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Konservatismus heute. Über die Bestimmung einer politischen Geisteshaltung PDF

140 Pages·2022·1.321 MB·German
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Konservatismus heute Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft Herausgegeben von Hans Maier, Heinrich Oberreuter, Otto B. Roegele (†) und Manfred Spieker In Verbindung mit Gottfried Arnold (Düsseldorf) Günther Gillessen (Freiburg/Br.) Helmut Herles (Bonn) Rupert Hofmann (Regensburg) und Wolfgang Mantl (Graz) Band 37 Peter Nitschke (Hg.) Konservatismus heute Über die Bestimmung einer politischen Geisteshaltung Umschlagabbildung: „Nahles tritt zurück – Statement Kramp-Karrenbauer“ © Michael Kappeler, picture alliance/dpa. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2022 Brill Schöningh, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2629-7035 ISBN 978-3-506-79517-5 (paperback) ISBN 978-3-657-79517-8 (e-book) Inhalt Zur Einführung: Konservatismus heute  ........................... vii 1 Zwischen Pragmatik und Skepsis: Überlegungen zum konservativen Typus  ............................................. 1 Peter Nitschke 2 Konservatismus und Moderne: Metatheorie einer Denkhaltung  ... 19 Harald Seubert 3 Bewahren am Abgrund: Globales Marktdenken und bürgerlicher Konservatismus  .................................................. 37 Karl-Heinz Nusser 4 Die konservative Position  ........................................ 47 Frank-Lothar Kroll 5 Konservativ-kritische Theorie: Zur Zukunft eines Ideenkreises  .... 73 Tilman Mayer 6 Zwischen ewiger Wahrheit und neuem Leben: Wie konservativ sind die Christen?  ................................................ 85 Heinrich Dickerhoff 7 Der Konservatismus-Diskurs: Ausgangspunkt einer dringend nötigen Debatte über Normen und unsere politische Kultur?  ...... 93 Christoph Klunker 8 Vielfalt des Konservativen: Was es zu bewahren gilt  ............... 111 Heinrich Oberreuter Autorenverzeichnis  .............................................. 125 Personenregister  ................................................. 127 Sachregister  ..................................................... 129 Zur Einführung: Peter Nitschke Konservatismus heute Zur Einführung Der Konservatismus hat derzeit einen schwierigen Stand in der öffentlichen Debatte Deutschlands. Vielfach wird ihm von interessierter Seite, die aus dem ideologischen Lager von Links kommt, eine Zuordnung nicht einfach nur nach rechts, was immer das heißen mag, sondern sogar zur äußersten Rechten nach- gesagt. Das führt dann zum Faschismusverdacht. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gelangt man dann damit in dieser Konsequenz zur historisch völlig unsinnigen Gleichsetzung mit dem National- sozialismus. Dass dies politisch so gewollt ist, ist klar. Von linksradikaler Seite wird dies seit Jahren als Stereotyp vorgetragen und mitunter bis weit in eine linksliberale Mitte hinein bei den Sprechkodizes erfolgreich platziert. Dies führt wiederum zu einem verschämten Umgang mit konservativen Themen bei den Parteien, die sich konservative Ansichten auf die Fahnen schreiben. Oft wird dann als Vermeidungsstrategie bezüglich der stereotyp vorgetragenen Angriffsfläche mit dem Faschismusverdacht von bürgerlichen Perspektiven und Werten gesprochen. Wobei hier wiederum nicht klar ist, was denn genau bürgerlich meint? Immerhin verbindet sich damit für die konservative Seite das Bewahren von Standards, die man im Prozess der Moderne dem Bürger- tum zuschreibt. Was das aber im Einzelnen ist, bedarf einer konkreten Zuschreibung, die je nach aktueller Diskussion unterschiedlich ausfällt. Auch wäre es verkehrt, andere Parteien, wie etwa die Sozialdemokratie, hier nicht als bürgerliche zu verstehen. Insofern ist mit der Ausweichstrategie des deutschen Konservatismus auf den Begriff der Bürgerlichkeit aktuell nicht viel gewonnen. Allerdings konnte man in der Konstellation des Bundestags- wahlkampfes 2021 diese Zuordnungsmuster entlang einer versteckten Lager- wahlkampfarena dennoch deutlich positioniert beobachten. Hier die betont bürgerlichen Kräfte, die auf bestehende Strukturen und Wertvorstellungen mit einem bewusst pragmatischen Politikansatz pochten, dort die (vermeintlich) progressiven Parteiungen, die mit dem Anspruch auf Modernisierung ihren modus vivendi auf eine neue Zeit in der deutschen Politik rechtfertigen. Diese hermeneutische Differenz, die einer ideologischen Kampfaussage gleichkommt, beinhaltet auch das eigentliche Problem für den Konservatismus in Deutschland heute. Denn die Frage des Konservativen nur im Sinne eines parteipolitischen Angebots verstehen zu wollen, ist zu wenig. Tatsächlich sind auch jene sich progressiv denkenden Parteiungen, wie etwa die Sozialdemo- kratie oder auch die Linke, durchaus strukturkonservativ, wenn es etwa um die viii Peter Nitschke Bewahrung und Verteidigung der Grundlagen des deutschen Sozialstaats geht. Und bei den Grünen kann man sogar kritisch einen überaus konservativen Grundton im Sinne der Romantik festmachen, wenn es um Klima- und Umweltpolitik geht. Insofern muss man die Frage des Konservativen trennen von der rein parteipolitischen Argumentationsperspektive. Zumindest sind das zwei verschiedene Ebenen, die hier heuristisch auseinanderzuhalten sind, denn das Wahlvolk selbst ist zu keinem Zeitpunkt rein identitär in partei- politische Blöcke aufgeteilt. Thematisch orientiert ist es also eher eine Frage nach den Inhalten von Politik, die mal konservativ und mal progressiv auf- leuchten. Was aber nun wiederum auch nicht heißt, dass jegliche Politik, die sich nicht konservativ versteht, tatsächlich auch progressiv ist. Denn was ist schon progressiv? Nur eine Veränderung eines status quo, was immer dieser inhaltlich darstellt, muss nicht progressiv sein. Zwar wird das oft behauptet, aber der empirische Beweis, vor allem on the long run, bleibt oft dürftig – oder entwickelt sich genau zum Gegenteil der behaupteten Progressivität. Eigent- lich sind alle diese Ansprüche vor dem Hintergrund einer Moderne formuliert, bei der man unterstellt, dass die Dynamik der Veränderung zu einem Besseren führe als der jeweilige status quo dies darstellt. Das genau ist aber vor dem Hintergrund der Entwicklung schlichtweg falsch. Denn so gesehen wäre die NS-Bewegung progressiv gewesen, weil sie den status quo überwunden hat, und der Kommunismus wäre dies strukturell auch. In der Selbstwahrnehmung ihrer Anhänger war und ist dieses ideologische Bewusstsein zweifellos auch so vorhanden. Damit ist aber eben noch nichts gesagt über die Verbesserung der Lebensweise der Menschen in ihrer Sozialstruktur. Beide Ideologien haben im Gegenteil überdeutlich bewiesen, dass sie als politisches System in ihrer totalen Organisationsmanie zur Perversion von politischer Ordnung geführt haben. Recht haben wollen schließlich alle Parteien und behaupten in Bezug auf die politische Wirklichkeit, dass sie, und nur sie allein, hier den richtigen Bezug haben und ordnungspolitisch herstellen können. Genau das ist der Punkt, an dem der Konservatismus auch weit jenseits einer parteipolitischen Feststellung seinen hermeneutischen Ursprung hat. Was war, ist keineswegs zufällig zustande gekommen, sondern hat seine Berechtigung in Zeit und Raum, vermittelt über die Traditionen und Strukturen, die damit etabliert wurden. Das alles hat seinen Sinn, vor allem, wenn es in einer demokratischen Verfasstheit (wie beim Grundgesetz) über Jahrzehnte hinweg einstudiert und mit Modifikationen operationalisiert worden ist. Der Konservatismus in Deutschland figuriert insofern eigentlich kongru- ent zum Kode des Grundgesetzes. Nur mit einer Zweidrittelmehrheit lässt sich hier eine systematische Veränderung in der Verfassung einbringen und Zur Einführung ix umsetzen. Die Verfassungsväter und -mütter haben also das beherzigt, was eine jede geschriebene Verfassung beinhalten sollte: eine angemessene Äqui- distanz zur Dynamik gesellschaftlichen Wandels und der gleichzeitigen Stabilität ihrer nachhaltigen Grundbedingungen in sozialer, ökonomischer wie politischer Perspektive. Deshalb sind auch konservative Parteien mehr- heitlich das prägende Element in der Geschichte der Bundesrepublik bis zum heutigen Tage gewesen. Und auch die deutsche Sozialdemokratie ist bei all ihrer behaupteten Progressivität stets diesem Wechselspiel zwischen Wandel und Stabilität verpflichtet gewesen. Die Frage ist, ob dies auch in Zukunft so sein wird, denn die Bundestags- wahl 2021 bedeutet in mehr als nur einer Hinsicht ganz offensichtlich eine Zäsur. Hierbei geht es nicht so sehr um den Aspekt, dass nun eine triadische Konstruktion die Regierung bilden wird, sondern um die Ausrichtung des Konservatismus in Deutschland selbst. Die Tendenzen zu einer größeren Radikalisierung in der Gesellschaft wachsen allenthalben. Die AfD geht ebenso wie die Linke konsequent von einer identitätspolitischen Strategie aus. Das ist genau das, was auf konservativer Seite fehlt, weil die CDU diese Option in den langen Jahren der Merkel-Ära komplett vernachlässigt hat. So hat man unlängst darauf verwiesen, dass die CDU wieder einer programmatischen Ausrichtung bedürfe. Diese Orientierung an einer großen Erzählung ist ihr (und auch der kleineren Schwesterpartei in Bayern) grundsätzlich abhanden- gekommen. In den Jahren der Merkel-Regierungen hat sich der Pragmatismus zu einem schwerfälligen Weiter-So entwickelt, bei dem es nur auf den Tages- gebrauch und die Tageserfordernisse anzukommen schien. Damit ist jetzt erkennbar nach der Bundestagswahl von 2021 Schluss. Doch welche große Erzählung (außer Klima) soll es denn für die nahe und weitere Zukunft hier sein? Ein zeitgemäßer Konservatismus ist vonnöten, doch dieser bleibt so lange inhaltsleer, wie man nicht bereit oder in der Lage ist, seine große Geschichte (beispielsweise vom Staat und der Nation) zu erzählen.1 Nur auf den Grund- satz „der Verhältnismäßigkeit, des Maßes und der Mitte“ zu verweisen, ist zu wenig.2 Das ist zwar typisch konservativ, aber damit ist man nicht wirklich dynamisch, und schon gar nicht progressiv. Hier muss etwas kommen, was mehr beinhaltet als ein einigermaßen rationales Durchwursteln durch die Tagesabläufe. 1 Vgl. auch Thomas Biebricher: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus. Berlin 2018. 2 Christian Baldauf / Ole von Beust: Vorschlag für einen zeitgemäßen Konservatismus. In: Die Welt (28. September 2021), S. 8. x Peter Nitschke Nach der für die CDU katastrophalen Bundestagswahl 2021 ist auch für die gesamte EVP-Fraktion im Europäischen Parlament eine bedeutende Zäsur für die Selbstwahrnehmung und für die nationale Interessensvermittlung angezeigt. Denn tatsächlich ist der Konservatismus damit auch innerhalb der EVP schwer geschädigt. Westlich von Berlin gibt es jetzt keine originäre konservative Regierung mehr in den europäischen Mitgliedsstaaten.3 Wenn man hier nicht den je nationalen Populisten nachlaufen will und schon gar nicht einem linksliberal orientierten Mainstream, dann muss auch der deutsche Konservatismus sich (wieder) um eine eigene Identität bemühen. Diese lässt sich nur herstellen, wenn man dem Wahlvolk eine spezifische, d.h. große Erzählung präsentieren kann. Was das im 21. (globalisierten) Jahr- hundert jenseits von Klimapolitik bedeutet, das ist die Herausforderung, vor der der neu zu begründende Konservatismus steht. Die in diesem Band versammelten Beiträge zielen auf einzelne Facetten dieser Herausforderung für den Konservatismus in Deutschland. Sie behandeln das Phänomen sowohl in seiner historisch-generativen Positionierung wie auch in den strukturellen Bedingungen der bundesrepublikanischen Kultur. Sie sind keineswegs als eine unmittelbare Antwort auf die Wahlergebnisse des Jahres 2021 zu sehen, obwohl die Beiträge einige der zentralen Schwach- stellen deutlich thematisieren, weil diese wunden Punkte vom Phänotypus her auch schon an der Tagesordnung waren, lange bevor Merkel mit ihrer asym- metrischen Politikagenda den Konservatismus bis zur Unkenntlichkeit ver- unstaltet hat. Die Beiträge sind das Ergebnis einer Tagung, die unter dem Leittitel Konservatismus heute an der Katholischen Akademie in Stapelfeld in Zusam- menarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung vor dem Beginn der Pandemie stattgefunden hat. Das ursprünglich für 2020 avisierte Publikationsziel ist dann durch die Pandemie hinfällig geworden. Allerdings sind die meisten Beiträge hier in überarbeiteter Fassung dokumentiert, z.T. sogar bis in den Zeitraum des Jahres 2021 hinein. Für die nun bereits seit einiger Zeit mit deut- lich breiter Diskursresonanz und -beteiligung im öffentlichen Raum geführte Debatte, was denn konservativ in einer modernen also zeitgemäßen, Fassung beinhalten kann und sollte, bieten diese Beiträge allemal Erklärungspotenziale und Perspektiven, an denen man sich produktiv abarbeiten kann. Denn nichts wäre verkehrter, als wenn man (wieder einmal) den konservativen Grund- gedanken einfach für überholt halten würde. Peter Nitschke Vechta, im Oktober 2021 3 Vgl. hier Sascha Lehnartz: Nicht stark, nicht sexy, nicht relevant. In: Welt am Sonntag (24. Oktober 2021), Nr. 43, S. 28.

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