MATT TAIBBI KLEPTOPIA QaY mf k ? af Uf raf XmkljaY) J gdalac mf X 8Uf cYf Zßj Xme e nYjcUmZYf Aus dem Englischen von Heike Schlatterer und Anne Emmert Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Griftopia« bei Spiegel & Grau, einem Imprint von The Random House Publishing Group, New York, N.Y., USA. ? ßj e Yaf Y ? jUm) DYUf f Y 1. Auflage Deutsche Erstausgabe © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe Riemann Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH © 2010, 2011 Matt Taibbi Lektorat: Ralf Lay Satz: Barbara Rabus ISBN 978-3-641-08148-5 www.riemann-verlag.de Inhalt 1 Der Abzocker-Archipel gXYj Warum die Tea Party keine Rolle spielt 2 Das größte Arschloch im Universum 3 Die heiße Kartoffel – : Yj [jg(cid:84)Y Ue YjacUf akW]Y Bqhgl]YcYf kW]oaf XYd 4 Blowout – : aY Lg]klgZZVdUkY 5 Die ausgelagerte Autobahn – MlUUlkZgf Xk 6 Das Billionen-Dollar-Pflaster – : aY AYkmf X]YalkjYZgje 7 Die große amerikanische Spekulationsblasenmaschine Epilog Anmerkungen 1 Der Abzocker-Archipel gXYj Warum die Tea Party keine Rolle spielt »Herr Vorsitzender, liebe Delegierte, liebe Mitbürger …« Das Gebrüll der Menge ist ohrenbetäubend. Den einen Arm in die Hüfte gestemmt, während die Menschen um mich herum heftig drücken und schieben, gelingt es mir, in mein Notizbuch zu kritzeln: »Hier … gibt es absolut kein Halten mehr!« Es ist der 3. September 2008. Ich bin im Xcel Center von St. Paul, Minnesota, um mir die Dankesrede der frisch gekürten republikanischen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin anzuhören. Die Rede markiert den emotionalen Höhepunkt des gesamten Präsidentschaftswahlkampfs 2008, eines Wahlkampfs, der durch Tobsuchtsausbrüche und krudes Stammesdenken auf beiden Seiten gekennzeichnet ist. Nach achtzehn langen Monaten, die ich bereits in diesem trostlosen Umfeld berichte, kommt mir der Wahlkampf mittlerweile vor wie eine Endloskeilerei um allen möglichen Mumpitz, der über das Internet kräftig aufgeplustert wird. Wie die meisten Journalisten muss ich meine ganze Energie darauf verwenden nachzuvollziehen, wer wen mit Bob Dole verglichen hat, wessen Minister dabei erwischt wurde, wie er vor laufendem Mikro über Amerika hergezogen ist, wer Matt Drudge ein Bild von wem in traditioneller afrikanischer Tracht geschickt hat … und deshalb bin ich den weiten Weg gekommen, um mir die historische Palin-Rede anzuhören, ohne auch nur den leisesten Schimmer davon zu haben, dass die amerikanische Wirtschaft zwei Wochen später in der schlimmsten Finanzkatastrophe seit der Großen Depression implodieren wird. Wie die meisten Amerikaner kenne ich mich mit der Hochfinanz nicht aus. Seit Monaten gibt es nun schon Anzeichen für eine Finanzkrise: In der ersten Hälfte des Jahres 2008 war der Untergang von Bear Stearns zu beklagen, einer der fünf führenden US-Investmentbanken. Eine zweite Bank, Lehman Brothers, hatte in den ersten sechs Monaten des Jahres 73 Prozent ihres Werts eingebüßt und stand nur noch zwei Wochen vor dem Bankrott, der die weltweite Krise auslösen sollte. Im selben Zeitraum sollte eine dritte der fünf größten Investmentbanken, Merrill Lynch, infolge eines riesigen Lecks, das Jahre waghalsiger Spielerei und Schuldenmacherei gerissen hatte, gemeinsam mit Lehman Brothers untergehen. Merrill wurde später mit staatlicher Unterstützung mit der Bank of America verkuppelt, ein dubioser Hinterzimmer-Deal, der im Präsidentschaftswahlkampf später keine zentrale Rolle spielte. An der Wurzel all dieser Katastrophen standen der Zusammenbruch eines gigantischen Schneeballsystems auf dem amerikanischen Immobilienmarkt sowie eine riesige Investmentbetrugsblase, die fast ein Jahrzehnt lang die amerikanische Wirtschaft am Laufen gehalten hatte. Das ist eine ziemlich große Story, doch im Moment weiß ich davon noch nichts. Es spricht nicht gerade für den amerikanischen Journalismus, dass ich in dem Pressekorps, das 2008 vom Wahlkampf berichtet, mit meiner Ahnungslosigkeit durchaus nicht allein dastehe. Keiner von uns hat einen Schimmer von dem Kram. Wir sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, darauf zu achten, ob Kandidatin X beim Treueschwur die Hand auf dem Herzen hat oder Kandidat Y so oft in die Kirche geht, wie er behauptet. Der Anblick Palins auf dem Podium beeindruckt mich noch nicht sonderlich. Sie sieht aus wie die Chefstewardess auf einem Flug der Piedmont Airlines von Winston-Salem nach Cleveland – es fehlen nur die gerösteten Mandeln und das Polyestertuch. Mit der randlosen Brille der Junioren-Anti-Sex-Liga und der aufgeplusterten Hochfrisur wirkt das alles wie ein billiges Halloweenkostüm, das McCains Vizepräsidenten-Suchmannschaft nach Mitternacht bei Walgreens aufgetrieben hat: vierteiliges Kostüm, Modell »angepisste Vorstadtweiße«, 19,99 Dollar plus Mehrwertsteuer. Wenn ich meine Sportjournalistenbrille aufsetze (mit der man es als Berichterstatter problemlos durch den gesamten Präsidentschaftswahlkampf schafft, sofern man gern improvisiert), komme ich zunächst zu der Schlussfolgerung, dass John McCain das Spiel noch herumzureißen versucht, indem er diesen völlig übertriebenen Wahlkampfjoker bringt, um … ja, wen zu ködern? Frauen? Übergeile ältere Ehemänner? Piedmont-Kunden? Ich weiß noch nicht, wie das Endspiel ausgeht, aber nach McCains bis dahin grandios unbeholfener Wahlkampfvorstellung zu schließen, kann der Trick nicht besonders intelligent sein. Also, denke ich bei mir, höre ich mir diese Nullachtfünfzehn-Stümperei eine Weile an, nehme ein paar Zitate für meinen Artikel mit und schnappe mir auf dem Weg zum Ausgang noch zwei, drei Häppchen, ehe ich in mein Hotel zurückkehre. Wird mein Auto noch da sein, wenn ich rauskomme? Genau darum kreisen meine Gedanken, als Palin ihre Rede beginnt. Dann höre ich zu. Sie fängt mit ihren Referenzen an. Sie hat einen Sohn und einen Neffen in Uniform – nachprüfen. Einen Trupp patriotischer, mit Muttermilch gesäugter Kinder mit Hallmark-Channel-Namen (eine Bristol, eine 1 Willow mf X eine Piper, ein außergewöhnlicher Hattrick in Weiß, der Martin Mull alle Ehre machen würde) – nachprüfen. Der Ehemann: stummer Macho auf einem Motorschlitten – nachprüfen. So weit ist das alles übliche Wahlkampfdeko, doch dann fängt sie mit Harry Truman an: Meine Eltern sind heute Abend hier, und ich bin so stolz, die Tochter von Chuck und Sally Heath zu sein. Vor vielen Jahren nahm ein junger Landwirt und Kurzwarenhändler aus Missouri einen ungewöhnlichen Weg zur Vizepräsidentschaft. Ein Beobachter schrieb damals: »In unseren Kleinstädten wachsen gute Leute heran, in Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Würde.« Ich weiß schon, was für Leute er im Sinn hatte, als er Harry Truman lobte. Ich bin mit diesen Leuten aufgewachsen. Das sind die Leute, die besonders hart arbeiten in Amerika, die unsere Nahrungsmittel anbauen, unsere Fabriken am Laufen halten und in unseren Kriegen kämpfen. Sie lieben ihr Land in guten und in schlechten Zeiten, und sie sind immer stolz auf Amerika. Ich habe das Privileg genossen, den Großteil meines Lebens in einer Kleinstadt zu verbringen. Ich stehe während der Rede inmitten einer Horde Delegierter aus, wie ich glaube, Colorado, die bei den Worten »Das sind die Leute, die besonders hart arbeiten …« in Jubel ausbrechen. Ich sehe zu Palin auf, die nun so etwas wie ein zuversichtliches Grinsen auf dem Gesicht hat. Kein Feixen, das zu behaupten wäre unfair, aber sie strotzt vor Selbstbewusstsein, nachdem sie diese bedeutungsschwangeren Sätze gesprochen hat. Bis zum Ende ihrer Rede wird ihre Stimme nun sehr entschlossen klingen. Bevor ich es überhaupt merke, hat sie den gesprochenen Teil des Programms hinter sich gelassen und ist mühelos zur Signalübermittlung übergegangen, ein Stadium, das die meisten Politiker, wenn überhaupt, nur mit größter Anstrengung erreichen und eher unbeholfen absolvieren. Doch Palin ist alles andere als unbeholfen: In diesem Teil der Rede wirft sie ihren Anhängern vertraute Begriffe hin, auf die sie anspringen wie auf eine Hundepfeife, und vollführt dabei dreifache Rittberger und Salti rückwärts. Sie spricht über ihre Erfahrungen als Bürgermeisterin von Wasilla, Alaska: Eine Kleinstadtbürgermeisterin ist wahrscheinlich so etwas Ähnliches wie ein Wge e mf alq gj[Uf arYj, nur dass sie echte Verantwortung hat. Ich möchte hinzufügen, dass wir in einer Kleinstadt nicht so genau wissen, was wir von einem Kandidaten halten sollen, der die arbeitende Bevölkerung lobt, wenn sie zuhört, und berichtet, wie verbittert sie sich an ihre Religion und ihre Waffen klammert, wenn sie nicht zuhört. Uns sind Kandidaten lieber, die nicht in Scranton so über uns reden und in San Francisco anders. Die anwesenden Fernsehleute werden sich unweigerlich auf die Beleidigung Barack Obamas konzentrieren und etwas viel Wichtigeres übersehen: dass Palin, die noch vor wenigen Sekunden die Kleinstadtbewohner als »sie« bezeichnete, jetzt von »uns« bzw. »wir« spricht: Qaj wissen nicht, was oaj davon halten sollen, oaj wollen dies und jenes. Die Zuhörer, die zum »Wir« gehören, wissen Bescheid. Diejenigen, die – wie ich – nicht dazugehören, wissen sogar noch mehr. In einem landesweiten Wahlkampf, in dem die Kandidaten fast bis zur letzten Sekunde penibel jeden Verdacht meiden, dass sie womöglich nicht zu allen Amerikanern sprechen, ist Sarah Palins »Wir« ungewöhnlich. Cf klusivität, telegene Freundlichkeit und Friedfertigkeit sind üblicherweise die Währung des US- Wahlkämpfers. Der Kandidat sagt so wenig Konkretes wie irgend möglich und hofft, dass einigen der Unentschlossenen seine Zähne besser gefallen als die des Gegners – so läuft das Geschäft für gewöhnlich. Aber Palin hat diese Regeln kühn beiseitegefegt: Sie hält eine leidenschaftliche Bunkerrede vor einem seiner selbst im höchsten Maße bewussten »Wir«, das sich über seine Feinde definiert, von denen es umzingelt ist, Feinde, die Palin nun in ihrer zunehmend dreisten und feurigen Rede hochmütig einen nach dem anderen abwatscht. Sie ist bereits auf die »Experten« und die »Meinungsforscher« losgegangen, die McCain abgeschrieben haben, den Wge e mf alq gj[Uf arYj Obama, sogar die Stadt San Francisco (oaj wohnen ja auch eher in Scranton), aber wichtiger ist die Aussage, dass die Kleinstadtbewohner »besonders hart arbeiten«. Der Jubel bei diesen Worten galt der Anerkennung, denn Palin macht damit unmissverständlich klar, dass es Leute gibt, die nach Meinung ihrer Zuhörer eben nicht »besonders hart arbeiten«, nicht in unseren Kriegen kämpfen, nicht unser Land lieben. Und oaj wissen, wer XaY sind. Was Palin da macht, ist nichts Neues. Sie kopiert gewissermaßen Dick Nixons Schachzug, als er sich an die »vergessenen Amerikaner« richtete, die sogenannte
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