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Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft: Komplexitatsforschung in Deutschland auf dem Weg ins nachste Jahrhundert PDF

484 Pages·1999·16.2 MB·German
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Teil I Einfu¨hrung Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft Klaus Mainzer Lehrstuhl fu¨r Philosophie und Wissenschaftstheorie, Institut fu¨r Interdisziplin¨are Informatik, Universit¨at Augsburg, Universit¨atsstra(cid:25)e 10, D{86135 Augsburg, Germany, e-mail: [email protected] Zusammenfassung KomplexedynamischeSystemeundChaostheoriewerdenderzeit erfolgreich in verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften untersucht. Im Zeit- alter von Globalisierung und Vernetzung werden aber auch Chaos und Komplexit¨at unserer weltweiten sozialen, ¨okonomischen und ¨okologischen Probleme entdeckt. Das gemeinsamemethodischeThemaistdiefachu¨bergreifendeModellierungkomplexerSy- steme,derenDynamikdurchNichtlinearit¨atbestimmtist.Computersimulationenund Computerexperimente erweisen sich dabei als unverzichtbar. Allerdings sind unter- schiedliche Interpretationen und Me(cid:25)voraussetzungen zu beachten, um der jeweiligen Eigendynamik von physikalischen, chemischen, biologischen, psychischen und sozialen Systemengerechtzuwerden.DerfolgendeBeitraggibtdazueineEinfu¨hrungundzeigt zugleich, wie die Beitr¨age dieses Buches vernetzt sind. 1 Vom linearen zum nichtlinearen Denken Nach I. Newton (1643{1727) sind alle physikalischen Wirkungen durch Kr¨afte alsihrenUrsacheneindeutigdeterminiert.ZielderNaturforschung(philosophia ’ naturalis‘) ist es, diese Kr¨afte durch mathematische Gesetze (principia mathe- ’ matica‘)zubestimmen,umdamitallebeobachtbaren,vergangenenundzuku¨nf- tigen physikalischen Ereignisse erkl¨aren und berechnen zu k¨onnen. 100 Jahre sp¨ater wird daraus bei P.-S. de Laplace (1747-1827) der Glaube an eine omni- potenteBerechenbarkeitderNatur,wennimIdealfall(LaplacescherGeist‘)alle ’ Kraftgesetze und Anfangsbedingungen bekannt w¨aren. Diese Annahme gilt sicher fu¨r lineare dynamische Systeme wie einen harmo- nischen Oszillator. So besteht nach dem Hookeschen Gesetz eine lineare Bezie- hung F = −kx zwischen der Position x einer Masse m an einer Feder mit der Federkonstanten k auf einer reibungsfreien Oberfl¨ache und einer Kraft F. Nach Newtons 2. Mechanikaxiom ergibt sich daraus eine lineare Di(cid:11)erentialgleichung 2. Ordnung mx¨=−kx: Eine L¨osung x(t) des Bewegungsgesetzes l¨a(cid:25)t sich als Zeitreihe des Orts in Abh¨angigkeit von der Zeit t mit einem Anfangsort x(0) und einer Anfangsge- schwindigkeitx_(0)zumZeitpunktt=0darstellen.Dieserregul¨arenSchwingung entlang der Zeitachse entspricht eine geschlossene Bahn (Trajektorie‘) im Pha- ’ senraum, in dem alle Zust¨ande (x(t);x_(t)) des dynamischen Systems als Punkte 4 K. Mainzer dargestellt sind. Im Phasenraum erkennen wir also die Dynamik eines linearen Oszillators vollst¨andig, wie der Laplacesche Geist. Aus der Mathematik wissen wir: Lineare Gleichungen sind leicht zu l¨osen. Nichtlineare Gleichungen erlauben aber nicht immer beliebig genaue Berechen- barkeit,selbstmitunserenbestenComputern.EinBeispielsinddieMehrk¨orper- probleme der Himmelsmechanik, bei denen mehr als zwei Himmelsk¨orper gravi- tativ aufeinander einwirken. Nach Newtons Gravitationsgesetz und 2. Mecha- nikaxiom handelt es sich allgemein fu¨r n konstante Massen m ;::: ;m und n 1 n 3-dimensionale zeitabh¨angige Ortsfunktionen x ;::: ;x um nichtlineare Di(cid:11)e- 1 n rentialgleichungen 2. Ordnung Xn m m (x −x ) m x¨ = i j i j (1(cid:20)i(cid:20)n): i i jx −x j3 i j j6=i Wiederum ist die Bahn x (t) fu¨r Anfangsort x (0) und Anfangsgeschwindigkeit i i x_ (0) zum Zeitpunkt t = 0 zu bestimmen. W¨ahrend J. Bernoulli bereits 1710 i das Zweik¨orperproblem fu¨r n=2 (z.B. Bahn eines Planeten um die Sonne ohne Beru¨cksichtigung der u¨brigen Planeten) vollst¨andig l¨oste, blieb die L¨osung der nichtlinearen Gleichungen fu¨r n (cid:21) 3 eine mathematische Herausforderung. H. Poincar(cid:19)e (1892) zeigt erstmals, da(cid:25) bei einem nichtlinearen Mehrk¨orperproblem chaotischinstabileBahnenauftretenk¨onnen,dieemp(cid:12)ndlichvonihrenAnfangs- wertenabh¨angenundlangfristignichtvorausberechenbarsind.ZurVeranschau- lichung schneidet man eine geschlossene periodische Bahn im 3-dimensionalen Raum transversal mit einer vertikalen Ebene (Poincar(cid:19)e-Ebene‘) und studiert ’ in der N¨ahe ihres Schnittpunktes die Auftre(cid:11)punkte benachbarter Bahnen. Die Abfolge der Auftre(cid:11)punkte, die eine Bahn x(t) nacheinander auf der Poincar(cid:19)e- Ebene erzeugt, wird durch eine Di(cid:11)erenzengleichung beschrieben wie z.B. die H(cid:19)enonschen Formeln x(1) =f(x(1);x(2)); n+1 n n x(2) =g(x(1);x(2)) n+1 n n fu¨r die beiden nachfolgenden Koordinaten x(1) und x(2) des n-ten Auftre(cid:11)- n+1 n+1 punkts (x(1);x(2)) auf der Poincar(cid:19)e-Ebene mit nichtlinearen Funktionen f und n n g.ComputerberechnungendieserDi(cid:11)erenzengleichungenzeigendieKomplexit¨at fraktaler Punktmengen, deren bizarre Muster auf einer Poincar(cid:19)e-Ebene sich bei Vergr¨o(cid:25)erungen teilweise spiegelbildlich wiederholen. Man spricht dann von der Selbst¨ahnlichkeit bzw. Skaleninvarianz fraktaler Strukturen. Schlie(cid:25)lichbewiesenA.N.Kolmogorov(1954),V.I.Arnold(1963)undJ.K. Moser (1962) ihr beru¨hmtes KAM-Theorem: Trajektorien im Phasenraum der klassischen Mechanik sind weder vollst¨andig regul¨ar noch vollst¨andig irregul¨ar, sondernh¨angenemp(cid:12)ndlichvondengew¨ahltenAnfangsbedingungenab.Winzi- geAbweichungenvondenAnfangsdatenfu¨hrenzuv¨olligverschiedenenEntwick- lungstrajektorien (Schmetterlingse(cid:11)ekt‘). Daher k¨onnen die zuku¨nftigen Ent- ’ wicklungen in einem chaotischen (Hamiltonschen) System langfristig nicht vor- ausberechnet werden, obwohl sie mathematisch wohl de(cid:12)niert und determiniert sind. Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft 5 Historisch zeigte Poincar(cid:19)e u¨brigens keineswegs die prinzipielle Unl¨osbarkeit des nichtlinearen Mehrk¨orperproblems, wie h¨au(cid:12)g popul¨ar behauptet wird. Er bewiesnur,da(cid:25)esmiteineru¨blichenMethode(d.h.derBestimmungsogenannter erster Integrale) nicht l¨osbar ist [2] [6]. Wenig beachtet von der mathematischen Weltfand1991einchinesischerStudent[41]einekonvergierendePotenzreihe,die exaktdieBahnvonnK¨orpernbestimmt.SchwierigkeitenmitSingularit¨aten,die durchkollidierendeK¨orperundabruptendendeBahnenentstehenk¨onnten,ver- mied er durch einen mathematischen Trick. Er fu¨hrte eine variable Zeit ein, die umso langsamer l¨auft, je n¨aher sich die K¨orper kommen. Auf dieser Zeitskala kollidieren die K¨orper daher erst in unendlicher Zeit, also nie. Damit bleiben ihre Bahnen zwar im Prinzip berechenbar. Um aber nur kurze Bahnstu¨cke vor- ausberechnen zu k¨onnen, mu¨ssen Millionen von Potenzen aufsummiert werden. Die praktische Berechenbarkeit dieser L¨osung u¨bersteigt daher heutige Compu- terkapazit¨aten. Poincar(cid:19)esbleibenderVerdienstistseinEinstiegindieKomplexit¨atnichtlinea- rer und chaotischer Dynamiku¨berdasMehrk¨orperproblem.EinandererWegzu dieser Komplexit¨at wurde ebenfalls im 19. Jahrhundert gelegt. Gemeint ist die logistische Kurve, die durch eine nichtlineare Di(cid:11)erentialgleichung 1. Ordnung mit anf¨anglichem Wachstum einer Gr¨o(cid:25)e x und einem d¨ampfenden quadrati- schen Ru¨ckkopplungsterm beschrieben wird: x_ =kx−kx2 =kx(1−x): P. F. Verhulst untersuchte 1845 eine entsprechende nichtlineare Di(cid:11)erenzenglei- chung,umdasWachstumvonPopulationsgr¨o(cid:25)enx indern-tenGenerationfu¨r n n=0;1;::: und einem Wachstumsparameter k zu berechnen: x =kx (1−x ): n+1 n n Die Zeitreihen der Verhulst-Dynamik zeigen fu¨r schwaches Wachstum die be- kannte S-Kurve mit der S¨attigung in einer Gleichgewichtsgr¨o(cid:25)e, fu¨r st¨arkeres Wachstum eine Oszillation zwischen zwei Populationsgr¨o(cid:25)en und bei starkem Wachstum v¨ollig irregul¨are chaotische Schwankungen. Im Zustandsraum sieht man anschaulich, wie die Dynamik der Trajektorie im 1. Fall auf einen Fix- punktattraktor zielt und im 2. Fall zwischen zwei Zust¨anden schwankt. Im 3. Fall fu¨hren selbst eng benachbarte Anfangswerte nach wenigen Iterationsschrit- ten zu irregul¨ar auseinanderlaufenden Trajektorien [13]. Siegfried Gro(cid:25)mann, dessen Arbeiten ma(cid:25)geblich fu¨r die Entwicklung der physikalischen Chaosfor- schung in Deutschland waren, gibt einen Ausblick auf die aktuelle Forschung in seinem Beitrag Chaos (-Theorie) in der Physik: Wo stehen wir? Bei einer chaotischen Dynamik fu¨hren geringste Ver¨anderungen j(cid:14)x j einer 0 Anfangsbedingung x zu einer exponentiellen Vergr¨o(cid:25)erung j(cid:14)x j (cid:24) en(cid:3)j(cid:14)x j 0 n 0 mit einem positiven Lyapunov-Exponenten (cid:3). Im Computermodell fu¨hren dann geringste Ver¨anderungen von digitalisierten Anfangsdaten zu einer exponenti- ell wachsenden Rechenzeit zuku¨nftiger Daten, die Langzeitprognosen praktisch ausschlie(cid:25)t. So ben¨otigt in einer logistischen Gleichung mit k = 4 und endli- cher bin¨arer Anfangsbedingung x eine Voraussage des ersten Bits von x die 0 2n 6 K. Mainzer Kenntnis von etwa 2n =enln2 =en(cid:3) Bits von x . Wohlgemerkt: Dieses nichtli- n neare Wachstumsgesetz ist mathematisch vollst¨andig determiniert. Es geht also wieder um Grenzen der praktischen Berechenbarkeit durch Computer [32]. In komplexen Systemen mit vielen Elementen, wie sie uns bereits im Alltag begeg- nen, spielt Nichtlinearit¨at bei der Selbstorganisation von Ordnung eine wichtige Rolle. Davon handeln die folgenden Beispiele und Beitr¨age. 2 Komplexe Systeme in der Physik Einkomplexes Systembestehtallgemeinauseinergro(cid:25)enAnzahlnvonElemen- ten mit Index j = 1;::: ;n. Die Zust¨ande z der Elemente j bestimmen den j Zustandsvektor z = (z ;::: ;z ) des Systems. So ist in einem Planetensystem 1 n der Zustand z (t) des Planeten j zum Zeitpunkt t durch seinen Ort und seine j Geschwindigkeit bestimmt. Es kann sich aber auch um den Bewegungszustand eines Moleku¨ls in einem Gas, den Erregungszustand einer Nervenzelle in einem neuronalen Netz oder den Zustand einer Population in einem ¨okologischen Sy- stemhandeln.DieDynamikdesSystems,d.h.dieA¨nderungderSystemzust¨ande in der Zeit, wird durch Di(cid:11)erentialgleichungen beschrieben. Bei klassischen de- terministischen Prozessen haben sie die Form z_ = f (z ;::: ;z ), wobei jeder j j 1 n zuku¨nftige Zustand durch den Gegenwartszustand eindeutig bestimmt ist. Statt kontinuierlicher Prozesse lassen sich auch diskrete Prozesse als A¨nderung der Systemzust¨ande in Zeitschritte t=1;2;::: durch Di(cid:11)erenzengleichungen unter- suchen.DiegleichzeitigeWechselwirkungvielerElementewirddurchnichtlineare Funktionen erfa(cid:25)t. Zufallsereignisse (z.B. Brownsche Bewegung) werden durch zus¨atzliche Fluktuationsterme beru¨cksichtigt. Bei stochastischen Prozessen geht es um die zeitliche Ver¨anderung von Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktionen von Zust¨anden, die z.B. durch eine Mastergleichung beschrieben werden. DieThermodynamikuntersuchtkomplexeSysteme(z.B.Flu¨ssigkeiten,Gase) ausvielenElementen(z.B.Atome,Moleku¨le)mitvielenFreiheitsgradenderBe- wegung.MakroskopischeZust¨andedesSystems(z.B.W¨arme)werdenaufmikro- skopischeWechselwirkungenderElementezuru¨ckgefu¨hrtundnachdenGesetzen derstatistischenMechanikerkl¨art.DieThermodynamikbietetvieleBeispielevon komplexen Systemen, deren Elemente sich unter geeigneten Nebenbedingungen zu neuen Ordnungen selbstst¨andig zusammenfu¨gen. Ein allt¨agliches Beispiel ist ein Regentropfen auf einem Blatt mit seiner perfekten glatten Oberfl¨ache. Die Wassermoleku¨le am Rand des Tropfens be(cid:12)nden sich in einem h¨oheren Energie- zustand als im Innern. Da das System nach den Gesetzen der Thermodynamik einenZustandniedrigsterGesamtenergieeinnehmenmu(cid:25),minimiertderTropfen die Ausdehnung seiner energiereichen Oberfl¨ache und bildet so seine makrosko- pische Form. Bekannt sind auch die Eisblumen, zu denen sich Wassermoleku¨le in der N¨ahe des thermischen Gleichgewichts zusammenfu¨gen. Ein Ferromagnet l¨a(cid:25)t sich als ein komplexes System aus vielen kleinen Dipo- len (Spins‘) auf fassen, die in zwei Richtungen up‘ (") oder down‘ (#) zeigen ’ ’ ’ k¨onnen. Der Ordnungsparameter des Systems ist durch die Durchschnittsvertei- lung der Spinrichtungen bestimmt. Im Zustand niedrigster Energie zeigen die Spins alle in dieselbe Richtung. In diesem Fall ist das System magnetisiert. Bei Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft 7 sehr hoher Temperatur (jenseits des Curie-Punktes) ist die Verteilung der Spin- richtung zuf¨allig und irregul¨ar. In diesem Fall ist die thermische Energie als Ursache von Fluktuationen gr¨o(cid:25)er als die Energie der Wechselwirkungen. Wird die Temperatur als Kontrollparameter des Systems gesenkt, dann strebt das Sy- stemeinemGleichgewichtszustandkleinsterEnergieamCurie-Punktzu,indem dieDipoledasregul¨areOrdnungsmusterdergleichausgerichtetenDipolebilden. Isolierte Systeme ohne Sto(cid:11)- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt stre- ben nach dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik von selbst in den Gleichge- wichtszustand maximaler Entropie (z.B. strukturlose, irregul¨are Verteilung der Gasmoleku¨le in einem isolierten Beh¨alter). Abgeschlossene (konservative‘) Sy- ’ steme ohne Sto(cid:11)- aber mit Energieaustausch mit ihrer Umwelt h¨angen von ei- nem Kontrollparameter (z.B. die Temperatur bei einem Ferromagneten) ab. In der N¨ahe des thermischen Gleichgewichts fu¨gen sich die Systemelemente bei Absenkung auf einen kritischen Wert von selbst zu Ordnungs- bzw. Aggregats- zust¨anden niedriger Entropie und Energie zusammen. Diese Phasenu¨berg¨ange lassen sich nach L. D. Landau [20] durch Ordnungsparameter charakterisieren wiedieVerteilungvonDipolzust¨andenbeiFerromagneten.Phasenu¨berg¨angevon abgeschlossenen Systemen in der N¨ahe des thermischen Gleichgewichts werden auch als konservative Selbstorganisation bezeichnet. DiesesPrinzipderSelbstorganisation,wonachsichAtome,Moleku¨leundMo- leku¨lverb¨ande selbstst¨andig zu wohlgeordneten und funktionierenden Einheiten zusammenfu¨gen, (cid:12)ndet bereits technische Anwendung in der Materialforschung. Bei der Fertigung von Halbleiter-Kristallen wird davon ausgegangen, da(cid:25) sich Silicium- und Dotier-Atome von selbst in der gewu¨nschten Weise anordnen. Durch Selbstorganisation bilden sich z.B. winzige Graphitr¨ohren von einigen millionstel Millimeter Durchmesser (Nanor¨ohren), die zu den kleinsten jemals hergestelltenelektrischenDr¨ahtengeh¨oren.ImComputerbauwerdenmitzuneh- mender Miniaturisierung Chips notwendig, deren winzige Bauteile durch keine Maschinezusammengesetztwerdenk¨onnen.Siemu¨(cid:25)tensichselbernachdenGe- setzen der Selbstorganisation zu gr¨o(cid:25)eren Funktionseinheiten zusammenlagern. Wiewirsp¨atersehenwerden,geltendieGesetzekonservativerSelbstorganisation formal h¨au(cid:12)g auch, wenn die physikalischen Gr¨o(cid:25)en durch chemische, biologi- sche, medizinische oder technische Gr¨o(cid:25)en ersetzt werden. Fern des thermischen Gleichgewichtsh¨angenPhasenu¨berg¨angevonhochgra- dig nichtlinearen und dissipativen Mechanismen ab. Makroskopische Ordnungs- strukturen entstehen durch komplexe nichtlineare Wechselwirkungen mikrosko- pischer Elemente, wenn der Sto(cid:11)- und Energieaustausch des o(cid:11)enen (dissipati- ven) Systems mit seiner Umwelt kritische Werte erreicht. In diesem Fall wird die Stabilit¨at der Ordnungsstrukturen durch eine gewisse Balance von Nichtli- nearit¨atundDissipationgarantiert.ZustarkenichtlineareWechselwirkungoder Dissipation wu¨rde die Ordnung zerst¨oren. Ein bekanntes Beispiel ist das B(cid:19)enard-Experiment, wobei eine Flu¨ssigkeits- schicht von unten im Gravitationsfeld erw¨armt wird. Bei geringer Temperatur- di(cid:11)erenzmitderOberfl¨achewirddieW¨armedurchW¨armeleitungtransportiert, die viskosen Kr¨afte gewinnen und die Flu¨ssigkeit bleibt in Ruhe. Erreicht der Kontrollparameter der Temperaturdi(cid:11)erenz einen kritischen Wert, beginnt ei- 8 K. Mainzer ne makroskopische Rollbewegung der Flu¨ssigkeit. Dieses geordnete dynamische Muster von Konvektionsrollen wird also durch ¨au(cid:25)ere Energiezufuhr jenseits des thermischen Gleichgewichts aufrechterhalten. Es kommt zu einer r¨aumli- chenSymmetriebrechungderbeidenm¨oglichenRollrichtungen,diesichaufgrund geringster Anfangsfluktuationen aufbauen und daher nicht vorausgesagt wer- den k¨onnen. Anschaulich l¨a(cid:25)t sich ein Bifurkationsschema angeben, in dem der thermodynamische Zweig minimaler Entropieerzeugung instabil wird und zwei m¨oglichestation¨are(lokale)Ordnungsmusterauftretenk¨onnen|dielinks-oder rechtsdrehendenKonvektionsrollen.TreibtmandieErw¨armungnochweiterund damit das System immer weiter fort vom thermischen Gleichgewicht, entstehen zun¨achst quasi-oszillierende Wirbel und schlie(cid:25)lich v¨ollig irregul¨are und chaoti- sche Str¨omungen. Die nichtlinearen Gleichungen des B(cid:19)enard-Experiments wur- den von E. N. Lorenz (1964) auch verwendet, um die Dynamik des Wetters und der Atmosph¨are zu modellieren. Allgemein verstehen wir unter o(cid:11)enen (dissipativen‘) Systemen solche kom- ’ plexen Systeme, die im Sto(cid:11)- und Energieaustausch mit ihrer Umwelt sind. Ihre Dynamik genu¨gt einer Gleichung z_ =f(z;(cid:11))+F(t); wobei zuku¨nftige Zust¨ande nichtlinear vom Gegenwartszustand z und einem Kontrollparameter (cid:11) fu¨r Sto(cid:11)- und Energieaustausch abh¨angen. F(t) steht fu¨r innereoder¨au(cid:25)ereFluktuationendesSystems.Fu¨reinenKontrollwert(cid:11) seider 0 zugeh¨orige Zustand z bekannt. Bei A¨nderung von (cid:11) wird der alte Zustand z 0 0 instabil. Kleine Fluktuationen l¨osen kollektive Wechselwirkungen der Elemente aus, die sich in r¨aumlichen Kon(cid:12)gurationen (Moden‘) zeigen. Die Amplituden ’ einigerKon(cid:12)gurationensetzensichdurchundbestimmeneinenneuenGleichge- wichtszustand.H.Haken(1983)bezeichnetdieseAmplitudenalsOrdnungspara- meter, die makroskopischen Strukturen und Mustern entsprechen. Bei weiterer Ver¨anderung von (cid:11) kann die Dynamik eines o(cid:11)enen Systems immer neue lokale Gleichgewichtszust¨andeeinnehmen,diewiederinstabilwerden.Mandenkeetwa an die verschiedenen Oberfl¨achenmuster, die ein Flu(cid:25) hinter einem Bru¨ckenpfei- ler in Abh¨angigkeit von der steigenden Flu(cid:25)geschwindigkeit als Kontrollpara- meter bilden kann. Sie reichen von einem homogenen (Fixpunkt-)Zustand u¨ber oszillierende und quasi-oszillierende Wirbel bis zur chaotischen Strudelbildung. I. Prigogine u.a. sprechen von den Attraktoren eines dissipativen Systems, das vom thermodynamischen Gleichgewicht immer weiter fortgetrieben wird [36]. Die entsprechenden Phasenu¨berg¨ange werden auch als dissipative Selbstorgani- sation bezeichnet [26]. Die Beschreibung der makroskopischen Dynamik durch Ordnungsparameter bedeutet eine erhebliche Reduktion von Komplexit¨at gegenu¨ber der Mikroebene. DieAnzahlderOrdnungsparameter(cid:24) ;::: ;(cid:24) istn¨amlichi.a.wesentlichkleiner 1 m als die Anzahl der Mikrozust¨ande (z.B. einzelner Moleku¨le) z (t);::: ;z (t), die 1 n den Gesamtzustand z(t) eines komplexen Systems auf der Mikroebene bestim- men. In seinem Konzept der Synergetik spricht Haken (1983) anschaulich von einer Versklavung‘ der Mikrozust¨ande z (t) = f ((cid:24) ;::: ;(cid:24) ) durch die Ord- ’ i j 1 m nungsparameter in der N¨ahe von Instabilit¨atspunkten. Dabei unterscheidet sich Komplexe Systeme und Nichtlineare Dynamik in Natur und Gesellschaft 9 die Zeitskalierung auf der Makro- und Mikroebene insofern, als Ordnungspa- rameter nach St¨orungen langsamer relaxieren als die sich rasch ver¨andernden Mikrozust¨ande. In seinem Beitrag Synergetik: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft erinnert HermannHakenandieEntstehungseinesSynergtik-KonzeptsausdemGeistvon Komplexit¨atundnichtlinearerDynamikundfragtnachderReichweitevonSyn- ergetik fu¨r zuku¨nftige Forschung. Ju¨rgen Kurths, Norbert Seehafer und Frank Spahn zeigen in ihrem Beitrag, wie das interdisziplin¨are Fachgebiet der nichtli- nearen Dynamik heute Mathematik und Physik mit anderen Naturwissenschaf- ten verbindet. Holger Kantz analysiert die Methode der nichtlinearen Zeitrei- henanalyse in der Physik auf ihre Anwendungsm¨oglichkeiten und -grenzen hin. Eiichi R. Nakamura und T. Mori fragen nach vereinheitlichten Grundprinzi- pien der Komplexit¨at, aus denen die Selbstorganisation komplexer Systeme in Analogie zu den vereinheitlichten Prinzipien der Quantenfeldtheorien abgeleitet werden k¨onnte. 3 Komplexe Systeme in der Chemie InderChemiekannwieinderPhysikdieEntstehungvonOrdnunginkomplexen Systemen in der N¨ahe und fern des thermischen Gleichgewichts unterschieden werden.In der N¨ahe des thermischen Gleichgewichtsgehtesz.B.umdieEntste- hung von Kristallen und Festk¨orpern. Molekulare Bausteine k¨onnen sich nahe demGleichgewichtnachchemischenSchablonenzuRiesenmoleku¨lengruppieren (z.B.Polyoxometallate,Fullerene,Dendrimere)[35][30].Indersupramolekularen Chemie werden bereits molekulare Selbstorganisationsprozesse in der N¨ahe des thermischenGleichgewichtsausgenutzt,umhochkomplexeMoleku¨laggregateim Nanobereich zu erzeugen. Dabei werden kugelf¨ormige geschlossene Strukturen ebenso gebildet wie Gitter-, Leiter- und Spiralstrukturen, die der Erbsubstanz DNA ¨ahneln. Mit einer relativen Moleku¨lmasse von 24000 sind manche dieser Gebilde mit Proteinen und anderen biologischen Makromoleku¨len vergleichbar. Wegen ihrer optischen, elektrischen, magnetischen oder supraleitenden E(cid:11)ekte werden diese Riesenmoleku¨le gezielt fu¨r die Materialforschung und Pharmazie untersucht. Diese E(cid:11)ekte entsprechen makroskopischen Ordnungszust¨anden des GesamtsystemsanalogzurMagnetisierungeinesFerromagneten,dieausdenein- zelnen Bausteinen des komplexen Systems nicht ableitbar sind. Achim Mu¨ller und Peter K¨ogerler zeigen in ihrem Beitrag, wie sich chemische Strukturen mit zunehmender Gr¨o(cid:25)e und Komplexit¨at aus einfachen BausteineninderN¨ahedes thermischen Gleichgewichts bilden. Im thermischen Gleichgewicht sind die Entropieerzeugung, die Flu¨sse und die Kr¨afte chemischer Reaktionen jeweils gleich Null. In der N¨ahe des Gleichge- wichts,wodiethermodynamischenKr¨afteschwachsind,h¨angendieFlu¨sselinear von den Kr¨aften ab. Nach Onsager und Prigogine gilt hier deshalb die lineare Thermodynamik,nachderinGleichgewichtsn¨ahestation¨areZust¨andedurchmi- nimaleEntropieerzeugungentstehen.Eshandeltsichdannalsoumkonservative molekulare Selbstorganisation. 10 K. Mainzer Ino(cid:11)enen (dissipativen) chemischen Systemenk¨onnenPhasenu¨berg¨angewie in der Physik zu immer komplexeren makroskopischen Mustern statt(cid:12)nden, die durchnichtlinearechemischeReaktioneninAbh¨angigkeitvoneiner¨au(cid:25)erenZu- und Abfuhr von Sto(cid:11)en (Kontrollparameter‘) ausgel¨ost werden. So treten bei ’ der Belousov-Zhabotinski (BZ‘)-Reaktion konzentrisch pulsierende Ringe auf, ’ wenn von au(cid:25)en energiereiche Substanzen bis zu einem kritischen Kontrollwert zugefu¨hrt werden. Es handelt sich um ein dissipatives dynamisches Ordnungs- muster eines o(cid:11)enen Systems, das bei einem kritischen Kontrollwert von au(cid:25)en aufrechterhalten werden mu(cid:25). Der Wettbewerb der isolierten Ringe veranschau- lichtdieNichtlinearit¨atdiesesProzesses,dabeiLinearit¨atdieWellensichwiein der Optik u¨berlagern (superponieren‘) wu¨rden [17]. Auch in diesem Fall kann ’ das System durch Zufuhr von Energie immer weiter vom thermischen Gleichge- wichtfortgetriebenwerden,bisschlie(cid:25)lichv¨olligirregul¨areundchaotischeMuster auftreten. ImchemischenReaktionsschematretenNichtlinearit¨atenalsautokatalytische Prozesse auf, z.B. im vereinfachten Modell des Oregonators einer BZ-Reaktion der dritte Schritt mit bromiger S¨aure X =HBrO [39]: 2 A+X !X +P; X +Y !2P; A+X !2X +Z; 2X !A+P; B+Z !fY; wobei die variablen Sto(cid:11)e X = HBrO , Y = Br−, Z = Ce4+, P = HOBr 2 und die konstanten Sto(cid:11)e A = BrO− und B = BrMS sind. In der Sprache 3 der Mathematik erhalten wir drei nichtlineare Di(cid:11)erentialgleichungen fu¨r die Sto(cid:11)konzentrationen von X, Y und Z mit Geschwindigkeitskonstanten k der i i-ten Reaktionsgleichung: c_ =k c c −k c c +k c c −2k c2 ; X 1 A Y 2 X Y 3 A X 4 X c_ =−k c c −k c c +fk c c ; Y 1 A Y 2 X Y 5 B Z c_ =k c c −k c c : Z 3 A X 5 B Z Die Phasenu¨berg¨ange der BZ-Reaktion zeigen sich in typischen Zeitreihen mit periodischen Mustern bis zum Chaos. Eine Fourier-Analyse liefert die entspre- chendenEnergiespektrenderZeitreihen.ChemischeOszillationen,wiesiebeider BZ-Reaktionauftreten,lassensichdurchTrajektoriendarstellen,dieimPhasen- raumineinenGrenzzyklusmu¨nden.Poincar(cid:19)e-EbenenimPhasenraumschneiden Grenzzyklen transversal. Ihre Auftre(cid:11)punkte werden daher durch Di(cid:11)erenzen- gleichungen berechnet, die nachfolgende Punkte aufeinander abbilden. Chaoti- sche Trajektorien, die aus chaotischen Zeitreihen entstehen, erzeugen fraktale Punktmengen auf den Poincar(cid:19)e-Ebenen. Poincar(cid:19)e-Ebenen haben eine Dimensi- on weniger als der sie umgebende Phasenraum. Daher bedeutet das Studium nichtlinearer Dynamik an Poincar(cid:19)e-Ebenen durch Di(cid:11)erenzengleichungen auch eineReduktionvonKomplexit¨atgegenu¨berderAnalysevonTrajektorienimPha- senraumdurchDi(cid:11)erentialgleichungen.NichtnurinderChemieistesh¨au(cid:12)gein

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Komplexe dynamische Systeme werden in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen untersucht - von Physik, Chemie, Biologie und Medizin ?ber Kognitionswissenschaften und Psychologie bis zu Soziologie und ?konomie. Dieser Band zieht Bilanz und zeigt k?nftige Forschungsperspektiven auf. Gemeinsames methodi
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