Konstruktionen von Text, Körper und Skulptur in J. J. Winckelmanns Hermeneutik der Antike Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie des Fachbereichs 05 der Justus-Liebig-Universität Gießen vorgelegt von Christina Dongowski aus Gießen 2001 Danksagung Erst fünf Jahre nach Abgabe dieser Dissertationsschrift erscheint der Text nun im GEB. Auch wenn Dissertationen des öfteren längere Zeit in Anspruch nehmen als die idealtypischen drei Jahre, sind fünf doch ziemlich ungewöhnlich - vor allem weil diese Zeit erst nach der Abgabe verstrichen ist. Die Umstände, die zu dieser Verzögerung geführt haben, stellen der Lehr- und Prüfungsorganisation der Justus-Liebig-Universität kein gutes Zeugnis aus, genauso wenig wie dem Graduiertenkolleg “Klassizismus und Romantik”. Des- wegen möchte hier ganz ausdrücklich den Menschen danken, die als Mitglieder der Universität oder als “Privatmenschen” dazu beigetragen haben, dass dieses Promotionsverfahren nach vielen Behinderungen doch noch zu einem guten Ende gekommen ist: Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Friedrich Vollhardt, heute an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, der die Betreuung der Arbeit noch nach deren Abgabe übernommen hat. Ohne seinen Rat und Zuspruch, diesen un- gewöhnlichen Weg zu gehen, wäre ich wahrscheinlich nie promoviert worden. Frau Rittinger vom Akademischen Prüfungsamt und Professor Martini als Vorsitzendem des Promotionsausschusses danke ich für die beherzte Entschei- dung in einem Fall, der so von der Promotionsordnung einfach nicht vorgesehen war. Gemeinsam mit Prof. Dr. Vollhardt haben mir Prof. Dr. Baumgartner und Prof. Dr. Kurz gezeigt, dass professorales und wissenschaftliches Ethos doch kein Fremdwort innerhalb meines Fachbereiches ist. Dank ihnen wurde meine Disputa- tion zu einem versöhnlichen Abschied von der Universität. Dass es diese Arbeit überhaupt gibt, verdanke ich vor allem Dr. Carsten Behle, Dr. Astrid Keiner und PD Dr. Lothar Schneider. Ohne ihren Rat, ihre mo- ralische Unterstützung und ihr Vorbild sähe diese Arbeit nicht nur anders aus, ohne sie hätte ich sie vermutlich noch nicht einmal zuende geschrieben. Hilfrei- cher kann man nicht Freundin oder Freund sein. Danke! Ellen Dongowski und Elisabeth Rudolf danke ich für ihr Lektorat. Ohne sie und Dr. Behle wäre die Arbeit noch unleserlicher geworden als sie es jetzt ist. Die drei Jahre bis zum endgültigen Disputationstermin hätte ich ohne die liebevolle Unterstützung von Thomas Weise nicht so unbeschadet überstanden. Danke für Deinen Rat im Bezug auf den Umgang mit akademischen Institutionen und für Deine unverbrüchliche Zuneigung. Zuletzt sage ich meinen Eltern Martha und Dieter Dongowski Danke. Sie haben alles getan, was in ihrer Macht stand, mir meinen Kindertraum vom Dok- 2 tortitel zu erfüllen. Und wir haben es geschafft - trotz allem. 3 Inhaltsverzeichnis 1. Winckelmanns Stile und die Ursprünge der Kunstgeschichte 6 1.1. Mit dem Laocoon anfangen 9 1.2. Mit (der) Geschichte anfangen 17 1.3. Mit dem Körper anfangen 26 1.4. Mit dem Schreiben anfangen 31 2. Winckelmanns Dresdner Schriften – das Schreiben einer modernen Hermeneutik der Antike 37 2.1. Schreibstrategie als Karrierestrategie 37 2.1.1. Winckelmanns Karriereplanung 37 2.1.2. Karrierestrategie – Textstrategie – hermeneutische Strategie 42 2.2. Winckelmanns Stil als konzeptionelle Entscheidung 45 2.2.1. Situierung im zeitgenössischen Kontext 45 2.2.2. Kontext-Verschiebungen 52 2.2.3. Winckelmanns Stil 62 2.2.4. Stilbrüche – Gedankensprünge 66 2.2.5. Die Statue als Figur des Textes 72 2.3. Ideale Kunst als natürliche autoreflexive Praxis 79 2.3.1. Der Laocoon als theoretisches Modell 81 2.3.1.1. „Eine edle Einfalt und eine stille Größe“ 81 2.3.1.2. Übertreibungen 87 2.3.2. Griechische Statuen und griechische Körper 91 2.3.2.1. Gesellschaftliche Produktion des natürlichen Körpers 91 2.3.2.2. Der schöne (Statuen)Körper als theoretisches Model (l) 96 2.4. Hermeneutik des Ideals und formale Analyse des Kunstwerks 103 2.4.1. Die Un(be)greifbarkeit der idealen Form und die Autoreflexivität der Statue 103 2.4.2. Formale (Be)Greifbarkeit und das (Sich-)Verfehlen der Malerei 109 2.4.3. Lairesses’ Seleucos und Stratonice als paradigmatisches Gemälde 113 2.5. Winckelmanns Dresdner Schriften: Formulierung einer modernen Ästhetik und Hermeneutik der Antike 122 4 3. In Rom: Autopsie des Statuen-Corpus, Hermeneutik des Ideals und Kunstgeschichte der Antike 127 3.1. Genese der Geschichte der Kunst des Alterthums im Belvedere-Hof 127 3.2. Laocoon: Körperlichkeit als Form des Ausdrucks und als Problematisierung der Schönheit 138 3.2.1. Körperstile - Beschreibungsstile 138 3.2.2. Protokoll einer Autopsie 141 3.2.3. Anatomie und Physiologie als natürliches Formenvokabular des Körpers 147 3.3. Stil: System als Geschichte, Geschichte als System 152 3.4. Laocoon und die antike Kunstgeschichte: Pathetische Grenzwertbe- stimmungen, reale und ideale Körper, hoher Stil und schöner Stil 161 3.4.1. Stil II: Körper als System von Formen und als locus der (historischen) Bewegung – Laocoon und Niobe 163 3.4.2. Stil III: Schönheit als Beherrschung des Ausdrucks 177 4. Winckelmanns antike Statue und die Anfänge der Kunstgeschichte 185 4.1. Noch einmal auf Anfang: Begründung der Kunstgeschichte als autonomer Wissenschaft in Wien – Robert Zimmermann und Alois Riegl 192 4.1.1. Zimmermanns Ästhetik als Formwissenschaft: Kunst ohne Geschichte und die historischen ‘Manieren des Vorstellens’ – Kunstgeschichte als historische Kunstkritik 194 4.1.2. Wieder Laocoon: Der schöne Körper der Kunst und die Verführungen der Moral – Zimmermanns formalistische Rekon- struktion der idealistischen Hermeneutik nach Winckelmann 221 4.1.3. Alois Riegls ‘Stilgeschichte’: Formanalyse ohne Ideal(e) 237 4.1.4. Vergleichbarkeit des Unvergleichbaren – Das ‘Kunstwollen’ und der klassische Stil idealistischer Ästhetik und Hermeneutik 247 5. Zusammenfassung 266 6. Literatur 269 Erklärung 288 5 1. Winckelmanns Stile und die Ursprünge der Kunstgeschichte Nichts fängt einfach an, schon garnicht akademische Disziplinen oder Wissen- schaften wie zum Beispiel die Kunstgeschichte. Winckelmann beginnt seine pub- lizistische und wissenschaftliche Karriere mit der Forderung, Kunst neu anfangen zu lassen und der Rückkehr zum Ursprung. Der erste Text, den die erste umfassende Anthologie kunsthistorischer Ba- sistexte im angelsächsischen Raum präsentiert, ist ein Auszug aus Johann Joachim Winckelmanns Gedancken über die Nachahmung griechischer Werke in der Mah- lerey und Bildhauerkunst1. Ein erstaunlicher Tatbestand bedenkt man das spezifi- sche wissenschaftskulturelle ‘setting’ der Sammlung: Während Winckelmann in der deutschen Kunstgeschichtsgeschichtsschreibung auch in der Historisierung seines hermeneutischen Verfahrens unbestrittene Gründungsfigur der Disziplin ist, obwohl er vollständig außerhalb des zeitgenössischen universitären Rahmens angesiedelt war, haben nicht-deutsche Traditionen der Kunstgeschichte wegen seiner nationalen Bedeutung mit Winckelmann ihre Schwierigkeiten. Gegen Win- ckelmann andere, nationale Gründungsfiguren zu profilieren hat neben der inter- nationalen Wissenschaftskonkurrenz auch Gründe in einem theoretischen Unbe- hagen. Mit Winckelmann als Galionsfigur verbinden sich in den Augen von nicht- deutschen Kunsthistorikern die Besonderheiten der ‘teutonischen’ Methode in der Kunstgeschichte und ihr Triumph, der am Anfang des 21. Jahrhunderts aber wohl selbst schon historisch geworden ist. Das Ende der deutschen Kunstgeschichte als hegemonialem disziplinärem Modell wird auch in der genannten Anthologie mar- kiert: Neuere methodische Ansätze, die Kunst als symbolische Praxis oder als Teil sozialer Praxen verhandeln und die, schenkt man der Auswahl Vertrauen, seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Disziplin bestimmen, kommen fast gänz- lich ohne deutschsprachige Beteiligung aus.2 Was ist in der Perspektive Außenstehender die ‘teutonische’ Methode? Sie 1Vgl. Johann Joachim Winckelmann, Reflections on the Imitation of Greek Works in painting and Sculpture. In: Donald Preziosi (Hg.), The Art of Art History: A Critical Anthology, Oxford: 1998, S. 31-39. 2Die Abteilungen „Art as History“, „Aesthetics“, „Style“ und „History as Art“ sind auf der Ebene der Primärtexte eine sehr deutsche Angelegenheit. Chronologisch erstrecken sie sich bis in die 1930er Jahre, von da an wird Kunstgeschichte vorwiegend Art History (mit den Ausnahmen Foucault, Heidegger und Derrida). Dieser Sprachwechsel und der nachfolgende Methoden- wechsel sind sehr real national motiviert: Die nazistische Theorieaustreibung in den deutschen Universitäten beendet die ‘teutonische’ Methode. Zu Größe und Lächerlichkeit der „›teutoni- schen‹ Methode der Kunstgeschichte“ formuliert von einem ihrer wichtigsten Erben vgl. Erwin Panofsky, Epilog. Drei Jahrzehnte Kunstgeschichte in den Vereinigten Staaten. Eindrücke ei- nes versprengten Europäers, S. 379-389 u. S. 394-398. In: Erwin Panofsky, Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: 1978, S. 378-406. 6 zeichnet sich vor allem durch die Verschränkung von ästhetisch-philosophischer Spekulation und historisch-philologischer Erforschung aus. Es entstehen auf der einen Seite Kunstgeschichten, bei denen es sich eigentlich um geschichtsphiloso- phische Entwürfe handelt, und auf der anderen Seite extreme akademische Spe- zialisierung. Abstraktes Theoretisieren und pedantische Gelehrsamkeit bezeichnen dabei die zwei Haltungen, die gleich weit vom eigentlichen Gegenstand und Ziel kunsthistorischer Forschung, den Kunstwerken, entfernt sind. Die im Verhältnis zur romanischen und angelsächsischen Situation früh erfolgte Institutionalisierung als akademisch-universitäre Disziplin im deutschsprachigen Raum hat die ‘Ver- schulung’ durch methodische und objektbezogene Kanonisierungen zumindest erleichtert. Gegen diese aus Abstraktionshöhe und kriterienloser Detailversessen- heit zusammengesetzte Kunst- und Weltfremdheit wird eine Tradition pragmati- scher Arbeit am Gegenstand gesetzt, die neue empirische Erkenntnisse, nicht the- oretische Schriften produziert.3 Daß der Widerstand gegen Theorie (im umfassendsten Sinne des Begriffs), der das eigene Verfahren stattdessen durch einen empirischen Bezug auf die kon- krete Realität der Gegenstände legitimiert, auch eine theoretische Entscheidung ist, die im schlechtesten Falle traditionelle methodisch-theoretische Positionen einfach weiterschleppt, gehört zu den Standardargumenten für theoretische Refle- xion als methodenkritisches Innovationspotential.4 Das andere Standardargument ist die Forderung zur Rückkehr zu den eigentlichen Gegenständen, die das ange- messene wissenschaftliche Verfahren selbst schon vorgeben. Was als Leitdiffe- renz der Kunstgeschichtshistoriographie nach nationalen Schulen verwendet wer- den kann, strukturiert generell die methodische und disziplinenhistorische Diskus- sion. Die polemische und theoretische Operationalisierung der Theorie-Praxis- bzw. Abstraktion-Erfahrung-Differenz gehört zu den fundamentalen Dispositiven moderner (historischer) Wissenschaft.5 Der ‘Wille zur Wahrheit’ strukturiert und stabilisiert in dieser dialektischen Argumentation den wissenschaftlichen Diskurs 3Zu den nationalen Klischees über die jeweils eigenen im Vergleich zum deutschen Kunsthistori- ker bis in die 1950er Jahre vgl. E. Panofsky, Epilog. Drei Jahrzehnte Kunstgeschichte in den Vereinigten Staaten, S. 380; zu den nationalen Anti-Winckelmann-Reflexen vgl. Marcel Baumgartner, Einführung in das Studium der Kunstgeschichte, Köln: 1998 (Kunstwissen- schaftliche Bibliothek Bd. 10), S. 91-95. Die härtesten Konkurrenten Winckelmanns für die Rolle des Gründungsheros sind nicht britische Dilettanten, sondern ein adliger französischer Kulturfunktionär, Caylus, und ein lokalpatriotischer römischer Graphiker und Architekt, Pira- nesi. 4So begründet auch Donald Preziosi Zweck und Aufbau der von ihm herausgegbenen Anthologie; vgl. Donald Preziosi, Introduction, S. 9f. In: D. Preziosi (Hg.): The Art of Art History, S. 9-12. 5Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 12 Frankfurt/Main: 1994, S. 384-389. 7 gegen seine eigenen Wucherungen. Er definiert die im Diskurs vorgesehene Nicht-Diskursivität.6 Die kunsthistorische Diskussion über die Kunstgeschichte als Wissen- schaft ist von einer grundlegenden Ambivalenz gegenüber der eigenen Wissen- schaftlichkeit gezeichnet. Infrage stehen nicht nur spezifische Methodologien, sondern die Legitimät der gesamten Disziplin: Verfehlt die wissenschaftliche Be- schäftigung mit Kunst nicht gerade die Kunst an der Kunst? Wird die ästhetische Erfahrung durch kunsthistorische Analysen nicht banalisiert und in ikonographi- schen, stilistischen, semiotischen, sozialhistorischen, wahrnehmungsgeschichtli- chen, ästhetiktheoretischen etcetera Untersuchungen zerredet? Etwas schlagwort- artig formuliert, besteht die theoretische Basis der Kunstgeschichte in dem Di- lemma, Wissen und Diskurse über einen Gegenstand zu produzieren, der von ihr selbst als im Kern prä- oder transdiskursiv aufgefaßt wird. Der Namen der Diszip- lin führt diese schwierige Konstruktion zweifach vor: Er setzt sich aus zwei Beg- riffen zusammen, die schon bei ihrer Zusammenfügung als problematisch, wenn nicht als gegensätzlich verstanden wurden, und der Objektbezug des Terminus ist doppeldeutig. Er bezeichnet die Wissenschaft und ihren Gegenstand. Das Ver- schwinden der Differenz zum Gegenstand, das Einswerden von Kunst und Wis- sen, scheint das Phantasma der Kunstgeschichte zu sein, die Unmöglichkeit seiner Realisierung die Logik der Forschungen zu bestimmen. Inauguriert wird das Problem ‘Kunstgeschichte’ von Winckelmanns Ge- schichte der Kunst des Alterthums. In seinem Antiken-Projekt stößt er auf die Begriffe und gibt ihnen die problematische, zukunftsweisende Konfiguration: (Kunst)Geschichte als Dialektik einer wahren Kunst und einer bis jetzt immer verfälschenden Geschichte, die in einer wahren Kunstgeschichte aufgehoben wird. Winckelmann ist vielleicht darin am eigentlichsten Begründer der Kunstgeschich- te, daß er die Einwände gegen eine wissenschaftliche bzw. diskursiv- rationalistisch Erfassung von Kunst selbst formuliert. Bei ihm findet sich die Sprachlosigkeit der ästhetischen Erfahrung, die einerseits die Konfrontation des Kunsthistorikers mit der Empirie der Werke fordert, andererseits in seinen Statu- enbeschreibung zur Entwicklung einer diskursiven Form führt, die die Trans- diskursivität der Plastik in den ästhetischen Charakter eines literarischen Textes transformiert. Angemessen über Kunst zu sprechen, heißt das nicht Kunst ma- chen? Winckelmanns Kunstgeschichte als ästhetsicher Akt ist das Supplement für die Artefakte. 6Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Frankfurt/Main: 1994, S. 13-17. 8 Diese Doppelung von Ästhetik und Hermeneutik, die doppelte Kunstge- schichte, als textuelles Phänomen zu rekonstruieren, ist das Ziel der folgenden Analysen: Winckelmann macht Kunstgeschichte, in dem er das Verhältnis von Text und Gegenstand neu ordnet und damit den Charakter des antiquarisch- philologischen Diskurses und des Gegenstandes, über den er geführt wird, die antiken Denkmäler, grundlegend verändert. Am Ende des Transformationsprozes- ses, in den Statuenbeschreibungen und in der Geschichte der Kunst des Al- terthums, hat Winckelmann das Verhältnis von Kunst und Geschichte, von ästhe- tischem Objekt und hermeneutischem Text theoretisch und methodisch so formu- liert, daß von nun an Kunstgeschichte geschrieben werden kann. Die Falsifizie- rung von Einzelbefunden (wie der Datierung des Laocoon), sowie die Ausweitung der Denkmälerbasis werden in der Logik von Winckelmanns Modell vorgenom- men. Winckelmanns Antike wird zur klassischen Antike. Einer ästhetischen Theo- rie, die sich in der griechischen Plastik verkörpert findet, korrespondiert ein her- meneutisches Verfahren, das den kunsthistorischen Text bestimmt. Antike Plastik und moderne Interpretation gehorchen denselben Prinzipien. Sie sind Repräsenta- tionen des Ideals vollkommener Schönheit und der Wahrheit des Menschen. Die Grundlinien dieser neuen Ordnung von Kunst und Wissen lokalisiert die Arbeit in Winckelmanns Dresdner Schriften, ihre Ausformulierung zur Kunst- geschichte in der Doppelgestalt von ästhetischem Gegenstand und hermeneuti- scher Wissenschaft entsteht in Rom aus der Konfrontation mit der Realität der antiken Statuen. Leitfigur der Rekonstruktion von Winckelmanns Theoriebildung ist der Laocoon. In seiner Transformation vom paradigmatischen Kunstwerk der Antike zum Index stilistischer und typologischer Differenzierung und zur Ein- bruchstelle der Geschichte in die zeitlose Idealität von Natur und Kunst lassen sich die historische Genese und die verschiedenen Konfigurationen von Kunst und Wissen in Winckelmanns Antikenprojekt analysieren und differenzieren. 1.1. Mit dem Laocoon anfangen Die Verfolgung der theoretischen Schicksale des Laocoon stellt nicht nur einen rhetorisch-heuristischen ‘Trick’ dar, um der mangelnden systematisch- methodischen Strenge von Winckelmanns Schriften und deren Heterogenität im wahrsten Sinne des Wortes eine Gestalt zu geben und sie als Geschichte einer Theorie darstellbar zu machen. Der Konzentration auf die Skulpturengruppe liegt zum einen ein rezeptionsgeschichtlicher Befund zugrunde: Die Formulierung, die 9 bis heute als eine Art Label und als sentenziöse Abkürzung für Winckelmanns klassizistische Ästhetik und sein Antikenbild fungiert, bezieht sich auf den Lao- coon. Die Bedeutung von „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist end- lich eine edle Einfalt, und eine edle Grösse, so wohl in der Stellung als im Aus- druck.“(Gedancken über die Nachahmung, S. 43)7 wird an der Statue expliziert. Der Laocoon als paradigmatisches Kunstwerk, in dem Winckelmann eine traditionelle klassizistisch-stoizistische Maxime und eine der barocken Lieblingsantiken verbindet, wird zum Ausgangspunkt einer Diskus- sion, in der das Verhältnis von Schönheit als klassizistisch geprägter Formenka- non, ethisch-moralischer Anspruch und autonomer Bereich künstlerischer Gestal- tung immer wieder problematisiert wird. Selbst wenn einzelne Diskutanten (wie Goethe und Moritz) über eine eigene Anschauung der Statue verfügten, bleibt Winckelmanns textuelle Konzeption der Gruppe die zentrale Referenz. Zumindest für die deutsche ästhetische und kunsthistorische Diskussion bis weit ins 19. Jahr- hundert hinein heißt über die Laokoon-Gruppe im Vatikan zu sprechen über Win- ckelmanns Laocoon zu sprechen. Seine Qualifizierung der Gruppe als griechi- sches Meisterwerk, in der ein umfassendes ästhetisches und hermeneutisch- kunsthistorisches Konzept seine ästhetische Evidenz erhält, ist nicht nur eine kon- kurrierende und mit der Etablierung archäologischer Forschungen im 19. Jahr- hundert endgültig überholte Forschungsposition zu einem bedeutendem Zeugnis antiker Kunst. An diesem Laocoon Kritik zu üben, trifft mit der Bestimmung des kunsthistorisch-archäologischen Gründungsheros immer auch die Plastik selbst: Wird die Gruppe nicht mehr in die späte Phase der klassischen Kunstepoche der Antike datiert, sondern den späthellenistischen Kopienwerkstätten für den kaiser- zeitlichen Repräsentationsbedarf zugeordnet, verliert sie mit ihrem Status als ei- genständige griechische Arbeit meistens auch den Status als Meisterwerk. Ar- chäologisch-philologische Befunde werden im Rahmen von Winckelmanns idea- listischer Ästhetik formuliert und bewertet. Die Diskrepanz zwischen der theatra- len und naturalistischen Gestaltung der Laokoon-Gruppe und Winckelmanns Denkmal idealer Autarkie und klassizistischer Formung führt nur auf der Ebene der Forschungsergebnisse zur Verwerfung von Winckelmanns Konzept der (anti- ken) Kunst. Sein Verfahren kostet die Statue mit der historischen Position den ästhetischen Wert; in der Logik seiner ästhetischen Hermeneutik bedeutet die äs- 7Winckelmanns Dresdner Schriften werden zitiert nach Johann Joachim Winckelmann, Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. v. Walter Rehm u. m. e. Einleitung v. Hellmut Sichtermann, Berlin: 1968. 10
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