Klassische Politik Hans J. Lietzmann Peter Nitschke (Hrsg.) Klassische Politik Politikverständnisse von der Antike bis ins 19 . Jahrhundert Leske + Budrich, Opladen 2000 Gedruckt auf säurefreiem und alterungs beständigem Papier. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich. ISBN 978-3-8100-2597-5 ISBN 978-3-322-93221-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93221-1 © 2000 Leske + Budrich, Opladen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urhebenechtlich geschützt. Jede Verwertung au ßerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages un zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Inhaltsverzeichnis Hans J. Lietzmann I Peter Nitschke vorwort. ........................................................................................................... 7 Peter Weber-Schäfer Der Politikbegriff der Antike ........................................................................ 11 Daniela Deibel Zum Begriff des Politischen bei Platon ........................................................ 23 Klaus Zmeskal Der Politikbegriff in der römischen Republik .............................................. .41 Bettina Koch Zum mittelalterlichen Politikverständnis: Die Civitas als Fokus des Politischen im Defensor Pacis des Marsilius von Padua? ..................... .49 Horst Denzer Zum frühneuzeitlichen Politikverständnis .................................................... 71 Raimund Ottow Politikbegriffe der englischen Renaissance .................................................. 83 Klaus-Gert Lutterbeck Das Politische in der Moralphilosophie des Christian Thomasius. Zur Geschichte politischer Theoriebildung im Alten Reich ....................... 101 Olaf Asbach Politik und Wissenschaft in der französischen Frühaufklärung: Die "science politique" des AbM de Saint Pierre ....................................... 119 Peter Nitschke Politia, Politica und la Republique: Der Politikbegriff der Prämoderne ........................................................................................... 147 Christi ne Chwaszcza Politisches Handeln und politik-wissenschaftliches Denken in den Federalist Papers ............................................................... 161 Bernd Ludwig Politik als "ausübende Rechtslehre" Zum Politikverständnis Immanuel Kants .................................................... 175 Wilhelm Bleek Friedrich Christoph Dahlmanns Politikkonzeption ..................................... 201 Guido Wölky Das Politikverständnis von Wilhelm Roseher ............................................ 217 Literaturverzeichnis .................................................................................... 235 Autorenverzeichnis ..................................................................................... 253 Vorwort Politik ist heutzutage ein Allerweltsbegriff. Damit wird all das angezeigt, was mit Macht im öffentlichen Raum und der Repräsentation von Interessen, de ren Koordination und Leitung zu tun hat. Scheinbar eine Selbstverständlich keit. Das es sich allerdings mit dem Verständnis dessen, was Politik eigent lich ist (oder sein soll) etwas schwieriger gestaltet als es der Sprachgebrauch in den Medien gemeinhin darlegt, zeigt sich schon beim wissenschaftlichen Zugang zur Politik. Die deutsche Politikwissenschaft der Nachkriegszeit hat es sich angewöhnt im Kontext der angelsächsischen Interpretation den Poli tikbegriff in eine Trias von Bedeutungszuweisungen zu differenzieren, die sich in jedem Handbuch und in jeder Einführung zur Wissenschaft von der Politik wiederfindet: Politik ist demnach 1) eine Frage der Polity, der Verfas sungszustände (sprich: der Ordnung des Politischen), 2) eine Angelegenheit der Policy, welche die Materien des Politischen als konkrete Sachthemen be schreibt und schließlich 3) Politik selbst im Sinne der Verfahrenssetzung, der Macht- und Gestaltungschancen, spezifisch der Anwendung von Policy und Polity. Diese Trias hat bekanntlich ihren inhaltlichen wie begriffsgeschichtli chen Ursprung in der Politeia-Konzeption der griechischen Antike, hier ins besondere der Lehren von Platon und Aristoteles. Doch wie ist es dazu gekommen, daß aus einem ontologisch einheitlich gesehenen Gesamtverständnis von Polis, ihrer Verfaßtheit und ihrer Macht und Handlungschancen eine sich ausdifferenzierende Vielfalt von Zuschrei bungsmustern von Politikbegriffen entstanden ist? -Wieso beinhalten heutige Zuschreibungen ganz selbstverständlich das Öffentliche als Herd des Politi schen und nicht etwa die anthropogene Verfaßtheit des Menschen selbst, wie die antiken Klassiker dies gesehen haben? -Was überhaupt ist der öffentliche Raum, dieses spezifische und so selbstverständlich angenommene Terrain, auf das sich alle modernen Überlegungen zum Begriff der Politik mitunter vorschnell kaprizieren? - Und vor allem: welche Epistemologie liegt dem zu grunde? Das alles sind Fragen, die an das fach wissenschaftliche Selbstverständnis von Politik rühren. Fragen dieser Art und ihre Beantwortungen sind im Sinne der Selbstinterpretation der Politikwissenschaft in gewissen Zeitabständen immer wieder neu zu formulieren. Nicht als Selbstbespiegelung einer eitlen Heuristik wegen, sondern als kognitivernstzunehmender Versuch, dem Ge genstand des Faches immer wieder neu zu begegnen und sich mit den jeweils vorherrschenden Lehrsätzen nicht zufrieden zu geben. Die hier vorliegenden dreizehn Beiträge versuchen je auf ihre Weise das trennende und das Verbindende im Politikbegriff herauszukristallisieren - mit einem jeweils punktuellen oder etwas struktureller angelegten Zugriff in Zeit und Raum. 8 Hans J. Lietzmann / Peter Nitschke Hervorgegangen sind diese Arbeiten aus einer Tagung des Arbeitskreises der "Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft", der sich mit der Geschichte der Politikwissenschaft und hier besonders der Geschichte der politischen Theorie befaßt. In der Summe finden sich annähernd alle dort ge haltenen Vorträge in diesem Band wieder. Hinzu kommen noch Beiträge, die von den Herausgebern für bestimmte Themen gewonnen wurden. Auch - oder gerade weil damit mehr als zwei Jahrtausende an Betrachtungsweisen über den Politikbegriff in den vorliegenden Band mit ein fließen, so kann doch kein Anspruch auf Vollständigkeit damit verbunden sein. Ihn zu erhe ben, wäre allzu vermessen. Dafür wurde ein Schwerpunkt in der sogenannten frühen Neu-Zeit zwischen dem 17. und dem beginnenden 18. Jahrhundert ge legt. Und auch die Dokumentation dreier Beiträge zum griechisch-römischen Verständnis in der Antike soll ausdrücklich als Anstoß zu dem eigentlichen Zweck des hier vorgelegten Bandes dienen: zu einer erneuten und gründli chen Debatte über die epistemologischen Grundlagen des modernen Politik begriffs beizutragen - auch und gerade, soweit er sich heutzutage in vieler Hinsicht von dem unterscheiden sollte, was hier unter der Leitlinie einer klas sischen Politik dokumentiert wird. Denn die klassische Politik, das zumindest wird im roten Faden der einzelnen Beiträge deutlich, basiert auf der Grundla ge einer metaphysisch apostrophierten Synthese von Utilität und Normativität dessen, was man als Politik bezeichnet. Nicht zuletzt in der deutschen Lehre der sogenannten Staatswissenschaft hält sich dieser Duktus über die Aufklä rung hinweg bis weit ins 19. Jahrhundert hinein - auch wenn andererseits die skeptische Entschleierung des metaphysischen Zugangs (und damit die Posi tivierung - aber auch die Utilisierung der Politik) bereits spätestens seit dem 16. Jahrhundert erfolgreich voranschreitet. Von beiden Seiten präsentiert der Band etwas; insofern verbietet sich eine lineare Interpretation in der fachwis senschaftlichen Selbstdiagnose. Die Codierungen des Begriffsbildes sind oft ambivalenter, als die Einführungsbücher in die Politikwissenschaft dies glau ben machen. Sie sind vor allem nicht teleologisch: denn der Endzweck der Politik bleibt gerade gegenüber der Theologie vage. Sicherlich ist Politik von Nutzen, doch in weIcher Hinsicht, ob als Ziel-Mittel-Kategorie oder als Selbstzweck, ob als funktionale Notwendigkeit um den Preis des Überlebens oder als Anleitung zum richtigen (besseren) Tun, daß bleibt so fabelhaft schillernd, wie die vielfältigen Interpretationen zum zentralen Referenzge genstand, nämlich der Auslegung des Naturrechts. Wenn dabei also etwas deutlich wird, dann doch der Siegeszug der Politik als einer Fundamentalka tegorie menschlicher Existenz - mit all ihren Schattenseiten, wenn es ums Herrschen geht, aber gerade deswegen heftig diskutiert. Die vorliegenden Beiträge können und wollen nur Ausschnitte aus die sem über Zeit und Raum hinweg gehenden klassischen Diskurs geben: klas sisch allemal, weil sie zu Leitbilder nachfolgendetEpochen, z.T. bis auf den heutigen Tag geworden sind. Insofern sind auch die Literaturhinweise nicht an das jeweilige Einzelthema gebunden worden, sondern in einer Gesamtbib- Vorwort 9 liographie am Ende des Bandes dokumentiert. Damit ist dann indirekt doch so etwas wie ein Reader auf die Fragestellung hin formuliert, der sich auch für den schnellen Überblick des Laien oder des Fachkundigen bewähren mag. Zu guter Letzt sei allen gedankt, die an der zügigen Umsetzung des Ban des Ihren Beitrag geleistet haben. An erster Stelle Autoren und Autorinnen selbst, denn ohne ihre engagierte und disziplinierte Arbeit wäre dieser Band nicht so zeitig voran gekommen. Gleiches gilt auch für die Kräfte des Schreibbüros in Vechta, namentlich Frau Marianne Averbeck und Frau Rita Becker, die in bewährter Manier die Standards in die Texte brachten. Und dann war da auch noch die studentische Hilfskraft Susanne de Vries, der bei den Korrekturen (fast) gar kein Unsinn verborgen blieb. Hans J. Lietzmann / Peter Nitschke München / Vechta im März 2000 Der Politikbegriff der Antike Peter Weber-Schäfer Wenn ich - einem häufiger anzutreffenden Fehlschluß folgend - die Termi nologie einer Sprache mit der in ihr möglichen Begriffsbildung gleichsetzen wollte, müßte ich meine Bemerkungen mit der Feststellung einleiten - und wohl auch gleich wieder beenden -, daß die griechisch-römische Antike nicht über einen Politikbegriff verfügte. Denn in der Tat gibt es weder im Griechi schen noch im Lateinischen ein Substantiv, das unserem Wort "Politik" ent spräche. Das klassische Griechisch kannte zwar das vom Begriff des Bürgers (polites) als Mitglied der Gemeinschaft der polis abgeleitete Adjektiv politi kos, das wir mit "politisch" übersetzen können, es kannte das politeuma. die Bürgerschaft als Verband der Bürger einer polis, und es kannte die politeia als die innere Ordnung oder "Verfassung" eben dieser polis, aber es kannte kein Wort für Politik. Ähnliches scheint im Lateinischen der Fall zu sein. Je denfalls führt ein Standardwerk wie Georges' Deutsch-Lateinisches Hand wörterbuch als Übersetzung für das deutsche Wort "Politik" nur eher mühsa me Umschreibungen an, wie ratio rei publicae, was ein wenig nach "Staats räson" klingt, oder rei publicae gerendae ratio et prudentia, in etwa: "Ver nunft und Klugheit bei der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten" (Geor ges 1991: s.vv. "Politik", "Staatswissenschaft"). Auch das von der Vatikani schen Bibliothek herausgegebene Lexicon recentis latinitatis kommt hier nicht über Umschreibungen wie ratio politica oder res politica hinaus (Egger 1998: s. v. "Politik"). Aber das braucht uns nicht abzuschrecken, denn auch wenn es weder ein griechisches noch ein lateinisches Substantiv für "Politik" gibt, existiert in der griechischen politischen Theorie doch ein Terminus, über den wir uns dem Politikbegriff der Antike nähern können: der Terminus ko inonia politike oder "politische Gemeinschaft". Das Politische wird greifbar in einer besonderen Form der Gemeinschaft, eben der Gemeinschaft, die zwi schen Bürgern der gleichen polis besteht. Auffällig an diesem Gemein schaftsbegriff ist von moderner Warte aus gesehen, daß er im Vergleich mit seiner neuzeitlichen Ausdifferenzierung extrem kompakt gefaßt ist. Der anti ke Begriff der Gemeinschaft neigt in weitaus geringerem Maße zur termino logischen Ausdifferenzierung verschiedenartiger Formen der Gemeinsamkeit zwischen Menschen, als dies modernen Konzepten von Gemeinschaft ent spricht. Und mit dieser terminologischen Kompaktheit geht seine Fähigkeit einher, Dimensionen menschlicher Gemeinschaft mit auszudrücken, die im Laufe der neuzeitlichen Begriffsentwicklung in den Hintergrund getreten oder verloren gegangen sind. Der kompakteren terminologischen Formulie rung entspricht ein weiterer begrifflicher Inhalt. 12 Peter Weber-Schäfer Das im Griechischen für den Begriff der Gemeinschaft verwendete Wort koinonia scheint ursprünglich dem gehobenen Stil der Kultsprache zu ent stammen, so wenn in der Ersten Pythischen Ode Pindars der Tyrann Phalaris von Akragas um seiner Grausamkeit willen aus der "trauten Gemeinschaft" (koinonia malthaka) der Harfenisten ausgeschlossen wird (Pindar 1967: 110, v. 96-97). Der kultische Kontext des Begriffs ist es auch, der die noch bei Epiktet auftretende Bezeichnung eines Kultverbandes als eine pros ton Dia koinonia, also eine "Gemeinschaft um des Zeus willen" ermöglicht (Arrian 1894: 2.19.27). Zum Fachterminus der Logik und der Ontologie einerseits, zugleich aber mit anderer inhaltlicher Akzentuierung auch der praktischen Philosophie und Politikwissenschaft wird das Wort bei Platon und Xenophon, insbesondere aber in dem ersten systematischen Diskurs zur politischen Phi losophie in der Nikomachischen Ethik und der Politik des Aristoteles. In sei ner lateinischen Entsprechung communitas hat es bis in die frühe Neuzeit hinein seinen Platz als Zentralbegriff der Sozialphilosophie behaupten kön nen. Als ein im Vergleich zur neuzeitlichen Verwendung des Begriffs 'Ge meinschaft' kompakteres Symbol erscheint der Terminus in der antiken und mittelalterlichen Politikwissenschaft insoweit, als er die sprachliche und da mit auch begriffliche Trennung von Formen und Bereichen menschlichen Zusammenlebens in separate Felder wie 'Gemeinschaft' und 'Gesellschaft' oder gar 'Staat' und 'Gesellschaft' nicht zuläßt. Die für die soziologische De batte seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bestimmende Unterschei dung zwischen Gemeinschaft als einem "dauernden und echten Zusammen leben" und Gesellschaft als etwas "Vorübergehendem und Scheinbaren", wie sie Ferdinand Tönnies entwickelt hat (Tönnies 1963: § I), ist dem antiken Gemeinschaftsgedanken ebenso fremd wie die von Hans Freyer betonte An tithese zwischen "primären" und "sekundären" Systemen, "gewachsenen Ordnungen" und "gemachten Strukturen"(Freyer 1955: 83-90).Von seiner in unserem Zusammenhang irrelevanten - Verwendung als terminus techni cus der Logik und Ontologie einmal abgesehen, kann das Wort koinönia in der griechischen politischen Philosophie zunächst unterschiedslos jeden zweckbestimmten Zusammenschluß von Menschen bezeichnen, also jeden Personal verband, der nicht allein auf Instinkt (wie die Herdenbildung von Rindern und die Schwarmbildung von Bienen) oder bloßen Zufall gegründet ist, sondern eine ihm eigene, in seiner Zielbestimmtheit liegende Substanz besitzt. Der Begriff der Gemeinschaft wird dabei durchgehend in engem Zu sammenhang mit demjenigen der Freundschaft (philia) gesehen, von der es bei Thukydides heißt: "Denn wir wissen, daß keine Freundschaft unter Ein zelnen Bestand hat und keine Gemeinschaft zwischen Staaten, wenn sie nicht gegenseitig von ihrer Redlichkeit überzeugt sind" (Thukydides 1900: 3.10). Die Rede ist hier von Freundschaft als einer grundlegenden und naturgegebe nen Verhaltensdisposition, in der die menschliche Fähigkeit zur Gemein schaftsbildung begründet ist. Aristoteles beschreibt diese Verhaltensdisposi-
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