Hans Peter Thurn Kultur im Widerspruch Hans Peter Thurn Kultur im Widerspruch Analysen und Perspektiven Leske + Budrich, Opladen 2001 Gedruckt auf alterungsbeständigem und säurefreiem Papier Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 978-3-8100-3154-9 ISBN 978-3-322-94942-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-94942-4 © 2001 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: disegno, Wuppertal Satz; Leske + Budrich, Opladen Inhalt Wohin steuert die Kultur? ................................................................. 9 1. Kultur hat Konjunktur ........ .......................................... .......... 9 2. Der "cultural turn" .................................................................. 13 3. Trägerschichten im Wandel ..................................................... 16 4. Auf dem Weg zur Transport-Kultur ........................................ 20 5. Alte und neue Fragen ............................................................... 24 I Entwicklungslinien Kultur, Zivilisation, Alltag Bemerkungen zur Ideengeschichte ...................................................... 31 1. "Kultur" zwischen Bildungsanspruch und Heilserwartung .................... ............................................. 34 2. Zivilisation: auf dem Weg zu bürgerlicher Ordnung ................ 43 3. Jedermanns gewöhnliche "Kultur": der Alltag .......................... 47 4. Soziologen entdecken die Kultur: Max Weber und Georg Simmel ............................................... 52 5. Kulturelle Konstellationen: Alfred Weber ................................ 61 6. Zivilisatorische Figurationen: Norbert Elias ............................. 67 Zivilisationskritik oder Kulturtheorie? Claude Uvi-Strauss' Strukturalismus als Vermittlung und Versöhnung ............................... 85 1. Die Rehabilitierung der "Primitiven" ....................................... 85 2. "Wildes" und "zivilisiertes" Denken ............... .......................... 90 3. Im Innern der Mythen ............................................................. 94 4. Strukturalismus zwischen Mode und Bewährung ..................... 98 5 11 Zwischen Aufbau und Zerstörung Gärtner und Hirten -Krieger und Totengräber Metaphern im Konflikt..................................................................... 109 1. Gute Gärtner, brave Hirten ..................................................... 109 2. Von der Hebamme zum Bestatter ............................................ 113 3. Totengräber gestern und heute ................................................ 115 4. Gärtner und Hirten im Untergang ........................................... 118 Homo destructor: Der Mensch als Zerstörer ........... ............................. 131 1. Aufbauen und Zerstören ................ .......................................... 131 2. Vernichtungshandeln ............................................................... 134 3. Deutsche Hypotheken ............................................................. 137 Kultur im Zwiespalt ......................................................................... 145 1. Ein Dilemma: Zerstörungsträchtigkeit ..................................... 145 2. Im Sog der Pseudomorphosen ................................................. 147 3. Umgang mit Kultur ................................................................. 153 Der motorisierte Pegasus: Literarisches für und wider das Auto ............ 159 1. Ein Autor gerät in Fahrt ........................................................... 159 2. Kentauren auf Rädern? ............................................................. 161 3. Ein artistischer Auto-Mogul ..................................................... 163 4. Im Serail der Motoren ............................................................. 164 5. Autorin am Steuer ................................................................... 165 6. Autor's Auto-Lust .................................................................... 169 7. Auto-Sport? ............................................................................. 171 8. Beruf: Chauffeur ...................................................................... 174 9. Auto-Fatalitäten ....................................................................... 177 10. Krieg und Frieden auf den Straßen .......................................... 180 III Perspektiven Das sozio-kulturelle Grundmuster ..................................................... 189 1. Schwankende Grenzen ............................................................. 189 2. Kulturaneignung mit Sozialimpuls ........................................... 191 3. Anverwandlung statt Anpassung .............................................. 194 6 4. Maßstäbe, Wechselbezüge, Verstehbarkeit ............................... 197 5. Gefährdungen des Gleichgewichts ........................................... 199 Facetten der Lebenskultur .. ....... ..... .... ..... ......... ............... .................. 205 1. Kultur als Daseinsgestaltung .......................... ............. ....... ...... 205 2. Lebensbedingungen im Technotop ..... ..................................... 207 3. Die Lebenswelt als Zone des vielfältig Möglichen .................... 211 4. Kultur und gesellschaftliche Gliederung ................................... 214 5. Die sozialkulturelle Alltagswelt ................................................ 217 6. Geltung und Wirksamkeit kultureller Objektivationen ........................................... ..... ...... 220 7. Kulturelle Werte und ihre soziale Bedeutung ........................... 223 8. Epochale Veränderungen ......................................................... 226 9. Kultur als Beruf ....................................................................... 230 10. Zwischen Tradition und Innovation ........................................ 233 Gestaltung als Prinzip der Kultur...................................................... 241 1. Zwischen Zwang und Freiheit ................................................. 241 2. Gestaltungskompetenz im Wandel ........................................... 246 Kultur und Geld' ein gleichwertiger Tausch? ...................................... 255 1. "Kunst" und Kunstbegriff .... .... ......................................... ....... 256 2. Geld ........................................................................................ 258 3. Tauschverhältnisse ................................................................... 260 4. Künstler zwischen "Beruf" und "Berufung" ...................... ........ 263 5. Gruppenbildungen .................................................................. 265 6. Allianzen und Koalitionen ....................................................... 267 7. Tausch-Manager ...................................................................... 268 8. Ressource "Kultur" .................................................................. 271 D rucknachweise 277 Personenregister 281 Sachregister .................................................................................... 287 7 Wohin steuert die Kultur? 1. Kultur hat Konjunktur Kultur ist ins Gespräch geraten, hat seit einiger Zeit wieder Aufmerk samkeit gefunden - nicht nur infolge sich leerender öffentlicher Kassen, also gewissermaßen aus einer defizitären Perspektive, sondern auch im Hinblick darauf, was sie den Menschen bedeutet, wieviel Orientierung sie ihrem Denken, Fühlen und Handeln bietet oder bieten kann. Zu gleich taucht die Frage auf, welche Konflikte Kulturen bescheren, da ihre Begegnungen offensichtlich nicht reibungslos vor sich gehen. Menschen werden - auch in Deutschland - gekränkt, beschimpft, verfolgt, ermor det wegen kultureller Andersartigkeit. Weltweit werden Kunstwerke zer stört, mancherorts Standbilder in die Luft gesprengt, selbst in "zivilisier ten" Ländern Bücher verdammt, weil sie einzelnen oder Gruppen als mißliebig gelten. Unterschiedliche Anschauungen, Lebensgewohnheiten, Glaubensgüter benachbarter Völker schlagen in tätliche Auseinanderset zungen, gar Kriege um, aus deren gewaltsamer Eskalation sich ein Rück weg zum Frieden so leicht nicht finden läßt. Das alles - und die Beispie le ließen sich mühelos mehren-zeigt, wie bedeutsam den Menschen, im Guten wie im Schlechten, aus Liebe oder aus Haß, die Kultur ist, ihre eigene Kultur zumal. Kultur hat also Konjunktur, auch in politischer Hinsicht - man erin nere sich an die Debatten, die ein Begriff wie der von einer namhaften Partei im Jahr 2000 in die Diskussion geworfene der "Leitkultur" ent zündet hat. Gemeint wurde damit, daß es innerhalb der kulturellen Viel falt auf deutschem Boden so etwas wie eine leitorientierende Kultur ge be, gar geben solle. Formulierung und Fragestellung waren keineswegs neu, schon am Anfang des 20. Jahrhunderts tauchten sie auf, wurden in des rasch als problematisch erkannt. Bereits der Romancier Thomas Mann äußerte Zweifel am Sinn dieses Themas. Für "deutsche Leit Cultur", beschied er 1928 die Anfrage einer Zeitung, votiere außer Os- 9 wald Spengler kein intelligenter Autor und auch sonst kein halbwegs vernünftiger Mensch. Schon lange seien "Schriftsteller und Künstler" deutscher Sprache nicht mehr vorstellbar "ohne Orient und Okzident!" Die Deutschtümler sollten nicht vergessen, zitierte der Romancier iro nisch aus einer kurz zuvor anläßlich der Weltausstellung gehaltenen Re de: "Wir haben den Feind im Land. Goethe, Lichtenberg, Schopenhau er; es hilft nichts." Wie diejenige der benachbarten Länder schere sich die bedeutende Literatur, Kunst und Musik zwischen Alpen und Nordsee nicht um politische Grenzen. "Kultur herrscht nicht, und wahre Kultur will nicht beherrschen: stets nimmt sie, stets gibt sie - Schuldner sind wir alle."1 Indes zeigte die damalige wie die neue re Diskussion doch ohne Zwei fel zweierlei. Zum einen, daß Realität und Interpretation der Kultur in weitem Umfang problematisch wurden (oder wieder problematisch sind), daß sie der Klärung bedürfen, und daß es zum zweiten schwierig ist, mit dem Wort "Kultur" das, was man als problematisch empfindet, adäquat zu benennen. Der Begriff "Kultur" selbst scheint an Inhaltlich keit, an Bedeutung, an Geltung verloren zu haben. Er scheint nicht mehr so voraussetzungslos benutzbar zu sein, wie es vielleicht einmal in frühe ren Zeiten möglich war. Das mag unter anderem daran liegen, daß sich eine Inflation des Kulturbegriffs zugetragen hat. Galt die Aufmerksam keit einst vor allem der "Hoch"- und "Elitekultur", so später ebenfalls der "Volks"-, "Populär"- oder "Massenkultur". Während kritische Intel lektuelle eine emanzipatorische "Gegenkultur" forderten, hofften Aktio näre bereits auf ihr Glück durch effizientere "Managementkultur". Illu strierte werben heutzutage aufwendig für "Kochkultur", "Schlafkultur" und ähnliche häusliche Annehmlichkeiten. Historiker fordern mehr "Erinnerungskultur", Professoren warnen vor dem Niedergang der "Uni versitätskultur", Patienten vermissen bei Ärzten die "Gesprächskultur". Viel wird von fehlender "politischer Kultur" geredet und geschrieben. Bildungsplaner verfassen Denkschriften über "Prüfungskultur". Beliebt sind ebenfalls ökonomische Kombinationen. Im Bereich der Wirtschaft wimmelt es von diesbezüglichen Beschwörungsformeln. Da wird beispielsweise von der "Firmenkultur" geschwärmt, in Umsatz- und Börsenberichten lobt oder tadelt man die "Unternehmenskultur". Mit tels corporate culture soll die corporate identity befördert werden. In einer überregionalen deutschen Tageszeitung beschäftigte sich im Mai 2001 ein namhafter Unternehmer sogar mit der Frage der "Eigenkapitalkultur revolution". Der als ,,Ausdauerunternehmer" apostrophierte Schreiber hatte in den Jahrzehnten zuvor wirtschaftspolitisch viel von sich Reden 10 gemacht. Nun warf er das Wortungetüm "Eigenkapitalkulturrevolution" in die Debatte. Gibt es in Deutschland eine neue "Eigenkapitalkultur", überlegte er, nachdem er in der Überschrift schon formuliert hatte, daß unternehmerische Freiheit wieder erstrebenswert sei. "Was wollen wir überhaupt unter einem solchen Begriff verstehen", fragte der Unterneh mer, wie kommt es dazu, "daß eine neue Eigenkapitalkultur entsteht?" Was hier mit "Kultur" gemeint ist, wird im Laufe des Textes auf indirekte Weise gesagt, indem von "Selbstverantwortung" die Rede ist und die "Ei geninitiative" - gemeint ist natürlich die wirtschaftliche - gerühmt wird. Die "Eigenkapitalkultur" , so heißt es schließlich, "beruht darauf, daß hochprofessionelle Anbieter wie Investmentbanken, Fondsgesellschaften, Beteiligungsunternehmen oder auch Venture Capitalists die Vermö gensanlage übernehmen". Es geht also um wirtschaftliche "Kultur"; das Ziel lautet: bessere Kapitalrendite. Die neue "Eigenkapitalkultur" ent steht durch private "Unternehmensbeteiligungen", durch den Aufbau von "privaten Beteiligungsgesellschaften". Das Ergebnis dieser Initiative ist eine - so heißt es wörtlich - "veränderte Eigenkapitalkultur" , eine "moderne Unternehmenskultur": "Die neue Eigenkapitalkultur verlangt und fördert unternehmerisches Denken. ,,2 Es ist also deutlich, was hier gemeint wird. Es geht um privates, per sönliches Unternehmertum und das Wortungetüm "Eigenkapitalkultur revolution" soll dies unterstreichen. Die dabei verwendete Reihenfolge der Teilbegriffe entlarvt den inzwischen zeittypischen Sprachgebrauch. "Eigen" am Anfang - es dreht sich alles um das unternehmerische Ich, den persönlichen Vorteil, nicht um ein wie auch immer geartetes produ zierendes, handelndes, jedenfalls kooperierendes Wir. Diese Selbstbezüg lichkeit mag bezeichnend sein für unseren kulturellen und zivilisatori schen Zustand: Vorrang hat das "Ego". Zum zweiten geht es um "Kapi tal", um Kapitalverwendung, um den Einsatz von Geld, der natürlich profitabel sein, Gewinne abwerfen soll. Aber was - so hätten wir zu fra gen - ist dann in dem Zusammenhang "Kultur"? Warum überhaupt "Kultur" bemühen? Das bleibt offen, denn der Ausdruck "Kultur" wird hier gar nicht weiter inhaltlich gefüllt, sondern nur auf "Wirtschaftli ches" bezogen, ist also ein entleerter Begriff, ein hohler Legitimationsbe griff, ein Pseudobegriff. Ähnliches trifft auf den Terminus "Revolution" zu. Ob ein prominenter Unternehmer, einer der Wirtschaftsführer auch im Außenhandel Deutschlands, die Formulierung "Revolution" in einer der größten deutschen Tageszeitungen wohl vor dreißig oder vierzig Jah ren verwendet hätte? Wahrscheinlich hätte er dieses Wort verabscheut, zumal im Zusammenhang mit "Kultur", denn "Kultur-Revolution" er- 11 innerte seinerzeit an China, an unruhige Hochschulen, an aufmüpfige Studenten, und es galt auch in Deutschland als Teufelswort. Es bezeich nete eine Realität, die abgelehnt wurde, und die noch in dem hier zitierten Text - wohl aufg rund der angestammten Berührungsangst - nur in der Überschrift auftaucht. Das Beispiel offenbart freilich, in welcher Weise das Wort "Kultur" Konjunktur gemacht hat: als ein diffuser Begriff, der ent leert ist, der in Zusammenhängen verwendet wird, in denen er eigen tümlich inhaltslos anmutet, beinahe nur noch als Füllsel erscheint, als bloßes Versatzstück, das in irgendwelchen Hinsichten legitimatorisch be nutzt wird, ohne daß nach dem historischen Sinn oder den gegenwärti gen Aufgaben von Kultur überhaupt gefragt wird. Eine solche Verwendung scheint bezeichnend für die Veränderung, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit dem Substantiv "Kultur" zugetragen hat. Unübersehbar ist die weitgehende Ausdehnung seiner Bedeutung, des semantischen Feldes, das von ihm abgedeckt wird oder abgedeckt werden soll. "Kultur" hat inflationäre Züge bekommen, ist in Mode geraten, überall einsetz- und benutzbar, und sie ist zum Modethe ma avanciert. Wir reden im Alltagsgebrauch etwa von der "Spaßkultur" - in den Feuilletons läßt sich viel darüber lesen - man spricht von der "Un terhaltungskultur", von der "Medienkultur" und dergleichen mehr. Gele gentlich fusionieren Kultur, Kommerz und Kirmes als Orientierungspole sogar in den Debatten über die Befindlichkeit unserer Gesellschaft: auch dies ein - wohl nicht nur narratives - Exempel für den viel beredeten "Synkretismus". "Kultur" ist also - wenn man solche und weitere Beispiele betrachtet - zu einem ominösen Terminus mutiert. Doch auch früher schon galt "Kultur" als schillerndes Wort und als ein vieldeutiges Projekt der europäischen Menschen. Ohne Zweifel aber war Kultur - und dies hat die unselige politische Debatte des Jahres 2000 noch einmal offen bart - nie nur deutsch. Sie existierte immer international, wurde euro paweit gedacht und entfaltete sich als europäische Leistung. Kultur voll zog sich nie nur ökonomisch oder bloß intellektuell oder vorwiegend künstlerisch, sondern ihr Konzept umfaßte vieles über diese Teilsektoren hinaus. Schon das Wort selbst ist weder seinem Ursprung noch seinem Sinn nach "typisch deutsch". Sondern diese Bezeichnung ist bekanntlich römisch-lateinischen Ursprungs mit einer griechischen Wurzel, cultura eben. Bereits Johann Christoph Adelung, Verfasser der ersten deutsch sprachigen Kulturgeschichte, erkannte 1782, daß in der Übernahme die ses Ausdrucks Eigenes mit Fremdem zusammenlief, daß aber gerade da durch jenes spannende Gemenge entstand, das ihn veranlaßte, den einzig richtigen Schluß zu ziehen: "Gerne hätte ich für das Wort Cultur einen 12
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