Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) Horst Hischer, Braunschweig Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) Geschichte der Mathematik kann ein spannender didaktischer Aspekt zur methodischen Gestaltung von Unterricht sein. Durch eine solche (cid:132)historische Verankerung(cid:147) wird eine in- nermathematische Beziehungshaltigkeit (FREUDENTHAL, WITTMANN) erreicht, die eine Be- legung der methodischen Variablen (cid:132)Verbindung(cid:147) von VOLLRATH darstellt. Das Konzept der historischen Verankerung wird an ausgew(cid:228)hlten Beispielen aus dem pro- p(cid:228)deutischen Analysisunterricht exemplarisch dargestellt: (cid:132)Die Entdeckung der Irrationa- lit(cid:228)t am Pentagramm und Pentagon(cid:147) ist ein Unterrichtsbeispiel f(cid:252)r den Sekundarbereich I, w(cid:228)hrend die (cid:132)Winkeldreiteilung(cid:147) und die (cid:132)Quadratur des Kreises(cid:147) als zwei der (cid:132)drei be- r(cid:252)hmten klassischen Probleme(cid:147) und ihre L(cid:246)sung mit Hilfe der Trisectrix bzw. der Quadratrix ein Unterrichtsbeispiel f(cid:252)r die gymnasiale Oberstufe bilden. 1 Das Pentagramm 1.1 Das Pentagramm in der Antike Ich beginne mit einem Sprung um rund 2500 Jahre zur(cid:252)ck in die Antike. 1 Abb. 1 zeigt das Erkennungszeichen der Pythagoreer, ei- nem von Pythagoras im 6. Jht. v. Chr. gegr(cid:252)ndeten Ge- heimbund, der bis in das 5. Jht. hinein in Unteritalien wirkte, erst in Kroton, dann in Metapont. Die Pythagoreer nannten dieses Zeichen Pentagramm, und als eine Figur, die in einem Zuge gezeichnet werden kann, hatte es f(cid:252)r sie eine geheimnisvolle Bedeutung. Es wurde Abb. 1: Pentagramm bzw. Pentalpha auch Pentalpha genannt, weil das gro(cid:223)e Α (alpha) f(cid:252)nf- mal erkennbar ist. Die magische Bedeutung des Pentagramms hat sich bis in die Neuzeit erhalten, und so gilt es im deutschen Sprachraum unter der Bezeichnung Drudenfu(cid:223) als Symbol zur Abwehr von b(cid:246)sen Geistern. Goethe verwendet es bekanntlich im Faust beim Dialog zwischen Mephistopheles und Faust ((cid:132)Faust I, Studierzimmer(cid:147); vgl. auch Abb. 2): 1 Dieses mathematikhistorische Beispiel hat bereits vor fast zwanzig Jahren Eingang in die Mathematikdidaktik gefunden ([HISCHER 1981], [ARTMANN 1982], [HISCHER & SCHEID 1982]). 97 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) Mephisto: Gesteh ichs nur! Da(cid:223) ich hinausspaziere, verbietet mir ein kleines Hindernis: Der Drudenfu(cid:223) auf Eurer Schwelle (cid:151) Faust: Das Pentagramma macht dir Pein? Ei, sage mir, du Sohn der H(cid:246)lle, Wenn das dich bannt, wie kamst du dann herein? Wie ward ein solcher Geist betrogen? Mephisto: Beschaut es recht! Es ist nicht gut gezogen; Abb. 2: Der eine Winkel, der nach au(cid:223)en zu, (cid:132)offener(cid:147) Drudenfu(cid:223) Ist, wie du siehst, ein wenig offen. des Mephistopheles Doch zur(cid:252)ck zu den Pythagoreern: Verbindet man die Sternspitzen des Pentagramms in Abb. 1, so entsteht ein regelm(cid:228)(cid:223)iges F(cid:252)nfeck, das sie Pentagon nannten (Abb. 3). Dessen Diagonalen bilden die Ausgangsfigur, also das Penta- gramm, und im Inneren entsteht (cid:150) als Schnittfigur (cid:150) ein neues, kleineres F(cid:252)nfeck. Abb. 3: Pentagon 1.2 Die Entdeckung der Irrationalit(cid:228)t durch Hippasos von Metapont im Jahre 1945 publizierte KURT VON FRITZ 2 die Auffas- sung, ein gewisser HIPPASOS VON METAPONT (ca. 450 v. Chr.) habe entdeckt, da(cid:223) Seite und Diagonale des regelm(cid:228)- (cid:223)igen F(cid:252)nfecks inkommensurabel sind, d. h. d m ≠ s n f(cid:252)r alle m, n ∈ N* (Abb. 4). W(cid:252)rde eine solche Gleichheit m(cid:246)glich sein, so g(cid:228)be es eine Strecke e mit s = me und d = ne , Abb. 4: Seite und und e hie(cid:223)e gemeinsames Ma(cid:223) von s und d. Diagonale des Pentagons Hierzu mu(cid:223) man zweierlei (cid:252)ber das Weltbild der Pythagoreer wissen: 2 [V. FRITZ 1945]; v. Fritz war Altphilologe (gem(cid:228)(cid:223) einem Hinweis von B. Artmann). 98 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) (1) (cid:132)Zahlen(cid:147) sind nur nat(cid:252)rliche Zahlen, die gr(cid:246)(cid:223)er als Eins sind, also die Menge {2, 3, 4, ...}. (2) »Alles ist Zahl«, d. h. (cid:132)alles(cid:147) ist als Verh(cid:228)ltnis von (cid:132)Zahlen(cid:147) im Sinne von (1) dar- stellbar. Somit m(cid:252)ssen wir aus heutiger Sicht sagen, da(cid:223) f(cid:252)r die Pythagoreer zwei beliebige gleichar- tige (cid:132)Gr(cid:246)(cid:223)en(cid:147) (im heutigen Verst(cid:228)ndnis) stets kommensurabel waren, also stets ein gemein- sames Ma(cid:223) besa(cid:223)en. Nat(cid:252)rlich verwendeten sie den Begriff (cid:132)kommensurabel(cid:147) nicht, weil f(cid:252)r sie (cid:132)Inkommensu- rabilit(cid:228)t(cid:147) nicht denkbar war (cid:150) denn ein Begriff ist nur dann sinnvoll, wenn er abgrenzend, also im w(cid:246)rtlichen Sinne (cid:132)definierend(cid:147) ist, andernfalls w(cid:228)re er inhaltsleer. Dadurch, da(cid:223) HIPPASOS nun am Pentagramm die Existenz der Inkommensurabilit(cid:228)t ent- deckt hatte, brach eine der philosophischen Grundlagen der Pythagoreer zusammen (n(cid:228)m- lich: »Alles ist Zahl«). Die Legende berichtet, da(cid:223) HIPPASOS von den G(cid:246)ttern zur Strafe f(cid:252)r diese frevelhafte Entdeckung mit dem Tod durch Schiffuntergang bestraft worden sei. In unserer heutigen Sichtweise m(cid:252)ssen wir also festhalten, da(cid:223) die Pythagoreer mit Hilfe ihrer (cid:132)Gr(cid:246)(cid:223)enverh(cid:228)ltnisse(cid:147) das beschrieben haben, wozu wir heute den angeordneten Halb- k(cid:246)rper der positiven rationalen Zahlen verwenden, w(cid:228)hrend infolge der Entdeckung von HIPPASOS ein Vorsto(cid:223) zur Irrationalit(cid:228)t und damit indirekt zum angeordneten Halbk(cid:246)rper der positiven reellen Zahlen erreicht wurde. Die (cid:220)berwindung des von HIPPASOS verur- sachten Grundlagenschocks gelang EUDOXOS im 4. Jht. v. Chr. mit seiner Proportionen- lehre, wie sie im 5. Buch der (cid:132)Elemente(cid:147) von EUKLID dargestellt ist. Die spannende Frage f(cid:252)r uns ist nun, wie es HIPPASOS gelang, festzustellen, da(cid:223) Seite und Diagonale im regelm(cid:228)(cid:223)igen F(cid:252)nfeck kein gemeinsames Ma(cid:223) besitzen! Er benutzte hierf(cid:252)r einen Algorithmus, und zwar die sog. Wechselwegnahme, die schon ca. 500 Jahre vor ihm den Handwerkern bekannt war, welche damit Ma(cid:223)bestimmungen durch- f(cid:252)hrten. Heute k(cid:246)nnen wir diesen Algorith- mus am besten mit einem Struktogramm ver- anschaulichen bzw. definieren (Abb. 5). Er liefert nicht nur ein gemeinsames Ma(cid:223), son- dern sogar das gr(cid:246)(cid:223)te gemeinsame Ma(cid:223) der beiden gleichartigen Gr(cid:246)(cid:223)en, das wir mit ggM(a; b) bezeichnen k(cid:246)nnen. Offensicht- lich ist dann ggM(a−b; b) = ggM(a; b), falls a > b . Bei Anwendung auf nat(cid:252)rliche Zahlen hei(cid:223)t Abb. 5: dieses Verfahren Euklidischer Algorithmus, Wechselwegnahme zur Ermittlung des gr(cid:246)(cid:223)ten welcher dann bekanntlich der Berechnung gemeinsamen Ma(cid:223)es zweier Gr(cid:246)(cid:223)en a und b des gr(cid:246)(cid:223)ten gemeinsamen Teilers dient. 99 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) Aus heutiger Sicht ist klar, da(cid:223) die Wechselwegnah- me genau dann nach endlich vielen Schritten ab- bricht, der Algorithmus also (cid:132)anh(cid:228)lt(cid:147), wenn das Gr(cid:246)(cid:223)enverh(cid:228)ltnis rational ist. HIPPASOS wendete nun die Wechselwegnahme auf das Pentagon an und entdeckte, da(cid:223) das Verfahren hier nicht abbricht, was wir wie folgt erkennen: Unter der Voraussetzung, da(cid:223) Diagonale und Seite eines Pentagons ein gemeinsames (also auch ein gr(cid:246)(cid:223)tes) Ma(cid:223) besitzen, gilt gem(cid:228)(cid:223) Abb. 6 wegen d = d − s und s = s − d 2 1 1 2 1 2 erkennbar: Abb. 6: Nichtabbrechen der Wechselwegnahme ggM(d ; s ) = ggM(d ; s ) beim Pentagon: ggM(d; s) = ggM(d; s) 1 1 2 2 1 1 2 2 Da dieses offensichtlich iterativ ad infinitum fort- setzbar ist, kann das Verfahren nicht abbrechen, und ein gemeinsames Ma(cid:223) ist nicht ermit- telbar, was zu der Erkenntnis f(cid:252)hrt: Diagonale und Seite eines regul(cid:228)ren F(cid:252)nfecks sind inkommensurabel. Bemerkenswert an diesem Existenzbeweis ist, da(cid:223) (cid:150) im Gegensatz zu den sonst (cid:252)blichen Beweisen (cid:150) nicht algebraisch argumentiert wird, sondern da(cid:223) lediglich ein (cid:132)nichtabbre- chender Algorithmus(cid:147) 3 angegeben wird. Doch welche irrationale Zahl ist denn hier eigentlich ent- deckt worden? Wir ordnen dem Ausgangsf(cid:252)nfeck mit der Seite s und der Diagonalen d in anderer Weise gem(cid:228)(cid:223) Abb. 7 ein kleineres F(cid:252)nfeck zu, das offenbar die Seite d − s und die Diagonale s hat. Aufgrund der ˜hnlichkeit dieser regul(cid:228)ren F(cid:252)nfecke gilt d s = , s d −s d 1 also mit x := dann x = oder x 2 − x − 1 = 0 , s x −1 Abb. 7: Zuordnung eines kleineren Pentagons zum Ausgangspentagon was auf d 1( ) = 5 +1 s 2 f(cid:252)hrt. 3 Es hat also Vorteile, auch solche nichtabbrechenden bzw. (cid:132)nicht anhaltenden(cid:147) Verfahren als (cid:132)Algorithmen(cid:147) zu be- zeichnen. Die Wechselwegnahme ist dann in diesem Sinne stets ein Algorithmus! 100 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) Wegen der Inkommensurabilit(cid:228)t von d und s ist diese Zahl schlie(cid:223)lich irrational! (cid:220)blicherweise weist man die Existenz irrationaler Zahlen am Beispiel von 2 nach, also an der Inkommensurabilit(cid:228)t von Seite und Diagonale eines Quadrats. Hierf(cid:252)r gibt es fol- gende bekannte Beweistypen: • Indirekter Beweis, der von Darstellbarkeit 2 = p mit ganzzahligen, teilerfremden p, q q ∈ N* gausgeht und zu einem Widerspruch f(cid:252)hrt. • Der konstruktive Beweis mittels Wechselwegnahme an einem Quadrat, der dem am F(cid:252)nfeck entspricht, jedoch nicht so ins Auge f(cid:228)llt wie dieser (Abb. 8). Vergleicht man jedoch das hohe Abstraktionsniveau dieser Irrationalit(cid:228)tsbeweise mit der Wechselwegnahme am Pentagon, so wird mit V. FRITZ plausibel, da(cid:223) die Irrationalit(cid:228)t wohl am regul(cid:228)ren F(cid:252)nfeck und nicht am Quadrat entdeckt worden ist, da(cid:223) also HIPPASOS als Entdecker der Irrationalit(cid:228)t gelten kann. 4 Abb. 8: Irrationalit(cid:228)t von 2 (cid:151) 1( ) Wechselwegnahme am Quadrat Die Zahl 5 +1 hat weitere interessante Eigen- 2 schaften, z. B.: 1. Mit x := d = 1( 5 +1) war ja x2 −x −1 = 0, also x2 = x +1 oder: s 2 1 1 1 x =1+ =1+ =1+ = x 1 1 K 1+ 1+ x 1 1+ x Damit ergibt sich: ( ) 1 1 5 +1 =1+ 2 1 1+ 1 1+ 1 1+ 1 1+ 1 1+ 1+ K 4 Einwandfrei bewiesen ist das jedoch bisher nicht (gem(cid:228)(cid:223) einer Mitteilung von B. Artmann). 101 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) 1( ) Diese am Pentagramm als L(cid:228)ngenverh(cid:228)ltnis (cid:132)einfach(cid:147) begr(cid:252)ndete Zahl 5 +1 2 hat also zugleich eine Darstellung, die sich als (cid:132)einfachster(cid:147) regul(cid:228)rer, unendlicher Kettenbruch erweist! 1 2. Aus x =1+ ergibt sich ein Approxi- x 1( ) mationsalgorithmus f(cid:252)r 5 +1 , der in 2 Abb. 9 in sch(cid:252)lergerechter Taschenrechner- Abb. 9: Taschenrechner-Algorithmus Notation dargestellt ist. zur Approximation von 1( 5 +1) 2 3. Goldener Schnitt: Die aus dem Pentagramm ab- d s gelesene Gleichung = l(cid:228)(cid:223)t sich als s d −s Streckenteilung interpretieren, die in der peri- kleischen Baukunst bedeutsam war (Abb. 10). Abb. 10: Goldener Schnitt 4. F(cid:252)r die Fibonacci-Folge a mit a :=a :=1 und a :=a +a gilt: n 0 1 n+2 n+1 n a 1( ) lim n+1 = 5 +1 a 2 n 1.3 Ein Weg zur Entdeckung der Irrationalit(cid:228)t (cid:252)ber das Pentagramm im Mathema- tikunterricht der Klasse 9 Diese historisch gepr(cid:228)gten Vorbetrachtungen haben nun Konsequenzen f(cid:252)r die Planung und Durchf(cid:252)hrung von Unterricht. Wenn es z. B. um die Erarbeitung des Begriffs der (cid:132)reel- len Zahlen(cid:147) geht, so kommt es offenbar auf die Abgrenzung der rationalen gegen(cid:252)ber den irrationalen Zahlen an, was man schon immer gern in Klasse 9 durch Unterscheidung von Kommensurabilit(cid:228)t und Inkommensurabilit(cid:228)t getan hat. Folgt man hierbei der mutma(cid:223)lichen historischen Entwicklung, so bietet sich folgender, von mir mehrfach erprobter, Unterrichtsgang an: • Kennenlernen der Wechselwegnahme und handelnde Anwendung: ggM, ggT. • Festigung der pythagoreischen Evidenz: Das ggM zu zwei gegebenen gleichartigen Gr(cid:246)(cid:223)en existiert immer und ist mit der Wechselwegnahme bestimmbar. 102 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) • Begegnung mit dem Pentagon und dem Pentagramm: − Entdeckung des Pentagons durch Ver- knoten eines Papierstreifens (Abb. 11). − Konstruktion eines Pentagons mit Geo- dreieck (Berechnung des Innenwinkels) und Zirkel. Abb. 11: (cid:132)Konstruktion(cid:147) eines Pentagons durch 5 Verknoten eines Papierstreifens − Einzeichnen der Diagonalen und Er- kennen des Penta- gramms. − Hinweis auf die magische Bedeutung (Pythagoreer, Drudenfu(cid:223), Faust, ...). − Entdeckung des inneren Pen- tagons (vgl. Abb. 3). − Entdeckung der Iteration und der un endlichen Figurenfolge ((cid:132)Folge der F(cid:252)nfecke(cid:147), Abb. Abb. 121:2 (cid:132))F olge der F(cid:252)nfecke(cid:147) (cid:150) 1. Version − Experimentieren mit der Wechselwegnahme am Pentagon, evtl. schon Formulierung einer Vermu- tung. • Darstellungswechsel: − Einmalige Wechselwegnahme liefert bereits s’ = d (cid:150) s und d’ = s (vgl. Abb. 7, aus der Abb. 13 entwickelt wird). − Erkennen, da(cid:223) bei unendlicher Figurenfolge die Wechselwegnahme (auch hier!) nicht abbricht (neue unendliche (cid:132)Figurenfolge(cid:147), vgl. Abb. 13). − Interpretation: d und s k(cid:246)nnen kein gemeinsa- mes Ma(cid:223) besitzen. − Umdeutung: Es gibt keine nat(cid:252)rlichen Zahlen m d m und n mit = . s n 5 Vgl. den Vorschlag in [Artmann 1992]. Abb. 13: (cid:132)Folge der F(cid:252)nfecke(cid:147) (cid:150) 2. Version 103 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) − Folgerung: Es mu(cid:223) ein (cid:132)Faktor(cid:147) k existieren mit d =k ⋅s, jedoch ist k ∉Q, − also: Die rationalen Zahlen reichen zur Beschreibung der Welt nicht aus! In diesem Sinne ergibt sich in Folge der Entdeckung der Inkommensuraibilit(cid:228)t die Existenz irrationaler Zahlen. Dabei ist es eine philosophische Frage, ob diese irrationalen Zahlen be- reits a priori vorhanden sind und (ebenfalls) von uns nur noch (cid:132)entdeckt(cid:147) werden, oder ob sie gem(cid:228)(cid:223) einer Auffassung von Mathematik nach Wittenberg als einer (cid:132)Wirklichkeit sui generis(cid:147) in Folge einer wie auch immer gearteten Entdeckung der Inkommensurabilit(cid:228)t von uns erfunden werden, um auf diese Weise (cid:150) wie (cid:252)blich (cid:150) eine konstatierte Unvollst(cid:228)ndig- keit des mathematischen Geb(cid:228)udes hinwegzudefinieren. Dadurch, da(cid:223) nun historisch gesehen die Irrationalit(cid:228)t (cid:252)ber die Inkommensurabilit(cid:228)t (cid:132)ent- deckt(cid:147) worden ist, spricht im Sinne Freudenthals vieles f(cid:252)r die didaktische Grundhaltung, da(cid:223) es im Rahmen von Begriffsbildung im Mathematikunterricht keine (cid:132)Einf(cid:252)hrung(cid:147) von reellen bzw. irrationalen Zahlen gibt, vielmehr sind diese schon vorhanden (sie sind ja (cid:132)reell(cid:147)). Sie werden also (cid:150) bei historisch-genetischem Unterrichtsaufbau (cid:150) nur entdeckt! 6 • Dieser historisch orientierte Aufbau (cid:132)entdeckenden Lernens(cid:147) kann im Sinne eines Spi- ralcurriculums genutzt werden: − Wechselwegnahme mit Cuisenaire-St(cid:228)ben (im Prinzip schon in der Grundschule, sonst auch als Einstieg sp(cid:228)testens in Klasse 9). − Wechselwegnahme als Algorithmus zur ggM- und ggT-Bestimmung (Kl. 6, sp(cid:228)- testens Kl. 9). − Experimentieren mit dem Pentagon und Pentagramm, Entdeckung unendlicher Fi- gurenfolgen, Entdeckung der Irrationalit(cid:228)t (Kl. 9). − Prop(cid:228)deutische Einf(cid:252)hrung von Folge und Grenzwert (Kl. 9). − Vertiefende Behandlung von Irrationalit(cid:228)t, Folge und Konvergenz anhand des Pentagramms (Oberstufe). 2 Didaktische Einordnung 2.1 Die (cid:132)methodischen Variablen(cid:147) nach VOLLRATH Nach der Vorstellung dieses ersten Beispiels m(cid:246)chte ich nun eine Einordnung in didakti- sche Kategorien vornehmen. Ich beziehe mich hierbei auf die von VOLLRATH eingef(cid:252)hrten (cid:132)methodischen Variablen(cid:147) 7, die der Beschreibung und Planung von Unterricht dienen sol- len (Abb. 14). Und zwar unterscheidet er zwei Klassen methodischer Variablen, n(cid:228)mlich • Unterrichtsphasen und • methodische Entscheidungen. 6 vgl. [FREUDENTHAL 1973, Bd. 1, S. 195] 7 [VOLLRATH 1976] 104 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) 8 Abb. 14: Methodische Variablen nach VOLLRATH und (cid:132)Historische Verankerung(cid:147) Beide Klassen sind miteinander verkn(cid:252)pft, denn methodische Entscheidungen beziehen sich auf die Gestaltung der Unterrichtsphasen. Als Unterrichtsphasen nennt VOLLRATH u. a. Algorithmen, Anwenden, Argumentieren, Begriffsentwicklung, Formulieren und Su- chen von Zusammenh(cid:228)ngen. Als methodische Entscheidungen f(cid:252)hrt er Probleme der Aus- wahl, der Dosierung, der Komposition und der Steuerung auf. F(cid:252)r das Thema dieser Abhandlung wird sich die Variable (cid:132)Komposition(cid:147) als bedeutsam er- weisen, und zwar im Zusammenhang mit (cid:132)Begriffsbildung(cid:147). VOLLRATH gliedert diese Va- riable in die Teilvariablen Zuordnung, Reihenfolge, Verbindung und Akzentuierung auf. Mit Verbindung meint er insbesondere Verbindungen des jeweiligen mathematischen Inhalts mit anderen, auch au(cid:223)ermathematischen Themenkreisen, also etwa das, was Erich WITTMANN mit Bezug auf Hans FREUDENTHAL (cid:132)Beziehungshaltigkeit(cid:147) genannt hat. 9 Auch der sog. (cid:132)Anwendungsorientierte Unterricht(cid:147) w(cid:252)rde eine Belegung dieser Variablen sein. Nun ist Beziehungshaltigkeit im w(cid:246)rtlichen Sinn das Gegenteil von Beziehungslosigkeit. Verbindung im Sinne von Beziehungshaltigkeit hat damit zur Folge, da(cid:223) der behandelte 8 [HISCHER 1981] 9 [WITTMANN 1974, S. 143] 105 Horst Hischer Klassische Probleme der Antike (cid:151) Beispiele zur (cid:132)Historischen Verankerung(cid:147) Themenkreis f(cid:252)r den Lernenden vielseitig und ganzheitlich erscheint, er wird damit leichter behalten (cid:132)als ein Aggregat von beziehungslosen Teilen(cid:147) (wie es der Lernpsychologe STRUNZ 1968 nannte). Deshalb pl(cid:228)diert WITTMANN auch f(cid:252)r die Einbettung der (cid:220)berlegungen in gr(cid:246)(cid:223)ere ganzheitliche Problemkontexte au(cid:223)erhalb oder innerhalb der Mathematik. 10 Dieses ist f(cid:252)r ihn eines der Kennzeichen der sog. genetischen Methode. 11 2.2 (cid:132)Historische Verankerung(cid:147) als innermathematische Beziehungshaltigkeit Der Begriff genetische Methode geht ja urspr(cid:252)nglich auf Felix KLEIN zur(cid:252)ck, der sich (cid:150) immerhin als bedeutender Mathematiker! (cid:150) zugleich in ganz besonderer Weise mit der Entwicklung des Mathematikunterrichts und der Lehrerbildung befa(cid:223)t hat. TOEPLITZ entwickelte 1927 die Vorstellungen von KLEIN weiter, indem er schrieb: 12 (...) alle diese Gegenst(cid:228)nde der Infinitesimalrechnung, die heute als kanonisierte Requisiten gelehrt werden, der Mittelwertsatz, die Taylorsche Reihe, der Kon- vergenzbegriff, das bestimmte Integral, vor allem der Differentialquotient selbst, und bei denen nirgends die Frage ber(cid:252)hrt wird: warum so? wie kommt man zu ihnen?, alle diese Requisiten also m(cid:252)ssen doch einmal Objekte eines spannenden Suchens, einer aufregenden Handlung gewesen sein, n(cid:228)mlich damals, als sie geschaffen wurden. Wenn man an diese Wurzeln der Begriffe zur(cid:252)ckginge, w(cid:252)rden der Staub der Zeiten, die Schrammen langer Abnutzung von ihnen abfallen, und sie w(cid:252)rden wieder als lebensvolle Wesen vor uns erstehen. Da in der P(cid:228)dagogischen Psychologie heute der Begriff (cid:132)genetische Methode(cid:147) anders als damals gebraucht wird, m(cid:246)chte ich statt dessen in W(cid:252)rdigung der Ideen von KLEIN und TOEPLITZ die Bezeichnung historische Verankerung w(cid:228)hlen, die ich im selben Zusammenhang bereits 1981 vorgeschlagen habe. 13 10 [WITTMANN 1974, S. 125] 11 a. a. O. 12 [TOEPLITZ 1927, S. 92], zitiert auch bei [WITTMANN 1974, 19785, S. 127] 13 [HISCHER 1981] 106
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