Koalitionen in West- und Osteuropa Sabine Kropp, Suzanne S. Schüttemeyer, Roland Sturm (Hrsg.) Koalitionen in West und Osteuropa Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2002 Die Deutsche Bibliothek-CIP-Einheitsaufnahme ISBN 978-3-8100-3176-1 ISBN 978-3-663-10487-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-10487-2 Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier. © 2002 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhalt Sabine Kropp, Suzanne S. Schüttemeyer und Roland Sturm Koalitionen in West- und Osteuropa. Theoretische Überlegungen und Systematisierung des Vergleichs ....... 7 Wolfgang Rudzio Koalitionen in Deutschland: Flexibilität informellen Regierens ...... ...... 41 Anton Pe/inka Koalitionen in Österreich: Keine westeuropäische Normalität.............. 69 Klaus Armingeon Die Vier-Parteien-Koalition in der Schweiz: Gründe für extreme Regierungsstabilität .. .. .. .. .. .. .......... .................. ....... 89 Hans Keman Koalitionen in Belgien und in den Niederlanden: Spiegel des Wandels von Konkordanz- zu moderaten Konsensdemokratien.............................................................................. I 07 Uwelun Koalitionen in der V. Republik Frankreichs: Stabile Mehrheiten unter Exekutivdominanz ......................................... 137 Peter Weber Koalitionen in Italien: Frenetischer K(r)ampf im Netz der Parteiinteressen .............................. 167 Heinrich Pehle Koalitionen in Finnland und Schweden: Fortbestand der Unterschiede trotz Angleichung der Systeme .. .. .......... 197 6 Inhalt Detlef Jahn Koalitionen in Dänemark und Norwegen: Minderheitsregierungen als Normalfall ................................................. 219 Jürgen Dieringer Koalitionen in Ungarn und Polen: Mehr Eliten- als Parteienkonkurrenz? .......................... ...... .................... 249 Guido Tiemann und Detlef Jahn Koalitionen in den baltischen Staaten: Lehrstücke für die Bedeutung funktionierender Parteien....................... 271 Dorothee de Neve Koalitionen in Albanien, Bulgarien und Rumänien: Überwindung des regime divide mit Hindernissen................................ 301 Autorenverzeichnis . ..... .. .. .... ... ..... ....... ................... .... .. .. ..... .... .. .. .. .. .... .. . 343 Sabine Krapp, Suzanne S. Schüttemeyer und Roland Sturm Koalitionen in West- und Osteuropa. Theoretische Überlegungen und Systematisierung des Vergleichs 1. Desiderate der vergleichenden Koalitionsforschung Seit den frühen sechziger Jahren bildet die Koalitionsforschung einen eigen ständigen Zweig der Vergleichenden Regierungslehre, der mittlerweile eine beachtliche Anzahl an politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen hervor gebracht hat1• Dabei richtete die Koalitionsanalyse ihren Blick anfangs fast ausschließlich auf Fragen der Koalitionsbildung und blendete damit das breite Feld der Koalitionspolitik aus. Seit den siebziger Jahren traten Studien zur Koalitionsstabilität hinzu, ebenso Versuche, die Ursachen der Auflösung von Regierungsbündnissen zu systematisieren. Das Regierungshandeln von Koalitionen, die schwierigen Fragen der Konfliktschlichtung und Konsens bildung und damit einhergehende Aushandlungsprozesse in unterschiedlichen Politikbereichen (policies), wurden hingegen so gut wie nicht untersucht2. Außerdem fällt auf, dass die Koalitionsforschung bis heute regional weitge hend auf den Raum westeuropäischer Demokratien bezogen blieb, obwohl sich seit den demokratischen Umbrüchen in Osteuropa3 aber gerade durch die Einbeziehung dieser politischen Systeme neue Forschungsperspektiven er öffnen. Die Ursachen für diese Lücken in der vergleichenden Koalitionsfor schung liegen zum einen im schwierigen Zugang zum Untersuchungsgegen stand: Eine Analyse des Regierungshandeins setzt voraus, dass die an Koali tionen beteiligten Akteure dem interessierten Beobachter Einblick in den "in- Zum Forschungsstand vgl. Patricia Hogwood, Playing to win. Adapting concepts of ratio nality and utility for the German coalition context, in: Roland Sturm/Sabine Krapp (Hrsg.), Hinter den Kulissen von Regierungsbündnisscn. Koalitionspolitik in Bund, Ländern und Gemeinden, Baden-Baden 1999, S. 15-43. 2 Für Deutschland: Heribert Knarr, Der parlamentarische Entscheidungsprozeß während der Großen Koalition 1966 bis 1969. Struktur der Koalitionsfraktionen und ihr Verhältnis zur Regierung der Großen Koalition, Meisenheim am Glan 1975; zu haushaltspolitischen Ent scheidungsprozessen vgl. Sabine Kropp, Regieren in Koalitionen. Handlungsmuster und Entscheidungsbildung in deutschen Länderregierungen, Wiesbaden 2001, S. 202-288. 3 Nachfolgend werden der sprachlichen Einfachheit halber alle europäischen Länder des ehemaligen sowjetisch beherrschten Ostblocks als Osteuropa bezeichnet und nicht in Ost mittel-. Südost-und Osteuropa unterteilt. 8 Sabine Krapp, Suzanne S. Schüttemeyer und Roland Sturm neren Kreis" des Regierens - mithin in weitgehend informelle Verhandlun gen - gewähren. Aus diesem Grunde beschreiben auch die Untersuchungen, die sich dem "Koalitionsregieren" widmen, zumeist die besser fassbaren Aus formungen informellen Koalitionshandelns, etwa Koalitionsausschüsse, Gre mien, Koalitionsabkommen usw4. Damit zielen solche Studien nicht zufällig genau auf jenen Bereich informellen Regierens, der einen vergleichsweise hohen Grad an Institutionalisierung und Regelhaftigkeit aufweist, nicht aber auf Entscheidungsprozesse in einzelnen Politikfeldern. Dafür wären umfas sende Prozessanalysen nötig, in denen die verschiedenen institutionell zu meist abgrenzbaren, aber funktional ineinandergreifenden Arenen eines Re gierungssystems, über die sich Strategien von Koalitionsakteuren erstrecken, untersucht werden. Auch aus diesem Grunde sind international vergleichende Studien über Koalitionshandeln ein schwieriges Unterfangen. Eine regionale Ausdehnung der Koalitionsforschung in Richtung Osteu ropa setzt zudem voraus, dass hinreichende Informationen über die neu ent standenen Parteien- und Regierungssysteme verfügbar sind. Deshalb konnten die osteuropäischen Fälle erst zeitlich verzögert, in deutlichem Abstand zu den Systemwechseln, in einen Vergleich einbezogen werden. Hinzu kommt, dass Koalitions- und Transitionsanalysen in jeweils voneinander getrennten Forschungszusammenhängen betrieben werden, was die wechselseitige An schlussfähigkeit der Ergebnisse erschwert. Die in diesem Band versammelten Beiträge unternehmen erste Schritte, die beiden Forschungsdesiderate zu beheben. In ihnen werden sowohl die Entstehung als auch - soweit dies die Materiallage zulässt - die Regierungs praxis von Koalitionen in 19 Ländern untersucht. Koalitionsbildungen in westlichen Demokratien wurden in der Vergangenheit bereits ausführlich be schrieben, weshalb eine erneute Analyse der Erklärung bedarf. Unsere Heran gehensweise versucht, das wissenschaftliche Gesichtsfeld zu erweitern: An ders als die bislang erschienenen Darstellungen zur Koalitionspolitik be schäftigt sich der vorliegende Band eben nicht nur mit westeuropäischen, sondern auch mit osteuropäischen politischen Systemen. Auf dieser Grundla ge können einige Annahmen der Koalitionsforschung, die bisher als Gemein gut galten, überprüft beziehungsweise relativiert werden. Der Anteil der Darstellung, der sich in den einzelnen Beiträgen dem Koali tionshandeln widmet, fällt unterschiedlich umfangreich aus. Dies liegt zum einen an den beschriebenen Schwierigkeiten des Zugangs zum informellen Regierungshandeln. Zum anderen befinden sich nicht zuletzt die Parteiensys teme in vielen osteuropäischen Ländern in einem derart "flüssigen" Zustand, dass schon die Identifikation der Parteien und die Beobachtung der fortlau fenden Veränderungen enorme Forschungskapazitäten binden. Die Beiträge 4 Vgl. hierzu für Westeuropa umfassend: Wolfgang C. MülleriKaare Str~m (Hrsg.). Koalitio nen in Westeuropa. Bildung, Arbeitsweise und Beendigung, Wien 1997. Koalitionen in West- und Osteuropa 9 weisen somit ein gewisses Ungleichgewicht auf, das die Herausgeber gleich wohl in Kauf genommen haben. Denn dagegen steht der Vorteil, dass die Einbeziehung dieser Regierungssysteme es erlaubt, die Bedeutung institutio neller und politisch-kultureller Variablen sowie historischer Entwicklungen für Koalitionsbildungen und Koalitionshandeln deutlicher herauszuarbeiten. Selbst wenn aufgrund des schwierigen Zugangs zu Akteuren in allen west und osteuropäischen Regierungssystemen und wegen des anhaltenden insti tutionellen Wandels in Osteuropa Analysen zum Regierungshandeln nicht in allen Beiträgen in gleicher Intensität möglich waren, so schälten sich doch schon auf dieser noch immer unvollständigen Wissensgrundlage neuartige Arbeitshypothesen heraus, die zukünftige Schwerpunkte der Koalitionsfor schung umreißen. Ein Blick auf die Entwicklung der vergleichenden Koalitionsforschung, auf ihre Leistungen und Desiderate legt einen Teil der erklärenden Variablen offen, die für die nachfolgende Untersuchung von Koalitionsbildungen und Koalitionshandeln in West- und Osteuropa systematisiert werden. Lange Zeit war es Ziel der vergleichenden Koalitionsanalyse, die Zusammensetzung ei nes Regierungsbündnisses vorhersagen zu können. Über viele Jahre hinweg standen deshalb Bestrebungen im Vordergrund, die Prognosefähigkeit von Modellen der Koalitionsanalyse zu verbessern. Damit einher ging eine recht statische Betrachtungsweise von Koalitionsbildungen, da allein der Zeitpunkt des Zusammenschlusses von Parteien zu einer Regierung im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stand, nicht aber die diesem Ergebnis vorgelagerten Verhandlungen zwischen den Parteien oder die der "Parteienheirat" nachfol gende Regierungspraxis. Rückschlüsse auf den Koalitionsalltag ließen allen falls vergleichende Untersuchungen zur Koalitionsstabilität zu, deren Erklä rungen begrenzte Erkenntnisse über die Ursachen eines hohen Konfliktni veaus und erfolgloser Konfliktschlichtung brachten. Hinzu kam, dass Koalitionsbildungen anfangs aus dem Bestreben der Parteien erklärt wurden, ihren Gewinn, gemessen an Ministersesseln, zu ma ximieren. Diese auf Rational-Choice-Theorien beruhenden office-seeking Ansätze5 der frühen sechziger Jahre wurden schon bald durch die Annahme ergänzt, dass das Parteiensystem eine der wesentlichen Kontextvariablen für Koalitionsbildungen darstellt6. So wurde aus den programmatischen Distan zen (policy distances) zwischen den Parteien eines Parteiensystems, die zu meist - für viele politische Systeme nicht unproblematisch - anhand einer 5 Wi/liam Gamson, A Theory of Coalition Formation, in: American Sociological Review, 26 (1961 ). S. 373-382; William H. Riker, The Theory of Political Coalitions, New Haven 1962. 6 Vgl. z.B. die frühen Arbeiten von Lawrence C. Dodd, Coalitions in Parliamentary Govern ment, Princeton 1976; Abram De Swaan, Coalition Theories and Coalition Formations. Amsterdam 1973. 10 Sabine Krapp, Suzanne S. Schüttemeyer und Roland Sturm eindimensionalen Links-Rechts-Skala abgelesen wurden7, auf die wahrschein liche Zusammensetzung eines Bündnisses geschlossen. Koalitionsakteure wurden damit als policy-seeker gefasst, die danach streben, ihre politischen Präferenzen weitgehend ungefiltert durchzusetzen, indem sie mit solchen Partnern ein (möglichst kleinformatiges) Bündnis eingehen, die program matisch den eigenen Positionen am nächsten stehen. Durch die Kombination von office-seeking-Annahmen und policy-seeking Motiven erhöhte sich die Erklärungs- beziehungsweise Prognosekraft der Modelle deutlich von etwa 30 auf bis zu 50 Prozent. Diese Zahlen beschrei ben, gemessen an der Schlichtheit der verwendeten theoretischen Annahmen, durchaus gute Ergebnisse. Sie weisen darauf hin, dass die vermuteten Zu sammenhänge zwischen den Motivlagen der Akteure, dem Kontext des Par teiensystems und den Koalitionsbildungen von großer Relevanz sind8; insbe sondere jener zwischen den programmatischen Distanzen von Parteien und Koalitionsbildungen bedarf aber weiterer Überprüfung. Indem im Folgenden osteuropäische politische Systeme in den Vergleich einbezogen werden, kann zum Beispiel die in vielen Studien fast selbstverständlich angewandte Rechts Links-Skala problematisiert werden, die policy distances abbilden und Koali tionsbildungen wesentlich begründen soll. Die osteuropäischen Parteien systeme sind von gänzlich anderen gesellschaftlichen Konfliktlinien geprägt, als dies die meisten Theoreme der Koalitionsforschung unterstellen. Die Ko operation zwischen Parteien in Parlament und Regierung verweist somit oft auf andere Gründe, als bislang angenommen wurde. Die hohe nicht aufklärbare Varianz der beschriebenen koalitionstheoreti schen Annahmen - immerhin etwa 50 Prozent - deutete bereits darauf hin, dass allein mit akteurstheoretischen Rational-Choice-Ansätzen und der Struktur von Parteiensystemen Koalitionsbildungen, aber auch Fragen der Stabilität und des Handeins von Koalitionen nicht hinreichend erklärt werden können. Die Neuorientierung der politischen Theorie, die seit den achtziger Jahren die Bedeutung von Institutionen wieder entdeckte9, blieb deshalb nicht ohne Auswirkungen auf die vergleichende Koalitionsanalyse. Entsprechend versucht der eher induktiv vorgehende Zweig der Koalitionsforschung, Re gierungsbündnisse in ihrem realen Handlungsumfeld zu verstehen ("Europe an Politics Tradition")10, während der modellbildende Zweig institutionelle 7 Studien, die nicht nur eine eindimensionale Links-Rechts-Skala. sondern komplexe Cleava ges heranzogen, brachten treffsicherere Ergebnisse. Vgl. !an Budge/David Robertson/Derek Hearl, ldeology, Strategy, and Party Change: Spatial Analyses of Post-War Election Pro grammes in 19 Democracies, Cambridge 1987. 8 In diesem Sinne argumentiert auch Michael J. Laver, Reaction to thoughts by Miranda de Vries on doctoral research in progress, in: ECPR News, 10 (1999), S. 33. 9 Vgl. für viele: James G. March/Johan P. Olsen, Rediscovering Jnstitutions. The Organiza tional Basis of Politics, London 1989. 10 Vgl. für viele: Geojfrey Pridham, Coalitional Behaviour in Theory and Practice: an lnduc tive Model for Western Europe, Cambridge 1986; Wolfgang C. MülleriKaare Strr,Jm, a.a.O.