Konstruktivismus und Umweltbildung Schriftenreihe "Ökologie und Erziehungswissenschaft" der Kommission "Umweltbildung" der Deutschen Gesellschaft fiir Erziehungswissenschaft Band 6 Dietmar Bolscho Gerhard de Haan (Hrsg.) Konstruktivismus und Umweltbildung Leske + Budrich, Opladen 2000 Gedruckt auf säurefreiem und altenmgsbeständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 978-3-8100-2752-8 ISBN 978-3-322-97479-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-97479-2 © 2000 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung au ßerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages un zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis I Einfiihrung 7 I. Teil: Theoriebildung 2 Der Kopf im Sand - Lernen als Konstruktion von Lebenswelten 15 Horst Siebert 3 Gibt es konstruktivistische Mindestanforderungen an die Umweltbildung? 33 Kersten Reich 4 Konstruktivismen 59 Gerhard Becker 5 Sozio-ökologische Umweltbildung aus konstruktivistischer Sicht 123 Regula Kyburz-Graber, Dominique Högger 6 Konstruktivismus - ein Kind der Postmoderne?! 147 Dietmar Bolscho 7 Vom Konstruktivismus zum Kulturalismus Zukunftsfähigkeit eines kritischen Konstruktivismus filr die Bildung filr eine nachhaltige Entwicklung 153 Gerhard de Haan 11 Teil: Detailstudien und Empirie 8 Zwischen System und Umwelt. Der heranwachsende homo ludens und seine ästhetisch-ökologische Lebensform 187 Andreas Nebelung 9 Konstruktivismus, Biophilie und die Vermittlung von Wertvorstellungen 201 Helmut Schreier 10 Zur Kritik des Naturbildes in der gewerblich-technischen Berufsbildung 217 Thomas Vogel 11 Zeit lassen! Konturen einer zeitökologischen Konzeption von Umwelterziehungl-bildung 229 Fritz Reheis 12 Nachhaltige Entwicklung: Paradigmenkrise und Rationalitätenkonflikt 247 Suzanne C. Beckmann 13 Empirische Konstrukte zur bäuerlichen Lebenswelt als kommunikativem Kristallisationskem fiir einen Diskurs um nachhaltige Landbewirtschaftung 269 Maik Adomßent 14 Zu den AutorInnen 289 1 Einfiihrung I Mit diesem Band zu Konstruktivismus und Umwelt bildung setzt die Kommission Umweltbildung in der Deutschen Gesellschaft filr Erziehungs wissenschaft (DGFE) 2 ihre Bemühungen fort, die Ergebnisse ihrer Facht agungen einem breiteren Publikum zu präsentieren, mit der Absicht und in der Hoffnung, dadurch einen Beitrag zum allseits eingeforderten transdis ziplinären Diskurs zu leisten, indem Themen aufgegriffen werden, die aus nicht genuin pädagogischen Theorieansätzen stammen, die aber angesichts der Perspektivenerweiterung von Umweltbildung von zunehmender Bedeu tung sind. Den Ausgangspunkt zur thematischen Strukturierung von Forschungs themen, die rur Umweltbildung relevant sind und im Rahmen der Fach tagungen behandelt werden, stellt das Programm zur Umweltbildungs forschung dar, das, von Gerhard de Haan und Udo Kuckartz verfaßt, auf zwei Tagungen der Kommission diskutiert und im Mai 1997 von den Mitgliedern der Kommission verabschiedet wurde (Abdruck des Programmes in: de Haan, Kuckartz 1998, S.261-270). Begründung und Notwendigkeit eines Programmes zur Umweltbildungs forschung ergeben sich daraus, dass, wie im Programm einleitend festgestellt wird, "eine fundierte, systematische Umweltbildungsforschung ein Desiderat" ist (de Haan, Kuckartz 1998, S.261). Dies mag mit der traditionellen empi rischen Abstinenz der Erziehungswissenschaft zusammenhängen. Im Falle der Umweltbildung wird man darüber hinaus feststellen können, dass im Zuge der zeitlichen Entwicklung von Naturschutz über Umwelterziehung und Ökopä dagogik zu Umweltbildung das Bemühen um konzeptionelle Grundlegungen sowie um Verankerung der Umweltfrage auf der programmatischen Ebene im Vordergrund stand. Doch mit der Frage, welchen Stellenwert die mittlerweile etablierten Umweltbildungsprogramme und Modellversuche in der Bildungs praxis einnehmen, begann der Einstieg in empirische Forschungsaktivitäten zur Umweltbildung. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Günter Eulefeld am Institut rur die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Wir verzichten in dieser Einfllhrung auf eine paraphrasierende Kurz-Charakteristik der einzelnen Beitrage in diesem Band, weil wir meinen, die Leserin oder der Leser ist nicht so sehr an unserer Betrachtung der Beitrage interessiert, sondern er oder sie wird sich selbst ein Bild machen. Demgegenüber stellen wir die Einbettung des Themas in die Aktivitaten der Kommission Umweltbildung in den Vordergrund. Die DGFE hat ihre früheren Arbeitsgruppen in Kommissionen umbenannt und neu strukturiert, so dass die bei der Konstituierung 1995 Arbeitsgruppe Umweltbildung jetzt Kommission Umweltbildung heißt. 8 Dietmar Bolscho, Gerhard de Haan Universität Kiel widmete sich rur den schulischen Bereich dieser Frage in zwei bundesweiten Erhebungen.3 In der Terminologie des Forschungspro grammes der Kommission Umweltbildung lassen sich diese Arbeiten dem Bereich Umweltbildungssurvey zuordnen. Der Nutzen solcher Studien, die in den folgenden Jahren auch fiir andere Bildungsbereiche durchgefilhrt wurden, ist immerhin, dass eine Arbeitsgruppe 1997 feststellen konnte, die "grüne Wende" sei im Bildungswesen noch nicht vollzogen, denn das "Hauptdefizit" sei ihre "geringe Ausbreitung" (vgl. de Haan et al. 1997, S.175). Spätestens mit der Wende zur Umweltbildung unter dem Leitbild Nachhaltige Entwicklung wurde es unausweichlich, Anspruche und Reich weite der Umweltbildungsforschung zu erweitern und neue Fragen zu stellen, etwa nach Prozessen des Entstehens von Umweltbewusstsein, nach pädago gischen Strategien in einer individualisierten Gesellschaft, in der nicht mehr Schichten, sondern Lebensstile filr Bewußtsein und Handeln maßgebend sind, oder nach Erweiterung und Öffnung des Methodenrepertoires. Die ersten filnf Bände der Reihe der Kommission Umweltbildung zeugen von dieser Erweiterung und Öffnung: "Umweltbildung und Umweltbewußt sein. Forschungsperspektiven im Kontext nachhaltiger Entwicklung" (de Haan, Kuckartz 1997), "Selbstbestimmtes Lernen in der Umweltbildung. Ethnographische Beobachtungen" (Schaar 1997), "Methoden der Umwelt bildungsforschung" (Bolscho. Michelsen 1999), "Befunde empirischer Forschung zu Umweltbildung und Umweltbewußtsein" (Lehmann 1999), "Qualitäten primärer Naturerfahrungen und ihr Zusammenhang mit Umwelt wissen und Umwelthandeln" (Bögeholz, 1999). Neben der Bearbeitung solcher bereichsspezifischen Felder der Umweltbildungsforschung ist es zur Etablierung und Fundierung eines Forschungsbereiches unumgänglich, sich grundlegenden, also wissenschafts theoretischen Fragestellungen zu widmen. Mit dem vorliegenden Band "Umweltbildung und Konstruktivismus" wird dieses Feld betreten und fortgesetzt. 4 Das Erkennen der Bedeutung konstruktivistischer Theoreme fiir die Umweltbildungsforschung setzte mit dem Unbehagen über die Erkenntnisse der Umweltbewusstseinsforschung ein, denn Umweltbewusstsein anzubahnen und grundzulegen ist nun einmal eine zentrale Zielperspektive jeglicher pädagogischer Bemühungen: Die in vielen Initiativen zur Umweltbildung Die erste Studie "Praxis der Umwelterziehung in der Bundesrepublik Deutschland" erschien 1985, die zweite Studie "Entwicklung der Praxis schulischer Umwelterziehung in Deutschland" 1993 (zusammenfassend und pädagogische Konsequenzen: vgl. Bolscho, Seybold 1996; s. Literaturverzeichnis). Die rur dieses Jahr geplante Tagung, zusammen mit den Umweltsektionen aus Psychologie und Soziologie, steht unter dem Thema "Vom Nutzen und Nachteil der Typenbildung in der sozialwissenschaftlichen Umweltforschung" und setzt damit den Strang des wissenschaftstheoretischen und -methodologischen Diskurses fort. Einfilhrung 9 angelegte implizite Prämisse, vom Wissen über EinsteIJungen zum veränder ten Verhalten zu gelangen, lässt sich empirisch nicht halten. Als eine "fundamentale Einsicht" ergaben Meta-Analysen von empiri schen Studien zum Umweltbewusstsein, wie de Haan/Kuckartz zugespitzt formulierten: "Nichts hängt zusammen" (J 996, S. 104). "Anspruch und Wirk lichkeit" von Umweltbewusstsein klaffen weit auseinander (Bolscho 1996). Vor diesem Hintergrund war es nicht weit zu der Erkenntnis, dass Umwelt bewusstsein offenbar als ein soziales und kulturelJes Konstrukt betrachtet werden muss. Das Ziel des vorliegenden Bandes kann nicht sein, die unendliche De batte zwischen "Realisten" und "Konstruktivisten" fortzufiihren: genug ist hierzu gesagt und geschrieben worden! Auch erhebt der Band nicht den Anspruch, die mit Leidenschaft ~efilhrte Auseinandersetzung um die "Kampf vokabel" ,soziale Konstruktion' zu schlichten oder gar ex cathedra zu ent scheiden (was auch gänzlich ,un-konstruktivistisch' wäre). Die Beiträge in diesem Band zeugen hingegen von einem differenzieren den und offenen Umgang mit der hier als Sammelbegriff filr unterschiedliche Ausprägungen und Akzentuierungen verstandenen Denkrichtung Konstrukti vismus. Da die Autorinnen und Autoren jedoch in pädagogischen Zusammen hängen forschen und lehren, macht dieses Umfeld die gemeinsame Perspek tive aus, sich mit Konstruktivismus in seiner Bedeutung filr pädagogische Pro zesse auseinanderzusetzen. Wenn man einen gemeinsamen Nenner in den Beiträgen dieses Bandes ausmachen will, so könnte man sagen, dass, wie Ulrich Beck zur "Weltrisiko geselIschaft" (1996) formuliert hat, zwei Antworten auf den Umgang mit Umweltentwicklungen möglich sind: "eine realistische und eine konstrukti vistische" (S.123). Der "Realismus" steIle "die ökologische Problematik als ,geschlossen'" vor, während der Konstruktivismus die prinzipielle Offenheit betont. Dort stehen die Gefahren (Drohszenarien) hier die Chancen (Akteurs kontexte ) der WeltrisikogeseIlschaft im Zentrum" (S.125). Es liegt auf der Hand, dass filr Bildung, insbesondere wenn man die Herausforderung filr Umweltbildung unter dem Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung ernst nimmt, die Chancen in den Mittelpunkt des Interesses geruckt werden müssen. Dabei wird "das traditioneIle Diskursmuster der Umweltbildung" aufzubrechen sein (de Haan 1998, S.116): Man wird "Umwege gehen müssen" (ebd., S.120). Dem allzu linearen "Ableiten" von Bildungszielen aus dem Nachhaltigkeits-Konzept muss demnach mit Skepsis begegnet werden (vgl. Bolscho 1998). Wie solche Umwege aussehen können, dies ist zumindest in Konturen erkennbar: Im Sinne von "Popularisierungskonzepten" (Kuekartz 2000, So die Wortwahl von Hacking (\999), dessen Buch "The Social Construction of What" (1999) nun auch auf Deutsch vorliegt. 10 Dietmar Bolscho, Gerhard de Haan S.58t muss das Nachhaltigkeit-Leitbild über den Expertendiskurs hinausgehend Eingang in Alltagssituationen von Lernenden finden. Die Agenda 21 bietet in ihren gemeindebezogenen Vorschlägen dazu hinreichend Gelegenheit. Umwege gehen - dies heißt die Konstruktionen von Lernenden nicht nur als Ausgangspunkt, sondern zum Kernpunkt des Lernens zu machen. Vor diesem Hintergrund kann die intensive Auseinandersetzung mit konstrukti vistischen Theorieansätzen einen Beitrag zu differenzierten Konzepten von Umweltbildung unter dem Leitbild Nachhaltige Entwicklung beitragen. Hannover und BerIin-Dahlem, im Januar 2000 Dietmar Bolscho Gerhard de Haan Kuckartz unterschiedet zwischen Popularisierungs-, Machbarkeits- und Bildungskonzept. Wir interpretieren hier Elemente aus dem Popularisierungskonzept filr Bildungsprozesse.