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Kleine griechische Literaturgeschichte: Von Homer bis zum Ende der Antike PDF

128 Pages·2012·5.98 MB·German
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Martin Hose Kleine griechische Literatu rgesch ichte Von Homer bis zum Ende der Antike Dieses Buch bietet eine glänzend geschriebene, sehr gut verständ­ liche Überblicksdarstellung der griechischen Literatur der Antike. Es bietet eine kurze Einführung in die literarischen Wesenszüge der jeweiligen Epoche (archaisches, klassisches, hellenistisches Griechenland sowie Kaiserzeit und Spätantike) und präsentiert die jeweiligen Autoren und ihre Werke. Die griechische Literatur von Homer bis etwa ins 6. Jahrhun­ dert n. Chr. ist - auch wenn dies zunächst überraschen mag - der historisch wirkungsmächtigste Bestandteil unserer Kultur. In die­ sem Zeitraum sind fast alle großen literarischen Formen entstan­ den; auch das abendländische Konzept der Wissenschaft stammt aus der Philosophie, die Teil der literarischen Hinterlassenschaft der Griechen ist. Und nicht zuletzt sind das Christentum und seine Theologie als Teil der griechischen Welt entstanden. Somit kommt der griechischen Literatur eine doppelte Bedeutung zu: Sie ist uns „das nächste Fremde“ und zugleich das Fundament un­ serer modernen Welt. Martin Hose, Jahrgang 1961, hat zahlreiche Publikationen zur griechischen Literatur vorgelegt und lehrt als ordentlicher Profes­ sor für Gräzistik an der Ludwig-Maximilians-Universität, Mün­ chen. Verlag C.H.Beck Für Hellmut Flashar Originalausgabe 2., durchgesehene Auflage. 2012 © Verlag C.H.Beck, München 1999 Satz, Druck u. Bindung: Druckerei C.H.Beck, Nördlingen Umschlagentwurf: malsyteufel, Willich Umschlagabbildung: Menander, griechischer Komödiendichter, mit Muse und Theatermasken Foto: © Alinari Archives-Anderson Archiv/Bridgeman Printed in Germany ISBN 978 3 406 63515 1 www. beck. de Vorwort Die hier vorliegende kleine Geschichte der griechischen Literatur entstand auf Anregung von Stefan von der Lahr. Er hat das Pro­ jekt mit Engagement und auch Geduld begleitet, als mein Orts­ wechsel von Greifswald nach München den ursprünglich vorge­ sehenen Termin der Fertigstellung verzögerte. Hierfür möchte ich ihm herzlich danken. Während der Arbeit an diesem Buch haben mir verschiedene Kollegen und Mitarbeiter in Greifswald und München durch Hinweise, Kritik und Vorschläge sehr geholfen: Markus Dubischar, Egon Flaig, Dirk Hansen, Werner Stegmaier, Gregor Vogt-Spira, Thomas Willi sowie Dorothea Gisdakis, Niklas Holzberg, Katharina Luchner, Peter von Möllendorff, Andreas Patzer und Sabine Vogt. Peter von Möllendorff und Sabine Vogt haben darüber hinaus mit viel Geschick ein ur­ sprünglich zu langes Skript mit Kürzungsvorschlägen erheblich lesbarer gestaltet. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflich­ tet. Die Widmung möchte einen persönlichen Dank ausdrücken. München, März 1999 Martin Hose Inhalt Einleitung................................................................................... 13 Die Archaische Zeit Seite 17 Das frühgriechische Epos....................................................... 17 Die Voraussetzungen der Homerischen Epen....................... 17 Die Epik..................................................................................... 20 Homer........................................................................................ 24 Hesiod........................................................................................ 36 Die frühgriechische Lyrik . . . ............................................... 42 Der historische Kontext............................................................ 44 Der Ort der Lyrik..................................................................... 45 Vom Lied zur Literatur: Die Verschriftlichung der Lyrik... 46 ' Die Lyrik im 7. Jahrhundert: Der Aristokrat als Dichter ... 49 Die Lyrik im 6. Jahrhundert: Die Professionalisierung des Dichtens............................................................................... 61 Die Lyrik an der Schwelle zur Klassik: Die Berufsdichter . . 70 Die Anfänge der Philosophie: Ein kurzes Kapitel über die Vorsokratiker Seite 74 Die Klassik Seite 85 Etappen..................................................................................... 86 Grundzüge der Literarhistorie in der Klassik....................... 89 Institutionalisierte Formen der Literatur: Dramen und Dithyramben..................................................... 91 Das Fest der Polis..................................................................... 91 9 Die Form des klassischen Dramas............................................ 94 Briefe mit und ohne Geheimnis.............................................. 192 Tragödie und Satyrspiel............................................................ 94 Philosophie als Literatur.......................................................... 196 Die Komödie............................................................................ 98 Literatur und Christentum..................................................... 212 Die Sterne des Theaters: Aischylos, Sophokles, Orientierung in der Zeit: Die Historiographie..................... 225 Euripides, Aristophanes und Menander................................... 102 Unterhaltsames I: Leid und Liebe - der Roman................... 229 Das verlorene Lied der Polis: Dithyrambos............................ 110 Unterhaltsames II: Die Dichtung............................................ 232 Der öffentliche Raum - Rede und Redekunst....................... 111 Orientierung.............................................. 120 Epilog: Wann endete die griechische Literatur? Zeit und Raum.......................................................................... 120 Seite 236 Der Mensch und die Welt.......................................................... 126 Die Fachschriftstellerei............................................................ 136 Anhang Die Literatur des Hellenismus Literaturhinweise..................................................................... 237 Seite 137 Abkürzungen............................................................................ 237 Eine neue Welt.......................................................................... 137 Literaturverzeichnis................................................................. 237 Höfe und ihre Literatur: Poesie und Wissen......................... 138 Register..................................................................................... 252 Die alte Welt: Nach Innen gekehrt......................................... 145 Ränder: Ägypter, Phönizier, Juden - und Römer................ 149 Die großen Synthesen des Späthellenismus............................ 153 Die Literatur der Kaiserzeit Seite 155 Der historische Rahmen.......................................................... 155 Die Pax Romana und die griechischen Städte....................... 155 Der spätantike Staat................................................................. 158 Die griechische Schule in der Kaiserzeit: Bildung und Literaturproduktion......................................... 162 Konstanten................................................................................. 162 Entwicklungsschritte................................................................. 167 Der Attizismus.......................................................................... 167 Die Zweite Sophistik................................................................. 169 Die Christen und die Schule...................: ................................ 184 Literarische Formen................................................................. 187 Grammatik................................................................................. 187 Wunder und Raritäten - gesammelt....................................... 189 10 Einleitung Wir leben im Zeitalter des Internet, der .Datenautobahnen“, der Globalisierung. Räume, die weit auseinander liegen, können per Knopfdruck verbunden werden. Kontinente rücken durch die modernen Verkehrsmittel immer näher zusammen, die Massen­ medien vermitteln per Satellit Bilder von der anderen Seite des Globus. Eine neue, umfassende,Weltkultur“, gefördert vom Mikro­ chip und der scheinbar unentrinnbaren Allmacht der Ökonomie, zeichnet sich ab. Die .schöne neue Welt“ birgt allerdings auch das Risiko einer Monotonisierung. Die sich angleichenden Lebens­ verhältnisse, die es etwa erlauben, in Hamburg indisch zu essen oder in Tokyo Brahms zu hören, wie die höchst begrüßenswerten Tendenzen zu Integrationen machen es zunehmend schwieriger, in der eigenen Gegenwart dem .Fremden“ zu begegnen, das man benötigt, um sich selbst zu finden. Hier liegt der tiefere Grund für das erkennbar wachsende Bedürfnis nach Geschichte. Denn in ihr' bietet sich die Chance, die fremden Welten zu finden, die man be­ nötigt, um über die eigene nachdenken zu können. Beschäftigt man sich mit der eigenen Geschichte, so gewinnt man zudem ein Verständnis dafür, wie die Gegenwart entstanden ist. Dieses Buch ist der Geschichte der griechischen Literatur ge­ widmet. Diese Literatur, die von Homer bis etwa ins 6. Jahr­ hundert unserer Zeit reicht, scheint uns heute fern zu liegen. Alt­ griechisch wird als Schulfach - leider - zunehmend eine Rarität. Dennoch ist diese Literatur der wohl historisch wirkungsmäch­ tigste Bestandteil unserer Kultur. Nahezu alle großen literarischen Formen sind in ihr geprägt worden, das abendländische Konzept der Wissenschaft stammt aus der Philosophie, die Teil der literari­ schen Hinterlassenschaft der Griechen ist. Auch das Christentum und seine Theologie sind als Teil der griechischen Welt entstan­ den. Die griechische Literatur hat damit eine doppelte Bedeutung: Sie ist für uns ,das nächste Fremde“ und zugleich Fundament un­ serer eigenen Welt. Was ist nun die griechischen Literatur? Zunächst einmal ist sie' 13 ein gewaltiger geistiger Zusammenhang von Texten, der im 8. Jh. niederschlug und gegenwärtig intensiv erforscht wird. Die kultur­ v. Chr. beginnt und sich, rein sprachlich betrachtet, bis ins 15. Jh. geschichtliche Bedeutung dieses Prozesses war gewaltig, und sie erstreckt. Allerdings ist es zweckmäßig, eine Zweiteilung vorzu­ läßt sich angemessen wohl nur mit dem jetzt angebrochenen nehmen und zwischen einer ,altgriechischen“ und einer byzantini­ Wandel zum Computerzeitalter vergleichen. schen Literatur zu unterscheiden. Die byzantinische Literatur 2. Daß die Texte der älteren griechischen Literatur erhalten beginnt strenggenommen mit der Gründung von Konstantinopel blieben, verdanken wir dem Hellenismus. Dort schuf man in (326) und endet mit dem Fall der Stadt (1453). Literarhistorisch Alexandria und Pergamon riesige Bibliotheken, in denen die ge­ ist es allerdings nicht sinnvoll, die griechische Literatur 325 enden samte verfügbare griechische Literatur gespeichert wurde. Dort zu lassen, da in vielen Gattungen ein klarer Bruch der Kontinuität entstand auch die Philologie, die wissenschaftliche Methode des erst im 6. Jh. einsetzt. Griechische Literatur bedeutet im folgen­ Umgangs mit Texten. Mit ihrer Hilfe wurden die Texte neu ediert, den also eine Literaturgeschichte von etwa 1400 Jahren. Diesen systematisiert und geordnet - so entstand ein rein literarisches Zeitraum pflegt man in der Alten Geschichte in vier Epochen zu Gattungssystem, das seither die Literaturwissenschaft prägt. Die gliedern: die Archaik (bis zu den Perserkriegen 490/480), die grundlegende Arbeit der hellenistischen Philologen hat die Über­ Klassik (von den Perserkriegen bis zum Alexanderzug 334), den lieferungsgeschichte so bestimmt, daß heute die Textgestalt, die sie Hellenismus (von Alexander bis zur Schlacht bei Actium 31 den Werken gaben, das Äußerste zu sein scheint, was mit moder­ v. Chr.) und die Kaiserzeit. Eine analoge Vierteilung läßt sich auch nen Methoden wieder erreicht werden kann. Nur selten fällt Licht literarhistorisch rechtfertigen (sie liegt diesem Buch zugrunde), auf den Überlieferungszustand der Texte in präalexandrinischer wenn diese Epochen nicht etwa primär durch den Stil definiert Zeit. Vereinzelte Papyri, etwa mit Homer-Texten, können dabei sind, sondern nach den Einrichtungen festgelegt werden, die die interessante Aufschlüsse geben (St. West 1967). In der Kaiserzeit Literaturproduktion prägen. Danach läßt sich literarhistorisch die vollzog sich ein weiterer Wandel, der aber für die Überlieferungs­ Archaik als Epoche der aristokratischen Festkultur bestimmen, geschichte weniger fundamental ist: An die Stelle der Papyrus­ für die Klassik ist die Polis maßgeblich, für den Hellenismus der rollen trat das Buch in heutiger Form, das es erlaubte, größere Hof und in der Kaiserzeit die Schule. Diese Einteilung gibt den Textmengen zu speichern. Die Textverluste, die sich bis in die by­ Blickwinkel vor, der die folgenden Kapitel bestimmt: Die Funkti­ zantinische Zeit ergaben, sind Resultat der sich verschlechternden on der Werke soll im Vordergrund stehen, ihre Bedeutung im materiellen Situation der Oberschichten, die die Buchkultur der Kontext der jeweiligen Kristallisationspunkte Fest, Polis, Hof Antike trugen, nicht aber Ausdruck etwa christlicher Zensur. und Schule skizziert werden. Ein wichtiger Teilaspekt der griechischen Literaturgeschichte ist der Medienwandel, der sich in ihr beobachten läßt und mit dem zugleich ihre Uberlieferungsgeschichte verbunden ist. 1. Erst im 5. Jh. wurde das ,Buch“, also die Buchrolle aus Papy­ rus, zum beherrschenden Medium literarischer Kommunikation. Zuvor war etwa 300 Jahre lang die Schrift lediglich für die Pro­ duktion, kaum aber für die Zirkulation von Texten eingesetzt worden. Das, was wir heute Literatur nennen, lebte von mündli­ cher Darbietung, wirkte von einem bestimmten ,Sitz im Leben“ aus. Der Wandel von einer solchen Mündlichkeit zur Schriftlich­ keit, die vom 5. Jh. an prägend wurde, schuf in der gesamten Ar­ chaik ein fruchtbares Spannungsverhältnis, das sich in den Texten 14 Die Archaische Zeit Das frühgriechische Epos „Den Groll besinge, Göttin, des Peleussohnes Achilleus ..." Am Anfang der europäischen Literatur steht dieser Vers. Er eröffnet die Ilias, das Epos, das von einer Episode des Trojanischen Krie­ ges handelt. Die Ilias ist das frühere der beiden Epen, die unter dem Namen Homers stehen. Bereits in der Antike glaubte man, keine älteren Dichtungen als die Homers zu kennen. Man be­ wunderte die poetischen Qualitäten dieser Epen um so mehr, als mit ihnen bereits am Beginn einer Gattungsentwicklung kaum noch übertreffbare Werke zu stehen schienen. Um die Mitte des 18.Jhs. wurde diese Betrachtungsweise besonders unter dem Ein­ fluß der englischen Literaturkritik wieder aufgegriffen und trug zur Ausbildung der Vorstellungen vom „Originalgenie“ bei. Hierbei sah man in den Homerischen Epen eine morgendliche- Frische und unreflektierte Natürlichkeit der Kunst. Zwar drohte der Dichter Homer zu verschwinden, als in den Prolegomena ad Homerum (1795) Friedrich August Wolf den Nachweis versuchte, daß die Epen erst in späterer Zeit aus Einzelliedern zusammenge­ setzt seien, und damit die „Homerische Frage“ aufwarf. Doch ist die Vorstellung prägend geblieben, mit den Epen am Beginn der Literaturgeschichte zu stehen. Im buchstäblichen Sinne ist das zutreffend. Falsch wäre es freilich, im Schöpfer der Ilias ein „Originalgenie“ zu sehen. Denn bereits die Ilias steht in einer rei­ chen Tradition der Ependichtung und gehört in den Kontext einer kulturell hochstehenden aristokratischen Gesellschaft. Die Voraussetzungen der Homerischen Epen Der historische Ort der Homerischen Epik ist das kleinasiatische Ionien des 8. und 7. Jahrhunderts. Die dort ansässige griechische Aristokratie war durch Wein- und Ölexport wohlhabend. Eine wechselvolle Geschichte lag hinter ihr: Die Griechen waren um 17 2000 v. Chr. in das heutige Griechenland eingewandert und hatten perte Kontinuität. In der Erinnerung dieser Aristokratie blieb ei­ dort insbesondere auf der Peloponnes und in Ostgriechenland ne Verbundenheit mit der verlorenen ,Heimat' auf der Peloponnes kleine Staaten gebildet, die vom Kontakt mit den hochentwickel­ erhalten. Die neuen Machtverhältnisse, die Herrschaft der Dorier ten Zivilisationen des Orients und des minoischen Kreta profi­ über die Peloponnes, suchte man zu ignorieren: So darf man tierten: Kretische Errungenschaften wie das Schriftsystem (Linear jedenfalls aus dem Umstand schließen, daß die Dorier in den B, das 1952 der englische Architekt Michael Ventris entziffern Homerischen Epen keine Rolle spielen. konnte) und das zentralistische Verwaltungsprinzip wurden über­ Freilich ist die ionische Kulturwelt des 8. Jhs. nicht nur durch nommen; die Zentren der Kleinstaaten, Mykene, Tiryns, Pylos den - nostalgischen - Blick nach Westen bestimmt. Sie stand auch und Amyklai auf der Peloponnes, Orchomenos, Theben und Gla den Einflüssen der Hochkulturen des Orients offen, die sich in Böotien, Athen in Attika, Iolkos in Thessalien, prosperierten. durch die Handelsbeziehungen geradezu notwendig ergaben. Be­ In einem wohl gemeinschaftlichen Unternehmen um 1450 erober­ sonders folgenreich wurden die Kontakte zu den Phöniziern. ten sie das minoische Kreta. Um 1200 erfolgte der Zusammen­ Denn die Phönizier bildeten nicht nur eine der Schaltstellen für bruch dieser achäischen Kultur - Achäer nannten sich nach he- den Warenverkehr zwischen den Griechen und dem Orient, viel­ thitischen Zeugnissen diese Griechen selbst. Die Zentren - mit mehr kam es auch zu einer Art Technologie- und Kulturtransfer. Ausnahme Athens - wurden zerstört, teils durch Erdbeben, teils Über sie wurden technische Fertigkeiten durch wandernde Hand­ durch äußere Feinde, durch die Seevölker und im Zusammenhang werker und medizinische wie magische Praktiken zusammen mit mit der „Dorischen Wanderung“, einer Migrationsbewegung, de­ den zugrundeliegenden religiösen Vorstellungen übertragen. Be­ ren Dimensionen bis heute unklar sind. Im Resultat gelangten bis­ sonders intensiv erfolgte dieser Austausch an Plätzen des direkten lang nördliche Griechenstämme, insbesondere die Dorier, in die Kontakts zwischen den beiden Kulturen: in Al Mina in Syrien, hochzivilisierten Regionen Mittelgriechenlands und der Pelopon­ wo seit dem 9. Jh. griechische Händler nachweisbar sind, und auf nes. Es scheint, daß beim Zusammenbruch der achäischen Kultur Zypern. Wahrscheinlich erkannten an diesen Orten die griechi­ die bisherige Führungsschicht entweder auswandeite, weil das En­ schen Kaufleute den Nutzen der phönizischen Konsonanten­ de der materiellen - und organisatorischen - Voraussetzungen ihrer schrift für Handelszwecke und nahmen eine Adaption dieser Kultur es unmöglich machte, die bisherigen Lebensumstände zu Schrift für ihre Sprache vor. Unklar ist bislang angesichts einiger erhalten, oder aber von den neuen Herren vertrieben wurde. Im unterschiedlicher Zuordnungen der Zeichen in verschiedenen Zeitraum von 1200 bis 800 v.Chr., den aufgrund fehlender Über­ lokalen griechischen Alphabeten, ob diese Adaption in einem lieferung so bezeichneten Dunklen Jahrhunderten, konnte nur einzigen Akt, in einer Art Prozeß oder mehrfach und unabhängig langsam der zivilisatorische Rückschlag überwunden werden. Grö­ vorgenommen wurde. Die Erinnerung jedenfalls, daß man die ßere Zentren entstanden nicht mehr. Indes bildeten die von der Schrift von den Phöniziern übernommen hatte, bewahrte die Umwälzung verschonten ,Randgebiete' Athen und Euböa eine Sprache lange Zeit: phoinikeia blieb bis zur Zeit Herodots (5. Jh. gewisse Ausnahme. Dorthin scheinen die Flüchtlinge und Vertrie­ v.Chr.) im Ionischen der terminus technicus für Schriftzeichen. benen gelangt zu sein; von hier aus wurden Kontakte zu anderen Der Zeitpunkt, an dem man die phönizischen Schriftzeichen über­ Regionen hergestellt, die als Refugien dienten, etwa nach Zypern. nahm und das griechische Alphabet schuf, läßt sich näherungs­ Von Attika aus, so die Überlieferung, wurden auch die Kolonie- weise bestimmen: Da Inschriftenfunde nicht über die 2. Hälfte Gründungen in Kleinasien ins Werk gesetzt. Es bildete sich ein des 8. Jahrhunderts hinausweisen und zudem bislang keine Kulturgebiet, das die Ägäis umschloß uhd in dem sich Euböa zu phrygische Inschrift (das phrygische Alphabet steht unter dem einer Drehscheibe für den Handel von Ost nach West entwickelte. Einfluß des griechischen) aufgetaucht ist, die als älter gelten Die Aristokratie nahm im Prozeß von Flucht und Neuansied- könnte, dürfte dieser Zeitpunkt in der 1. Hälfte des 8. Jahrhun­ lung eine Schlüsselrolle ein. Sie trug die Traditionen und verkör­ derts liegen. 18 19 Das Medium ,Schrift*, durch den Kulturtransfer importierte re­ siert vorgetragen wurden. Wichtigstes Hilfsmittel der Sänger für ligiöse Vorstellungen, die Erzählungen über beispielsweise akka- derartige Improvisationen war es, einen reichen Schatz von me­ dische Götter einschlossen, sowie Magie und Medizin gelangten trisch passenden Formeln, Resultate einer langen Sängertradition, also im Laufe des 8. Jahrhunderts in den ägäischen Raum. Wegen im Gedächtnis zu haben. Diese Formeln entlasteten den Sänger - dieser Einflüsse, die sich auch in Darstellungen und Stil der Va­ in der Situation des Vortrages. War er doch davon entbunden, für senmalerei äußern, bezeichnet man diese Zeit als ,orientalisierende die Schilderung typischer Szenen, Rüstung der Helden, Aus­ Epoche* (Burkert 1984). marsch, Zusammentreffen mit dem Feind, aber auch Mahlzeiten, Leichenfeiern, in jedem Fall eine neue Formulierung finden zu müssen. Man hat im Blick auf derartige Szenen geradezu von Ru­ Die Epik hepunkten und -plätzen gesprochen (Lesky 1966, 67), sowohl für In der wirtschaftlich und kulturell führenden Region dieses Rau­ den Sänger wie auch für seine Hörer. Jedoch bestand der epische mes, Ionien, traf nun die Schrift auf eine epische Dichtung mit ei­ Vers nicht vollständig aus Formeln, die aneinandergereiht wur­ ner langen Tradition. Aus einigen sprachlichen und motivischen den. Dieser Schluß schien sich aus den bahnbrechenden For­ Indizien der homerischen Epen darf man schließen, daß es bereits schungen zu ergeben, die der Amerikaner Milman Parry zwischen in der achäischen Kultur eine Heldendichtung gegeben hat. Hel­ 1928 und seinem frühen Tod 1935 inaugurierte. Parry untersuchte dendichtung, „deren einziges Thema im Grunde Tat und Ehre ist“ das traditionelle Epitheton in der Sprache Homers, also jene (Latacz 1985, 64), hat nicht nur eine unterhaltende Funktion. Sie ,schmückenden*, aber nicht immer sinnhaft notwendigen Beiwör­ trägt durch die Schilderung von heroischen Taten und Verhaltens­ ter im homerischen Vers (die .bauchigen* Schiffe, die .geflügelten* weisen zur Ausformung und Bestätigung eines aristokratischen Worte usw.). Hierbei nahm er die Ergebnisse auf, die man bei der Ideals und Selbstverständnisses bei, eine Funktion, die insbeson­ Sammlung der mündlichen, insbesondere südslavischen Helden­ dere für den nach Ionien gelangten Adel, der sich dort eine neue dichtung erzielt hatte, und entwickelte die Vorstellung von der Existenz schuf, bedeutsam seih mußte. Zugleich bewahrte die strengen Mündlichkeit der Dichtungen Homers, die sogenannte Epik Erinnerung an die Vergangenheit. Es ist bezeichnend, daß ,oral-poetry*-Theorie. Homer, so die von Parrys Schüler Lord die großen Epenstoffe um Hauptorte der alten achäischen Kultur (1953) formulierte These, habe seine Dichtungen mündlich kon­ kreisen: Theben, Mykene, Iolkos - und daß ferner in den Epen als zipiert und lediglich einem anderen diktiert. Ein derartiger Ansatz Siedlungsraum der Griechen noch nicht das kleinasiatische Ge­ schien mit einem Schlag die gesamte Homer-Analyse im Gefolge biet, sondern lediglich der achäische Raum erscheint. Freilich hat Wolfs überflüssig zu machen, weil ihr die Vorstellung von einer die Epik des 8. Jhs. keinesfalls konkrete historische Ereignisse der Literatursprache Homers mit all ihren Konsequenzen zugrunde achäischen Zeit bewahrt. Dagegen sprechen ihre äußere und inne­ liegt. Was nun die Formelhaftigkeit der homerischen Epik betrifft, re Form. muß durch neue Forschungen (Visser 1987, Latacz 1994 a) die Die äußere Form ist geprägt vom daktylischen Hexameter, ei­ Parrysche Vorstellung als überholt gelten, daß der Sänger lediglich nem Vers, der aus der sechsmaligen Wiederholung eines Daktylus, Formeln wie unveränderbare Bausteine nebeneinandersetzte. das heißt einer Elementenabfolge Länge / Kürze / Kürze (- U u), Vielmehr ist der homerische Vers das Resultat eines Generie­ besteht, wobei die ersten vier Daktylen auch durch einen Spon- rungs-Prozesses. Hierbei werden zwischen den gleichsam als Pfo­ deus (----) ersetzt werden können und der sechste Fuß stets sten dienenden sinntragenden Elementen eines Verses (Prädikat, zweisilbig ist (- x): Subjekt, Objekt) metrisch und inhaltlich passende Elemente (also - u u - u u - u u - u u - u u - x etwa die Epitheta) eingefügt, die den Vers vervollständigen. Diese Die epische Dichtung besteht aus langen Reihen solcher dakty­ Füllelemente sind nicht, wie Parry glaubte, unauflöslich mit den lischen Hexameter, die von Sängern (griechisch: aoidoi) improvi­ sinntragenden Elementen verbunden, sondern können vom Sän­ 20 21

Description:
Eine hübsche Zusammenfassung der griechischen Literatur und somit auch teilweise Kulturgeschichte. Von Anfang an ein sehr gut zusammenfassendes Buch, das einen umfassend über die klassischen Schriftstücke des Altertums informiert.
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