich in einer Unterscheidung. „hysterischen Grundstruktur“. Menschen mit Angst vor der „Der hysterische Mensch: Er ist immer Selbstwerdung kreisen eher um bereit, sich zu wandeln, Veränderungen andere und ihnen wird eine „depressive und Entwicklung zu bejahen, Vertrautes Grundstruktur“ zugedacht. aufzugeben und alles nur als einen Durchgang zu erleben. Das Neue hat 2. Die Forderung, sich verbinden zu für ihn einen unwiderstehlichen Reiz, können das Unbekannte zieht ihn magisch Diese Forderung bedeutet, sich den an. Damit verbunden ist die Angst vor Mitmenschen, der Gemeinschaft Ordnung, Notwendigkeiten, Regeln vertrauend zu öffnen, sich hingeben und Festlegungen. Sein Freiheitsdrang zu können. Menschen mit Angst vor 9 strang, Zugriff am 08.04.2016 unter http://arbeitsblaetter.stangl- der Selbsthingabe haben Angst, sich taller.at/EMOTION/Riemann.shtml Landkarten der Angst... 31 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de schlägt um in die Angst vor dem Tod als nächste Panikattacke heraufbeschwören Erstarrung.“10 könnte. Bei der generalisierten Angststörung Diese vier Grundformen der Ängste lassen fühlen Menschen sich von anhaltender sich laut rieMann nicht vermeiden und sie Sorge gequält, verlieren sich in negativen gehören zur Entwicklung dazu. Entschei- Gedanken und Vorhersagen. Andauernde dend ist auch hier, ob wir sie erkennen, innere Unruhe und Anspannung sowie stän- anerkennen und lernen, mit ihnen umzuge- diges Grübeln über mögliche Gefahren und hen und so diese vier Grundherausforde- Unglücksfälle sind kennzeichnend. Mitunter rungen in eine gute Balance zu bringen. spitzt sich die Angst in Panikattacken zu Natürlich gibt es noch viele andere Theo- oder mündet in einer Depression. rien für die Entstehung von Agoraphobie ist die Angst vor öffentlichen Angst. Konzepte des Ler- Räumen, Menschenansammlungen oder nens, der Konditionierung ganz allgemein vor Situationen, wo Flucht, Noch bist du da sowie die Affekttheorien Hilfe oder Rettung für die Betroffenen Wirf deine Angst wären hier erwähnenswert, unerreichbar scheint. Es besteht ein starker würden aber den Rahmen Drang, den Ort sofort zu verlassen oder erst in die Luft eines solchen Artikels gar nicht aufzusuchen. Die innere Unruhe Bald sprengen. kann sich bis ins Unerträgliche steigern. ist deine Zeit um „Menschen mit Agoraphobie vermeiden Die Landkarte der bald wächst der Himmel daher öffentliche Verkehrsmittel, Auto- Angsterkrankungen – wenn fahrten auf Autobahnen oder abgelegenen unter dem Gras die Ängste zu groß werden Landstraßen, aber auch das Einkaufen in fallen deine Träume Ängste sind normal, doch der überfüllten Innenstadt. Manche Betrof- ins Nirgends wenn die Angst dauerhaft fene sind nur in Begleitung einer vertrauten Noch unsere Gefühlswelt belastet, Person in der Lage, die alltäglichen Anfor- unseren Alltag beherrscht derungen zu meistern. In schwerwiegenden duftet die Nelke und unsere Handlungsfähig- Fällen kommt es zur völligen Isolation, wenn singt die Drossel keit lähmt, ist eine genauere das Haus oder die Wohnung als schüt- noch darfst du lieben Abklärung ratsam und eine zende Räume nicht mehr verlassen werden Beratung oder Therapie können. Eine gesonderte Form der Platz- Worte verschenken notwendig. Man unterschei- angst ist die Klaustrophobie. Hier bezieht noch bist du da det verschiede Formen der die Furcht sich auf enge, kleine Räume wie Sei was du bist Angsterkrankungen. Aufzüge, Umkleidekabinen, Flugzeuge, über- Gib was du hast Von Panikattacken spricht füllte Züge.“11 man, wenn Menschen inten- Menschen mit Sozialer Phobie geraten rose ausLänDer sive, unerwartet, plötzlich besonders in sozialen Situationen in Sorge, auftretende körperliche bloßgestellt oder negativ verurteilt zu wer- Symptome zeigen wie Zit- den. Sie haben Angst abgelehnt, gemieden tern, Schweißausbrüche, Herzrasen Benom- zu werden oder durch Peinlichkeiten aufzu- menheit und mit starken Gefühlen von fallen. Die Angst zu erröten, zu stottern, zu Bedrohung überschwemmt werden. Men- zittern, Toilettendrang oder gar die Angst schen mit Panikattacken geraten in Angst- zu erbrechen können auftreten. Deshalb zustände meist ohne konkreten Grund. Sie vermeiden Betroffene soziale Anlässe. haben Angst zu sterben, verrückt zu werden Bei den sogenannten spezifischen Phobien oder in Ohnmacht zu fallen. Viele Betrof- sind die Ängste auf bestimmte Dinge und fene leben in der ständigen Sorge vor der Situationen gerichtet. Angst vor Tieren nächsten Panikattacke. Aus Angst vor der (Spinnen Schlangen, Hunden,…) aber auch Angst vermeiden sie Situationen, die die 11 http://psychiatrie.uni-bonn.de/krankheitsbilder/angst_und_angster- 10 a.a.O. krankungen/index_ger.html, 28.02.2016, 15.00 32 2016 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de Angst vor Höhen, Krankheiten oder die Flug- Fühlen wir uns bedroht, schauen wir uns angst sind hier zu nennen. Nicht alle spezi- nach anderen um, orientieren uns an fischen Phobien sind behandlungsbedürftig. Stimmen, Gesichtern, möchten unsere Der Leidensdruck durch die Einschrän- Empfindungen mitteilen und erfahren Beru- kungen für den Alltag ist ausschlaggebend. higung durch die Zuwendung, den Blick die Starke Ängste sind auch im Rahmen einer Stimme, die Berührung eines anderen Men- Posttraumatischen Belastungsstörung schen. Wenn wir Angst erleben, ist es also (PTBS) zu finden. Charakteristische Sym- gut, auch aktiv Orientierung zu suchen, sich ptome der PTBS sind Vermeidungsverhal- umzuschauen, sich einem anderen anzuver- ten, Wiedererleben des Traumas in Form trauen und über das eigene Empfinden zu von unkontrolliert hereinbrechenden Erin- sprechen. Bindung ist für das kleine Kind nerungen (Flashbacks) und quälenden Alb- praktisch der einzige Schutz zu überleben, träumen, sowie starke innere Erregung, die wenn es sich bedroht fühlt. Werden Kinder sich in Form von Schlafstörungen, Schreck- allein gelassen und nicht beruhigt, geht das haftigkeit oder Reizbarkeit niederschlägt. Vertrauen in den Schutz anderer verloren Angststörungen dieser Art sollten ernst und damit auch die spontane Suche nach genommen werden. Psychotherapie und Schutz und Geborgenheit in bedrohlichen Beratung sind ein Ort, sich mit dieser Angst Situationen im Erwachsenenalter. „Mir kann auseinanderzusetzen, ihre Ursachen zu sowieso keiner helfen.“, „Ich mach es lieber verstehen und Hilfestellungen zu nutzen, allein“, sind dann alte Überlebensmecha- um aus dem Teufelskreis von Angst, Angst nismen. Doch der Schutz durch andere vor der Angst, Vermeidung und dadurch Menschen beruhigt. Und es lohnt sich, oft wieder eine Steigerung der Angst diese Erfahrung erneut zu machen. Sich hinauszufinden. Anvertrauen zu können, ist auch eine neue wesentliche Erfahrung in Beratung und Möglichkeiten, der Angst zu begegnen und Therapie. mit ihr umzugehen Auch die Beruhigung durch sich selbst ist Nicht nur im Bereich der Angststörungen eine Möglichkeit, mit der Angst umzugehen. gilt es, Wege mit und aus der Angst zu fin- Sich selbst gut zuzureden: „Du schaffst das den, sondern eben auch beim Erleben von schon!“, auch laut, um nicht nur Beruhi- Angst im Lebensalltag und der Lebensent- gendes zu denken sondern auch zu hören wicklung. Betrachten wir die Landkarten der oder gar mit dem Spiegelbild sprechen. Angst, so gibt es viele Möglichkeiten, mit Annehmen, was ist – Akzeptanz durch der Angst umzugehen oder ihr entgegen zu Mitgefühl. wirken. Da Angst auf körperlicher, emo- Wenn wir akzeptieren können, dass Angst tionaler und kognitiver Ebene zeigt, sind normal und sinnvoll ist, dann ermöglicht auch alle Aspekte im Umgang mit Angst zu es, dass wir auftauchende Angstgefühle finden. zunächst annehmen. Sie ist überlebens- notwenig, sie schützt uns und gibt wichtige Beruhigen Signale. Angst anzunehmen heißt, sie zuzu- Das entwicklungsgeschichtlich jüngste Sys- lassen und sich ihr zuzuwenden. Der Angst tem in Bedrohungssituationen sucht Schutz in unsicheren und bedrohlichen Situationen in Beziehungen. Ein Teil des parasympa- mit Mitgefühl zu begegnen, bedeutet das thischen Nervensystems „(…) mobilisiert Gegenteil von: „Reiß dich zusammen und die unwillkürlichen Muskeln in Kehlkopf, stell dich nicht so an!“. Vielmehr geht es um Gesicht, Mittelohr, Herz und Lungen, die ein: „Es ist in Ordnung, sich zu ängstigen“. zusammenspielen, um unsere Emoti- Wir kommen nicht an der Angst vorbei. Sie onen sowohl uns selbst als auch anderen gehört zu unserem Dasein. Sie zuzulassen mitzuteilen.“12 nimmt den Druck und vielleicht auch die Angst vor der Angst. Mitgefühl mit sich und 12 levine, 2011, S.131 Landkarten der Angst... 33 © Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen • Steinweg 12 • 50667 Köln • www.elf-koeln.de
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