Gewalt bestimmte und bestimmt als conditio humana alle Kul- Claudia Garnier (Hg.) turen auf die unterschiedlichste Art und Weise. Der Band bietet Perspektiven der historischen und rechtshistorischen Forschung Konzepte und Funktionen zudiesemThemaundgreiftdieunterschiedlichenErscheinungs- formen mittelalterlicher Gewalt ebenso auf wie normative und r politische Diskurse über die Rechtmäßigkeit ihrer Anwendung. e der Gewalt im Mittelalter t l AusdieserPerspektiveverstehtersichalsBeitragzurDiskussion a l e über die spezifischen Formen, Praktiken und Konzepte mittelal- t t i M terlicherGewaltundihrerWahrnehmung. m Claudia Garnier ist Professorin für Geschichte der Vormoderne i t l anderUniversitätVechta.IhreForschungsschwerpunktesindpo- a w litische Kommunikation, Netzwerkbildung und Konfliktführung e G imMittelalter. r e d n e n o i t k n u F d n u e t p e z n o K ) . g H ( r e i n r a G a i d u a l C 978-3-643-14646-5 9*ukdzfe#yvnvnb* Geschichte:ForschungundWissenschaft LIT LIT www.lit-verlag.de LIT ClaudiaGarnier(Hg.) Konzepte und Funktionen der Gewalt im Mittelalter G E S C H I C H T E Forschung und Wissenschaft Band 72 LIT Claudia Garnier (Hg.) Konzepte und Funktionen der Gewalt im Mittelalter LIT Umschlagbild: „DieboldSchilling-Chronik1513“ EigentumKorporationLuzern (Standort:ZHBLuzern,Sondersammlung) (cid:0) (cid:0) GedrucktaufalterungsbeständigemWerkdruckpapierentsprechend ANSIZ3948 DINISO9706 BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind imInternetüberhttp://dnb.dnb.deabrufbar. ISBN978-3-643-14646-5(br.) ISBN978-3-643-34646-9(PDF) L © ITVERLAGDr.W.Hopf Berlin 2021 Verlagskontakt: Fresnostr.2 D-48159Münster Tel.+49(0)251-620320 E-Mail:[email protected] https://www.lit-verlag.de Auslieferung: Deutschland:LITVerlag,Fresnostr.2,D-48159Münster Tel.+49(0)251-6203222,E-Mail:[email protected] Inhalt CLAUDIA GARNIER Konzepte und Funktionen der Gewalt im Mittelalter. Zur Einführung…..7 GERD ALTHOFF Karl der Große und die Frage der Gewalt………………………………13 HEINER LÜCK „Unrechte“ und „rechte“ Gewalt. Beobachtungen zur gegenseitigen Bedingtheit zweier zentraler Kategorien im Text und in den Glossen des Sachsenspiegels……………………………………………………..37 HERMANN KAMP Exzessive Gewalt gegen Fremde. Ihre Darstellung und Bewertung in der Geschichtsschreibung um 1300…………………………………..65 STEFFEN KRIEB Wie gewalttätig war die spätmittelalterliche Fehdeführung? Zum Wandel der Handlungsmuster gewaltsamen Konfliktaustrags um 1500…………………………………………………………………99 HENDRIK BAUMBACH Der König befiehlt Gewalt. Typologie, Aufbau und Sprache königlicher Gewaltaufforderungen in Konflikten aus dem römisch-deutschen Reich des 15. Jahrhunderts……………………….129 CLAUDIA GARNIER Metaphern von Tod und Vernichtung. Zur Funktion von Sprache und Gewalt im späten Mittelalter…………………………….165 Konzepte und Funktionen der Gewalt im Mittelalter Zur Einführung Claudia Garnier Gewalt bestimmte und bestimmt alle menschlichen Kulturen auf die unter- schiedlichste Art und Weise. Sie gilt als conditio humana und stellt für kul- tur-, gesellschafts- und rechtswissenschaftliche Disziplinen ein zentrales Forschungsparadigma dar. Gegenstand der Analyse in den unterschiedli- chen Disziplinen sind nicht nur Beschreibungen verschiedener Erschei- nungsformen von Gewalt, sondern vor allem die jeweiligen zeit- und kul- turspezifischen Wahrnehmungen und Deutungen.1 Der Gewaltbegriff kann eng oder weit gefasst werden. Während sich das engere Verständnis vor allem auf die körperliche Gewalt bis hin zur Tötung bezieht,2 nimmt eine eher weiter ausgelegte Vorstellung auch andere For- men der Beeinträchtigung in den Blick: so die Zerstörung der materiellen Lebensbasis oder die Schädigung der sozialen Existenz. Letztere kann vom temporären Ausschluss aus einer Gruppe bis hin zur totalen Exklusion aus der Gesellschaft reichen. Auch Beleidigungen oder sprachliche Diskrimi- nierung gefährden die soziale Integrität. Sprachliche Gewalt spielt neben der körperlichen Gewaltpraxis stets eine zentrale Rolle. Auch wenn Spra- che als Form der „kulturellen Gewalt“ von der körperlichen abgegrenzt wird, kann sie sich durch die Verletzung von Ehre und Status mitunter ebenso dramatisch auf die Situation der Betroffenen auswirken. Mit physi- scher Gewalt vergleichbar kommt sprachliche Gewalt durchaus zielgerich- tet zum Einsatz.3 In diesem Sinne bietet die soziologische Gewaltforschung ein hilfreiches Strukturierungsmodell, die das Thema in den vergangenen Jahrzehnten aus unterschiedlichsten Perspektiven in den Blick genommen hat. Hervorzu- heben ist etwa Heinrich Popitz, der in seinen Studien Gewalt als zentrales 1 Eine allgemeine Bestandsaufnahme der historischen Gewaltforschung bei Loetz 2019. Zum europäischen Mittelalter Mensching 2003; Bulst/Schuster 2004; Braun/Herberichs 2005; Brown 2011. 2 Für die mittelalterlichen Jahrhunderte etwa der Zugriff bei Braun/Herberichs 2005; Skoda 2013; Mauntel 2014. 3 Eming/Jarzebowski 2008; Lobenstein-Reichmann 2013; Müller 2017; vgl. in diesem Band den Beitrag von Claudia Garnier. 8 Claudia Garnier Element der Machtausübung, als strategisch eingesetztes Mittel innerhalb bestimmter sozialer Ordnungen begreift. Gewalt begegnet hier allgemein gefasst als „Aktionsmacht“, die „anderen in einer gegen sie gerichteten Ak- tion Schaden zufügen“ kann.4 Physische Gewalt ist aus dieser Perspektive nur eine ihrer möglichen Erscheinungsformen. Auch der vorliegende Band versteht sich als Beitrag zu einem weiter gefassten Gewaltbegriff, indem er nicht nur die unterschiedlichen Typen physischer Maßnahmen in den Blick nimmt, sondern auch die Schädigung der sozialen Integrität. Vormodernen Gesellschaften galt Gewalt als zentrales Element der Machtausübung, als strategisch eingesetztes Mittel innerhalb bestimmter sozialer Ordnungen. Sie diente ihrer Stabilisierung ebenso, wie sie im Sinne des politischen Widerstandes ihre Existenz gefährden oder transformieren konnte.5 Die Aufrechterhaltung einer solchen Gemeinschaft bedurfte jedoch wiederum der Gewalt: Gewaltreduktion kam nicht ohne Gewalt oder zumindest ihre Androhung aus. Allerdings ergab sich daraus eine spezifizierte Form der Gewaltanwendung, indem zwischen der durch die soziale Ordnung erlaubten und der unerlaubten Gewalt unterschieden wurde. Gewalt begegnete zum einen in Gestalt der potestas, also der Durchsetzung von Macht und Herrschaft6 und zum andern in Form individueller Gewaltanwendung (violentia). Während es sich bei der potestas um eine an Recht und Herrschaft geknüpfte und somit sozial lizenzierte Form der Gewalt handelte, stand die violentia in der Regel im Widerspruch zum Recht, war also eine illegitime Form der Gewaltanwendung.7 Einen erheblichen Beitrag zur Reduktion unkontrollierter Gewalt und zur Wahrnehmung „rechter“ oder „unrechter“ Gewaltpraxis leisteten die jeweiligen Rechtsordnungen. Menschliche Gruppen können ohne ein Minimum von verbindlichen Verhaltensregeln nicht existieren, die ihren Mitgliedern eine möglichst konfliktfreie Koexistenz ermöglichen oder im Falle von Auseinandersetzungen eine verlässliche Grundlage der 4 Popitz 21992, 43. 5 Zur Gewalt im politischen Widerstand des Mittelalters Kintzin- ger/Rexroth/Rogge 2014. 6 Zur herrscherlich bzw. königlich praktizierten und autorisierten Gewalt vgl. in diesem Band die Beiträge von Gerd Althoff und Hendrik Baumbach. 7 Braun 2005. Zu „rechter“ und „unrechter Gewalt“ vgl. in diesem Band den Beitrag von Heiner Lück. Zur Einführung 9 Streitbeilegung bieten. An diese Überlegungen knüpft sich nahezu zwangsläufig die Frage an, in welcher Form eventuelle Verstöße gegen die Rechts- und Friedensgemeinschaft sanktioniert wurden und wie der Einzelne gezwungen wurde, sich diesen Maßnahmen zu beugen. Nicht selten erfolgte dies über obrigkeitlich lizensierte Gewalt (potestas): vom Freiheitsentzug über körperliche Strafen bis hin zur Exekution. Die violentia begegnete hingegen als kontrafaktisches Element, das es in politischen und gesellschaftlichen Ordnungen zu bekämpfen galt. Ob indes im Einzelfall die Ausübung von Gewalt als legitim oder ungerechtfertigt galt, hing nicht nur von der entsprechenden Rechtsordnung, sondern maßgeblich von der Perspektive der Akteure ab. Gerade in Situationen politischer Umbrüche oder konkurrierender Herrschaftsansprüche ließ sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Gewaltausübung nur perspektivisch beantworten. Aus dem jeweiligen Blickwinkel betrachtet, konnte Gewalt entweder als legitime Verteidigungsstrategie oder als unrechtmäßige Erhebung gewertet werden.8 Dass Gewalt in Form der violentia durch staatliche Verdichtungs- und politische Institutionalisierungsprozesse immer weiter eingegrenzt wurde, galt über einen langen Zeitraum hinweg als etabliertes Narrativ. Dieser Einschätzung liegen vor allem Überlegungen zur Zivilisationstheorie zugrunde: Durch eine zunehmende Disziplinierung – so deren zentrale Erkenntnis – seien Affekte und Triebe gemindert worden, so dass im Verlauf der Frühen Neuzeit die violentia des im Mittelalter noch weitestgehend affektunkontrollierten Menschen deutlich reduziert worden sei. Diese Vorstellung läuft auf eine lineare Reduktion der individuellen Gewaltanwendung hinaus, so dass in erster Linie die Dysfunktionalität der violentia in der politischen Ordnung des Mittelalters beschrieben wurde.9 8 Dies zeigt in diesem Band der Beitrag Hermann Kamps am Beispiel der Er- hebungen gegen Fremdherrschaft, deren Bewertung maßgeblich davon ab- hing, ob der jeweilige Machthaber als Tyrann und Usurpator oder als recht- mäßiger Herrscher angesehen wurde. 9 Elias 1997; vgl. zu diesem Konzept Dinges 1998; Schwerhoff 1998. Die Perspektive der Gewaltreduktion in der Neuzeit auch bei Pinker 2011. Gegen diesen Ansatz v.a. Sofsky 32001, der in kulturellen Entwicklungsprozessen keine Minderung, sondern eine Potenzierung physischer Gewalt sieht.