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Konterrevolution und Revolte PDF

77 Pages·1973·3.469 MB·German
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Herbert Marcuse Konterrevolution und Revolte Herbert Marcuse, geboren am 19. Juli 1898 in Berlin, ist Professor der Philosophie an der University of California (USA). Schriften: Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Ge­ schichtlichkeit 1932; Reason and Revolution 1941 (dtsch.: Vernunft und Revolution 1962); Eros and Civilization 1955 (dtsch.: Trieb­ struktur und Gesellschaft 1966); Sovjet Marxism 1958 (dtsch.: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus 1964); One- DimensionalMan 1964 (dtsch.: Der eindimensionale Mensch 1967); Kultur und Gesellschaft I und II 1965; Kritik der reinen Toleranz (gemeinsam mit R. P. Wolff und B. Moore) 1966; Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft 1969; An Essay on Liberation 1969 (dtsch.: Versuch über die Befreiung 1969). Herbert Marcuse, der in den sechziger Jahren das Handlungsmodell der Studentenbewegung in den USA und in Europa maßgeblich mitformuliert hat, legt mit seinem neuen Buch sowohl eine Analyse der Geschichte des Protests als auch eine kritische Darstellung sei­ ner inhaltlichen Konzeption vor. Er erläutert die sozialpsycholo­ gischen und philosophischen Momente von Emanzipation, Gegen­ Suhrkamp Verlag macht, radikalem Denken und Handeln. Titel der Originalausgabe: Counterrevolution and Revolt Inhalt Unter Mitwirkung von Alfred Schmidt aus dem Englischen übersetzt von R. & R. Wiggershaus Autorisierte Übersetzung 1 Die Linke angesichts der Konterrevolution 7 2 Natur und Revolution 72 3 Kunst und Revolution 95 4 Schluß 149 edition suhrkamp 591 2. Auflage, 16.-27. Tausend 1973 © 1972 by Herbert Marcuse. © der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1973. Deutsche Erstausgabe. Printed in Germany. Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags und der Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen, auch einzelner Teile. Satz, in Linotype Garamond, Druck und Bindung bei Georg Wagner, Nördlingen. Gesamtausstattung: Willy Fleckhaus. To Inge 1 Die Linke angesichts der Konterrevolution again and again I Die westliche Welt hat eine neue Entwicklungsstufe erreicht: die Verteidigung des kapitalistischen Systems ver­ langt heute die Organisierung der Konterrevolution inner­ halb wie außerhalb des eigenen Bereichs. In ihren extremen- Erscheinungsformen setzt diese Konterrevolution die Greu­ eltaten des Nazi-Regimes fort. In Indochina, Indonesien, dem Kongo, in Nigeria, Pakistan und dem Sudan wurden entsetzliche Massaker entfesselt, die sich gegen alles richte­ ten, was »kommunistisch« genannt wird oder gegen die den imperialistischen Ländern dienstbaren Regierungen revol­ tiert. In den lateinamerikanischen Ländern, in denen faschi­ Danksagung stische und Militär-Diktaturen herrschen, finden grausame Meine Freunde Leo Löwenthal (University of California in Berke­ Verfolgungen statt. In der ganzen Welt sind Folterungen ley) und Arno J. Meyer (Princeton University) lasen und kommen­ zum alltäglichen Mittel bei »Verhören« geworden. Die tierten das Manuskript gründlich. Eingehende Diskussionen mit Andre Gorz halfen mir bei der Klärung meiner Ansichten. Qualen der Religionskriege leben auf der Höhe westlicher Meinem unentbehrlichen Freund Barrington Moore jr. habe ich das Zivilisation wieder auf, und ein ununterbrochener Strom Manuskript diesmal, im Gegensatz zu sonst, nicht gezeigt. Er war von Waffen ergießt sich aus den reichen Ländern in die von der Arbeit an seinem eigenen neuen Buch in Anspruch genom­ armen und hilft, die Unterdrückung der nationalen und men, das, so hoffe ich, von einem großen Publikum gelesen werden sozialen Befreiungsbewegungen zu verewigen. Wo der wird. Für mich bedeutet es eine notwendige Korrektur meiner Widerstand der Armen gebrochen ist, führen Studenten den Arbeit. Kampf gegen die Soldateska und die Polizei; Hunderte von Die meisten der in diesem Buch entwickelten Gedankengänge habe Studenten wurden niedergemetzelt, durch Bomben getötet ich erstmals in Vorlesungen vorgetragen, die ich 1970 an der Prince­ und ins Gefängnis geworfen. Die Erschießung von dreihun­ ton University und an der New School für Social Research in New dert durch die Straßen von Mexico-City gejagten Studenten York City hielt. Der Hartford Arts Foundation danke ich für eine Unterstützung, die mir die Ausarbeitung meiner Gedanken zur bildete den Auftakt der Olympischen Spiele. In den Verei­ Kunst im 3. Kapitel ermöglichte. nigten Staaten stehen die Studenten noch immer an der Arnold C. Tovell und der Beacon Press danke ich für langjährige vordersten Front des radikalen Protests: die Erschießungen zuverlässige und angenehme Zusammenarbeit. in Jackson und Kent sind Zeugnis ihrer historischen Rolle. Schwarze Militante bezahlten ihre kritische Einstellung mit Le Tignet, Alpes Maritimes, Sommer 1971 dem Leben: Malcolm X, Martin Luther King, Fred Hamp- 7 ton, George Jackson. Die neue Zusammensetzung des Ober­ mäßigen Entwicklung des Kapitalismus verschieden aus. In sten Bundesgerichts institutionalisiert das Vordringen der ihren fortgeschrittensten Tendenzen könnte diese Revolu­ Reaktion. Und die Ermordung der Kennedys zeigt, daß tion das repressive Kontinuum durchbrechen, das bis heute sogar Liberale ihres Lebens nicht sicher sein können, wenn den sozialistischen Aufbau wettbewerbsmäßig an den kapi­ sie als allzu liberal erscheinen. talistischen Fortschritt kettet. Ohne diese mörderische Kon­ Die Konterrevolution ist weitgehend präventiv; in der west­ kurrenz könnte der Sozialismus die Fetischisierung der lichen Welt ist sie das ausschließlich. Hier gibt es keine »Produktivkräfte« überwinden. Er könnte die Unterord­ neuere Revolution, die rückgängig gemacht werden müßte, nung des Menschen unter seine Arbeitsinstrumente allmäh­ und es steht auch keine bevor. Und doch schafft die Angst lich verringern, die Produktion mit dem Ziel, die entfrem­ vor einer Revolution gemeinsame Interessen und verbindet dete Arbeit abzuschaffen, neu organisieren und auf den ver­ verschiedene Stadien und Formen der Konterrevolution von schwenderischen und versklavenden Komfort der kapitali­ der parlamentarischen Demokratie über den Polizeistaat bis stischen Konsumgesellschaft verzichten. Nicht länger dazu hin zur offenen Diktatur. Der Kapitalismus reorganisiert verdammt, sich im Kampf ums Dasein durch Aggressivität sich, um der Gefahr einer Revolution zu begegnen, welche und Unterdrückung zu behaupten, wären die Individuen die radikalste aller historischen Revolutionen wäre: die endlich imstande, eine technische und natürliche Umwelt zu erste wahrhaft weltgeschichtliche Revolution. schaffen, in der nicht länger Gewalt, Häßlichkeit, Be­ Der Sturz der kapitalistischen Übermacht würde den schränktheit und Brutalität dominierten. Hinter diesen vertrauten Zügen eines noch ausstehenden Zusammenbruch der Militärdiktaturen in der Dritten Welt Sozialismus steht die Idee des Sozialismus selbst als einer herbeiführen, die völlig von dieser Übermacht abhängen. qualitativ anderen Totalität. Das sozialistische Universum Sie würden abgelöst nicht von einer nationalen »liberalen« ist zugleich ein moralisches und ästhetisches Universum: der Bourgeoisie (die in den meisten dieser Länder die neokolo­ dialektische Materialismus enthält den Idealismus als Ele­ nialen Abhängigkeiten von der ausländischen Macht akzep­ ment sowohl der Theorie als auch der Praxis. Die herr­ tiert), sondern von einer Regierung der Befreiungsbewegun­ schenden materiellen Bedürfnisse und Befriedigungen wer­ gen, die ihre Aufgabe darin sehen, längst überfällige radi­ den geprägt — und kontrolliert — durch die Erfordernisse der kale soziale und ökonomische Veränderungen herbeizufüh­ Ausbeutung. Der Sozialismus muß die Menge der Güter und ren. Die chinesische und die kubanische Revolution könnten Dienstleistungen vergrößern, um die Armut abzuschaffen; sich endlich unbehindert entwickeln — befreit von der erdrückenden Blockade und der ebenso erdrückenden Not­ gleichzeitig aber muß die sozialistische Produktion auch die wendigkeit, einen immer kostspieligeren Verteidigungsap­ Qualität des Daseins — die Bedürfnisse und Befriedigungen parat zu unterhalten. Könnte in einem solchen Falle die selbst — verändern. Moralische, psychologische, ästhetische sowjetisch bestimmte Welt lange immun bleiben oder eine und intellektuelle Fähigkeiten, die heute — sofern sie sich solche Revolution langfristig »eindämmen«? überhaupt entfalten — einem kulturellen Bereich zugewiesen Außerdem wäre die Revolution in den kapitalistischen Län­ werden, der vom materiellen Dasein getrennt und abgeho­ dern selbst qualitativ verschieden von ihren mißglückten ben ist, würden dann zu wesentlichen Faktoren der mate­ Vorgängerinnen. Diese Differenz fiele infolge der ungleich­ riellen Produktion selbst. 8 9 Daß diese integrale Idee des Sozialismus heute maßgebend Mehrheit aus der Klasse der »blue collar«-Arbeiter zusam­ wird für die Theorie und Praxis der radikalen Linken, ist die mensetzt, richtet sich diese Feindseligkeit gleichermaßen historische Antwort auf die gegenwärtige Entwicklung des gegen die Alte wie die Neue Linke; in Frankreich und in Kapitalismus. Das von Marx für den Aufbau einer sozialisti­ Italien, wo die marxistische Tradition der Arbeiterbewe­ schen Gesellschaft vorausgesetzte Produktionsniveau ist in gung noch lebendig ist, ist der größere Teil der Arbeiter­ den technisch fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern klasse der Kommunistischen Partei oder den Gewerkschaf­ längst erreicht, und eben diese Errungenschaft (die »Kon­ ten verbunden. Ist das nur auf die schlechten Lebensbedin­ sumgesellschaft«) dient dazu, die kapitalistischen Produk­ gungen dieser Klasse zurückzuführen, oder auch auf die tionsverhältnisse aufrechtzuerhalten, sich der Unterstüt­ kommunistische Politik mit ihrem demokratisch-parlamen­ zung der Bevölkerung zu vergewissern und die rationale tarischen Minimalprogramm, das einen (relativ) friedlichen Grundlage des Sozialismus zu diskreditieren. Übergang zum Sozialismus verspricht? Wie dem auch sei, Natürlich war es dem Kapitalismus niemals möglich und diese Politik verheißt der Arbeiterklasse eine beträchtliche wird ihm auch niemals möglich sein, seine Produktionsver­ Verbesserung ihrer gegenwärtigen Lage — um den Preis, daß hältnisse in Einklang mit seiner technischen Kapazität zu die Aussicht auf Befreiung sich verringert. bringen; eine Mechanisierung, die es zunehmend erlaubte, Nicht nur die Orientierung an der UdSSR, sondern bereits menschliche Arbeitskraft dem materiellen Produktionspro­ die Prinzipien dieser aufrechterhaltenen Minimalstrategie zeß zu entziehen, würde schließlich das Ende des Systems selbst ebnen den Unterschied zwischen der etablierten und bedeuten.1 Aber der Kapitalismus kann die Produkti­ der neuen Gesellschaft ein: der Sozialismus erscheint nicht vität der Arbeit steigern bei gleichzeitiger Vergrößerung der mehr als die bestimmte Negation des Kapitalismus. Konse­ Abhängigkeit der Bevölkerung. Das Gesetz des kapitalisti­ quenterweise lehnt diese Politik die revolutionäre Strategie schen Fortschritts liegt in der Gleichung: technischer Fort­ der Neuen Linken ab und muß sie ablehnen, eine Strategie, schritt = wachsender gesellschaftlicher Reichtum (wachsen­ die auf einem Begriff von Sozialismus beruht, der den Bruch des Bruttosozialprodukt) = größere Knechtschaft. Die Aus­ — und zwar von Anbeginn — mit dem Kontinuum der Abhän­ beutung rechtfertigt sich damit, daß die Warenwelt und das gigkeit beinhaltet: das Entstehen der Selbstbestimmung als Angebot an Dienstleistungen sich ständig vermehren - die Prinzip des Umbaus der Gesellschaft. Aber diese Ziele und Opfer gehören zu den laufenden Unkosten, zu den »Unfäl­ diese radikale Strategie sind auf kleine Gruppen beschränkt, len« auf dem Weg zum guten Leben. die eher mittelständisch als proletarisch sind, während ein So ist es kein Wunder, daß dort, wo die kapitalistische Tech­ großer Teil der Arbeiterklasse zu einer Klasse der bürgerli­ nostruktur noch einen relativ hohen Lebensstandard und chen Gesellschaft geworden ist. eine gegen öffentliche Kontrolle faktisch immune Macht­ Zusammenfassend kann man sagen: der höchsten Stufe der struktur ermöglicht, die Bevölkerung dem Sozialismus inter­ kapitalistischen Entwicklung entspricht in den fortgeschrit­ esselos, wenn nicht gar feindlich gegenübersteht. In den tenen kapitalistischen Ländern ein Tiefstand revolutionären Vereinigten Staaten, wo sich »das Volk« in seiner großen Potentials. Das ist durchaus bekannt und brauchte nicht wei­ i Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, ter diskutiert zu werden, wenn sich hinter dieser (allerdings S. 593. sehr realen) Erscheinung nicht eine ganz anders geartete IO Realität verbärge. Die innere Dynamik des Kapitalismus meine Lage der Arbeiterklasse in der Gesellschaft der Ent­ verändert mit der Struktur des Kapitalismus auch die der wicklung eines solchen Bewußtseins entgegen. Die Integra­ Revolution: weit davon entfernt, die potentielle Massenba­ tion des größten Teils der Arbeiterklasse in die kapitalisti­ sis für eine Revolution zu schmälern, verbreitet sie sie viel­ sche Gesellschaft ist kein Oberflächenphänomen, sondern mehr und erheischt das Wiederaufleben der radikalen an ist im Unterbau, in der politischen Ökonomie des Monopol­ Stelle der minimalen Ziele des Sozialismus. kapitalismus begründet: die Arbeiterklasse der Metropole Eine angemessene Interpretation des paradoxen Verhältnis­ profitiert von den Überprofiten, von neokolonialer Ausbeu­ ses zwischen dem zerstörerischen Wachstum des Kapitalis­ tung, der Rüstung und den ungeheuren Subventionen der mus und dem (offensichtlichen und tatsächlichen) Nieder­ Regierung. Daß diese Klasse viel mehr als ihre Ketten zu gang des revolutionären Potentials würde eine gründliche verlieren hat, mag trivial sein, ist aber gleichwohl richtig. Analyse der neoimperialistischen, globalen Reorganisation Man macht es sich zu leicht, wenn man die These von der des Kapitalismus erfordern. Dazu gibt es bereits größere tendenziellen Integration der Arbeiterklasse in die fortge­ Beiträge.2 Ich werde hier versuchen, auf der Grundlage die­ schrittene kapitalistische Gesellschaft damit zu entkräften ses Materials die allgemeinen Aussichten für eine radi­ sucht, daß diese Veränderung nur die Sphäre der Konsum­ kale Veränderung in den Vereinigten Staaten zu diskutie­ tion betreffe und die »strukturelle Definition« des Proleta­ ren. riats unberührt lasse.3 Die Konsumsphäre ist eine Dimen­ sion des gesellschaftlichen Seins des Menschen und bestimmt als solche sein Bewußtsein, das wiederum ein Faktor ist, der sein Verhalten und seine Einstellung zur Arbeit wie zur II Freizeit prägt. Das politische Potential steigender Erwar­ Das Vorherrschen eines nicht-revolutionären, ja antirevolu­ tungen ist wohlbekannt. Die Konsumsphäre mit ihren umfas­ tionären Bewußtseins bei der Mehrheit der Arbeiterklasse senden gesellschaftlichen Aspekten von der Strukturana­ springt in die Augen. Natürlich hat sich revolutionäres lyse auszuschließen, verstieße gegen das Prinzip des dialek­ Bewußtsein immer nur in revolutionären Situationen tischen Materialismus. Freilich ist die Integration der Arbei­ gezeigt; aber im Unterschied zu früher steht heute die allge­ terklasse in einem anderen Sinn ein Oberflächenphänomen: sie verbirgt die desintegrierenden, zentrifugalen Tenden­ 2 Cf. beispielsweise Paul A. Baran und Paul M. Sweezy, Monopoly Capita- zen, deren Erscheinungsform sie selbst ist. Diese zentrifuga­ lism, New York 1966 (dt.: Monopolkapital, Frankfurt/M. 1967); Joseph M. len Tendenzen wirken nicht außerhalb des integrierten Gillman, Prosperity in Crisis, New York 1965; Gabriel Kolko, Wealth and Bereichs, sondern gerade in ihm erzeugt die monopolistische Power in America, New York 1962 (dt.: Besitz und Macht - Sozialstruktur Wirtschaft Bedingungen und Bedürfnisse, die den kapitali­ und Einkommensverteilung in den USA, Frankfurt/M. 1967)’ Harry Mag- stischen Rahmen zu sprengen drohen. Ich möchte nur an die doff, The Age of Imperialism, New York 1969 (dt.: Das Zeitalter des Impe­ rialismus, Frankfurt/M. 1970); G. William Domhoff, Who rules Americaf, später zu erörternde klassische These erinnern, daß der Englewood Cliffs 1967. »Bürgerliche« Ökonomen wie A. A. Berle und John Kenneth Galbraith stimmen, was die Fakten betrifft, mit den Marxisten in 3 Cf. u. a. Kritikern Ernest Mandel, Workers and Permanent Revolution, in: erstaunlichem Maß überein. Eine repräsentative Anthologie: Maurice Zeitlin George Fisher (Hrsg.), The Revival of American Imperialism, New York (Hrsg.), American Society, Inc., Chicago 1970. 1971, S. 170 ff. !3 überwältigende Reichtum des Kapitalismus seinen Zusam­ mit diesen überein: das reformistische oder konformistische menbruch herbeiführen wird. Wird die Konsumgesellschaft Bewußtsein entspricht der erreichten Stufe des Kapitalismus seine letzte Stufe, sein Totengräber sein? und seiner allgegenwärtigen Machtstruktur - ein Zustand, Es scheint kaum Argumente für eine bejahende Antwort auf in dem politisches Bewußtsein und Revolte auf nicht-inte­ diese Frage zu geben. Auf der höchsten Stufe des Kapita­ grierte Minderheiten beschränkt sind, und zwar in der Arbei­ lismus erscheint die dringlichste aller Revolutionen als die terklasse (besonders in Frankreich und Italien) wie in den allerunwahrscheinlichste - die dringlichste, weil das eta­ Mittelschichten. In den objektiven Bedingungen selber liegt blierte System sich nur noch durch die globale Zerstörung die Lösung des Paradoxons der »unmöglichen« Revolu­ der Ressourcen, der Natur, des menschlichen Lebens erhal­ tion. ten kann, und weil die objektiven Bedingungen für seine Die Restabilisierung des Kapitalismus und Neoimperialis­ Beendigung vorliegen. Diese Bedingungen sind: ein die mus, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, ist noch Abschaffung der Armut ermöglichender gesellschaftlicher nicht abgeschlossen — trotz Indochina, trotz der Inflation, Reichtum; das technische Wissen für eine diesem Ziel die­ der internationalen Währungskrise und wachsender nende systematische Entwicklung der Ressourcen; eine herr­ Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten. Dank seiner schende Klasse, die die Produktivkräfte vergeudet, hemmt ökonomischen und militärischen Macht ist das System noch und vernichtet; das zu einer Abnahme des Reservoirs der immer imstande, mit den sich verschärfenden Konflikten Ausbeutung führende Erstarken antikapitalistischer Kräfte innerhalb und außerhalb seines Flerrschaftsbereichs »fertig« in der Dritten Welt; eine riesige Arbeiterklasse, die, von der zu werden. Gerade die beispiellose Leistungsfähigkeit des Kontrolle über die Produktionsmittel ausgeschlossen, einer Kapitalismus des 20. Jahrhunderts wird die Revolution des kleinen parasitären, herrschenden Klasse gegenübersteht. 20. Jahrhunderts hervorbringen — freilich eine Revolution, Aber zur gleichen Zeit kontrolliert das alle Dimensionen der deren Basis, Strategie und Ziel sich von allen bisherigen Arbeit und Freizeit durchdringende Kapital die Bevölke­ Revolutionen, besonders von der russischen, fundamental rung vermittels der von ihm gelieferten Waren und Dienst­ unterscheiden werden. Deren Charakteristika waren die leistungen sowie durch einen politischen, militärischen und Führerschaft einer »ideologisch bewußten Avantgarde«, Polizei-Apparat von erschreckender Effizienz. Die objekti­ eine Massenpartei als ihr »Instrument« und die Proklamie- ven Bedingungen setzen sich nicht in revolutionäres rung des »Kampfes um die Staatsmacht« als grundlegendes Bewußtsein um; das vitale Bedürfnis nach Befreiung wird Ziel. »Es ist kein Zufall, daß es für diese Art der Revolution unterdrückt und bleibt ohnmächtig. Der Klassenkampf voll­ im Westen kein Beispiel gibt. Hier hat das kapitalistische zieht sich in Formen »ökonomischen« Wettkampfs; Refor­ System nicht nur viele der Ziele erreicht, die in den unter­ men werden nicht als Vorstufen zur Revolution betrachtet — entwickelten Ländern die treibende Kraft der modernen der »subjektive Faktor« hinkt nach. Revolutionen waren, sondern durch die konstante Steige­ Es wäre jedoch falsch, diesen Widerstreit zwischen Notwen­ rung des Einkommens, die Komplexität der Verteilungsme­ digkeit und Möglichkeit der Revolution allein unter dem chanismen, die internationale Organisation der Ausbeutung Aspekt einer Divergenz von subjektiven und objektiven ist es dem Kapitalismus auch gelungen, der Mehrheit der Bedingungen zu interpretieren. Jene stimmen weitgehend Bevölkerung eine Existenzmöglichkeit und häufig sogar eine i4 partielle Lösung ihrer unmittelbaren Probleme anzu­ Kontrolle über die Produktionsmittel, damit beschäftigt bieten.«4 sind, Mehrwert zu schaffen und zu realisieren. Der »tertiäre Die zunehmende Befriedigung auch von Bedürfnissen, die Sektor« (Produktion von Dienstleistungen), für die Realisie­ über das Lebensnotwendige hinausgehen, verändert auch rung und Reproduktion des Kapitals seit langem unentbehr­ die Züge der revolutionären Alternative, die nun den Auf­ lich, stellt eine riesige Armee von Gehaltsempfängern. bau einer Gesellschaftsordnung entwirft, die es vermag, Gleichzeitig wird durch den zunehmend technologischen »nicht nur mehr zu produzieren und diese Produkte gerech­ Charakter materieller Produktion die funktionelle Intelli­ ter zu verteilen, sondern auch in anderer Weise zu produzie­ genz in diesen Prozeß einbezogen. Die Basis der Ausbeu­ ren, andere Güter zu produzieren und den zwischenmensch­ tung erweitert sich so über die Fabriken und Geschäfte lichen Beziehungen eine neue Form zu geben«.5 hinaus und umfaßt weit mehr Schichten als nur die Klasse Die im 18. und 19. Jahrhundert durch das Verhältnis von der »blue collar«-Arbeiter.7 Kapital und Arbeit geschaffene Massenbasis existiert heute Die kommunistische Strategie hat den entscheidenden Wan­ in den Metropolen des Monopolkapitals nicht mehr (und del in der Zusammensetzung der Arbeiterklasse schon vor verändert sich allmählich auch in den rückständigen kapita­ langem anerkannt. Die folgende Feststellung ist der Diskus­ listischen Ländern); eine neue Basis ist im Entstehen, die sion der Thesen für den XIX. Kongreß der Kommunisti­ eine Erweiterung und Transformation der historischen Basis schen Partei Frankreichs entnommen: »[...] die Kommu­ infolge der Dynamik der Produktionsweise darstellt. nistische Partei hat niemals die Zugehörigkeit zur Arbeiter­ Auf der jüngsten Stufe der ökonomischen und politischen klasse mit der Ausübung körperlicher Arbeit verwechselt. Konzentration werden die einzelnen kapitalistischen Unter­ [...] Angesichts des gegenwärtigen technologischen Fort- nehmen in* allen Wirtschaftsbereichen den Erfordernissen des Gesamtkapitals untergeordnet. Diese Koordination 7 Die Diskussion über die »neue Arbeiterklasse« wurde durch Serge Mallets vollzieht sich auf zwei eng miteinander verbundenen Ebe­ Buch La Nouvelle classe ouvriere (1963) ausgelöst. Zur neueren Literatur nen: einerseits durch den Bedingungen monopolistischer über dieses Thema gehören J. M. Budish, The Changing Structure of the Working Class, New York 1964; Stanley Aronowitz, Does the United States Konkurrenz unterliegenden gewöhnlichen Wirtschaftspro­ Have a New Working Classf, in: The Revival of American Socialism, 1. c., S. zeß (wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals; 188 ff.; und Andre Gorz, Technique, Techniciens et Lutte des Classes, in: Les Druck auf die Profitrate); andererseits durch »staatliches Temps Modernes, August-September 1971, S. 141 ff. Besonders wichtig ist Management«.6 Infolgedessen werden immer mehr Gorz5 Unterscheidung zwischen den technisch-wissenschaftlichen Arbeitern, die an der Kontrolle über den Produktionsprozeß beteiligt sind und in der Schichten des ehemals unabhängigen Mittelstandes unmit­ Regel faktisch zum Management gehören, und denjenigen, die dieser Hierar­ telbare Diener des Kapitals, die, ausgeschlossen von der chie unterworfen sind. Cf. auch Herbert Gintis, The New Working Class and Revolutionary Youth, in: Socialist Revolution, San Francisco, Mai-Juni 4 Lucio Magri, Parlement ou Conseils (1970), in: II Manifesto: Analyses et 1970. — Mit der Literatur über die Neue Linke und die gegenwärtige Phase Theses . . ., hrsg. v. Rossana Rossanda, Paris 1971, S. 332. des Kapitalismus könnte man bereits eine Bibliothek füllen. Ich möchte nur 5 Ibid. ein Buch erwähnen, das meiner Ansicht nach das klarste, ehrlichste, 6 Cf. Seymour Melman, Pentagon Capitalism, New York 1970. Der Begriff kritischste ist und von zwei jungen Aktivisten geschrieben wurde: A »staatliches Management« enthält allerdings eine zu starke Betonung der Disrupted History: The New Left and the New Capitalism, New York Unabhängigkeit des Staates vom Kapital. 1971. 16 l7 Schritts und der wachsenden Zahl von Nicht-Handarbeitern immer neue Bevölkerungsschichten in den Metropolen und wird es immer schwieriger, Hand- und Kopfarbeit vonein­ in der Dritten Welt zu integrieren, fördern die herrschende ander zu trennen, obwohl die kapitalistische Produktions­ Tendenz des Monopolkapitalismus: die Organisation der weise diese Trennung aufrechtzuerhalten sucht.« Weiter gesamten Gesellschaft in seinem Interesse und nach seinem heißt es, der Marxsche Begriff des »Gesamtarbeiters« sei Bild. nicht identisch mit dem der traditionellen (Lohn empfan­ Der leitenden und organisierenden Kraft des »Gesamtkapi­ genden) Arbeiterklasse: »Der >Gesamtarbeiter< schließt tals« steht die Produktivkraft des »Gesamtarbeiters«10 Gehaltsempfänger ein, die keine Arbeiter sind, wie For­ gegenüber: der einzelne Arbeiter wird zum bloßen Frag­ scher, Ingenieure, Manager etc.« Die heutige Arbeiterklasse ment oder Atom in der gleichgeschalteten Masse der Bevöl­ ist viel umfassender: sie besteht »nicht nur aus den Proleta­ kerung, die, ausgeschlossen von der Kontrolle über die Pro­ riern in der Landwirtschaft, den Fabriken, Bergwerken und duktionsmittel, den gesamten Mehrwert erzeugt. In dieser auf den Baustellen, die den Kern dieser Klasse bilden, Masse spielt die Intelligenz eine entscheidende Rolle nicht sondern auch aus der Gesamtheit jener Arbeiter, die direkt nur im materiellen Produktionsprozeß, sondern auch bei der an der Vorbereitung und am Funktionieren der materiellen stets wissenschaftlicher werdenden Manipulation und Produktion beteiligt sind«. Bei dieser Transformation der Reglementierung des Konsum- und »produktiven« Verhal­ Arbeiterklasse werden ihr nicht nur neue Schichten von tens. Gehaltsempfängern »integriert«, sondern es nehmen auch Der Prozeß der Realisierung des Kapitals bezieht immer »Beschäftigungen, die nicht zum Sektor der materiellen größere Bevölkerungsschichten ein — er erstreckt sich weit Produktion gehörten, produktiven Charakter an«.8 »Die über die »blue collar«-Arbeiter. Marx schon sah die struktu­ Macht des Monopols in der Gesellschaft von heute [artiku­ rellen Veränderungen voraus, die die Basis der Ausbeutung liert sich] nicht in erster Linie im Arbeitsverhältnis, sondern durch das Einbeziehen ehemals »unproduktiver« Arbeiten außerhalb der Fabrik, auf dem Markt, aber auch in allen und Dienste erweitern: »Da mit der Entwicklung der reellen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens. Subsumtion der Arbeit unter das Kapital oder der spezifisch [...] Der Monopolkapitalismus [findet] seine Opfer nicht kapitalistischen Produktionsweise nicht der einzelne Arbei­ allein unter den von ihm Abhängigen [...], so daß jeder ter, sondern mehr und mehr ein sozial kombiniertes Arbeits­ von uns zu irgendeinem Zeitpunkt in das Netz der kapitali­ vermögen der wirkliche Funktionär des Gesamtprozesses stischen Beziehungen gerät, während es nicht ausgeschlossen wird, und die verschiedenen Arbeitsvermögen, die konkur­ ist, daß die unmittelbar von ihm Abhängigen mitunter >weni- rieren, und die gesamte produktive Maschine bilden, in sehr ger Opfers manchmal sogar Nutznießer oder gar poten­ verschiedener Weise an dem unmittelbaren Prozeß der tielle Verbündete sein können.«9 Waren- oder besser hier Produktbildung teilnehmen, der Der erweiterte Ausbeutungsbereich und das Bedürfnis, eine mehr mit der Hand, der andere mehr mit dem Kopf arbeitet, der eine als manager, engineer, Technolog etc., der 8 France Nouvelle, Hebdomadaire Central du Parti Communiste Fran^ais, andere als overlooker, der dritte als direkter Handarbeiter, < 28. Jan. 1970. 9 Lelio Basso, Zur Theorie des politischen Konflikts, Frankfurt 1969, S. 10, 13 f. (Hervorhebungen von mir), geschrieben 1962. 10 Cf. Karl Marx, Das Kapital, 14. Kapitel, 2. Absatz. 19 oder gar bloß Handlanger, so werden mehr und mehr tal, als imperialistisches Kapital. Natürlich unterscheidet Funktionen von Arbeitsvermögen unter den unmittelbaren sich dieser Imperialismus von seinen Vorgängern: es steht Begriff der produktiven Arbeit, direkt vom Kapital ausge- mehr auf dem Spiel als unmittelbare und partikular^ Wirt­ beuteter und seinem Verwertungs- und Produktionsprozeß schaftsinteressen. Wenn die Sicherheit der Nation es heute überhaupt untergeordneter Arbeiter einrangiert. Betrachtet erfordert, dort, wo einheimische herrschende Gruppen nicht man den Gesamtarbeiter, aus dem das Atelier besteht, so gewillt oder imstande sind, Volksbefreiungsbewegungen zu verwirklicht sich materialiter seine kombinierte Tätigkeit vernichten, militärisch, ökonomisch und »technisch« zu unmittelbar in einem Gesamtprodukt, das zugleich eine intervenieren, so deshalb, weil sich das System nicht länger Gesamtmasse von Waren ist, wobei es ganz gleichgültig, ob kraft seiner ökonomischen Mechanismen zu reproduzieren die Funktion des einzelnen Arbeiters, der nur ein Glied vermag. Diese Aufgabe stellt sich einem Staat, dem interna­ dieses Gesamtarbeiters, ferner oder näher der unmittelbaren tional eine militante Opposition »von unten« entgegentritt, Handarbeit steht. Dann aber: Die Tätigkeit dieses Gesamt­ die wiederum anfeuernd auf die Opposition in den Metro­ arbeitsvermögens ist seine unmittelbare produktive Kon­ polen wirkt. Wenn das tödliche Spiel der Machtpolitik heute sumtion durch das Kapital, d. h. also Selbstverwertungspro­ zur wirksamen Kooperation und Aufteilung der Einflußbe­ zeß des Kapitals, unmittelbare Produktion von Mehr­ reiche zwischen den staatssozialistischen und staatskapitali­ wert.«11 stischen Ländern führt, so begegnet diese Diplomatie der Mit der inneren Dynamik des fortgeschrittenen Kapitalis­ gemeinsamen Bedrohung von unten. »Unten« aber sind mus »erweitert sich daher notwendig der Begriff der pro­ nicht nur die Verdammten dieser Erde, sondern auch die duktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbei­ gebildeteren und privilegierteren menschlichen Adressaten ters«12, damit der Arbeiterklasse selbst. Diese Verände­ der Kontrolle und Repression. rung ist nicht nur quantitativ; sie beeinflußt das ganze An der Basis der Pyramide herrscht Atomisierung. Diese Universum des Kapitalismus. verwandelt das ganze Individuum — Körper und Geist — in Das erweiterte Universum von Ausbeutung bildet eine ein Instrument oder gar in den Teil eines Instruments: aktiv Totalität von Maschinen - in menschlicher, ökonomischer, oder passiv, produktiv oder rezeptiv, in seiner Arbeits- wie politischer, militärischer und pädagogischer Hinsicht. Es Freizeit dient es dem System. Die technische Arbeitsteilung wird von einer Hierarchie immer spezialisierterer »profes­ zerlegt den Menschen selbst in Teiloperationen und -funk- sioneller« Manager, Politiker und Generale beherrscht, die tionen, die von den Koordinatoren des kapitalistischen Pro­ sich der Aufrechterhaltung und Erweiterung ihres jeweili­ zesses koordiniert werden. Diese technologische Struktur gen Bereiches widmen, auf globaler Ebene zwar noch mit­ der Ausbeutung organisiert ein riesiges Netz menschlicher einander konkurrieren, dabei aber alle im Interesse des Instrumente, die eine reiche Gesellschaft produzieren und Gesamtkapitals der Nation handeln - der Nation als Kapi­ aufrechterhalten. Denn wer nicht gerade zu den unbarm­ herzig unterdrückten Minderheiten gehört, profitiert von 11 Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, frühere diesem Reichtum. .Version des 6. Kapitels des Kapital, Frankfurt/M. 1969, S. 65 f. 12 Das Kapital, Band 1, 14. Kapitel, 2. Absatz. Cf. auch Theorien über den Das Kapital erzeugt heute für die Mehrheit der Bevölkerung Mehrwert, hrsg. v. Karl Kautsky, Stuttgart 1905, Bd. 1, S. 324 f. in den Metropolen nicht so sehr materielle Not als gesteu­ 20

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