KINDLER KOMPAKT PHILOSOPHIE DER ANTIKE Ausgewählt von Anna Schriefl KINDLER KOMPAKT PHILOSOPHIE DER ANTIKE Ausgewählt von Anna Schriefl J. B. Metzler Verlag Kindler Kompakt bietet Auszüge aus der dritten, völlig neu bearbei- teten Auflage von Kindlers Literatur Lexikon, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold. – Die Einleitung wurde eigens für diese Auswahl verfasst und die Artikel wurden, wenn notwendig, aktualisiert. Anna Schriefl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Bonn und Spezialistin auf dem Gebiet der antiken Philosophie. Inhalt ANNA SCHRIEFL Antike Philosophie 9 ANAXIMENES Über die Natur / Peri physeōs 31 HERAKLIT Über die Natur / Peri physeōs 32 XENOPHANES Gedichte 35 Über die Natur / Peri physeōs 37 PARMENIDES Über die Natur / Peri physeōs 39 ANAXAGORAS Über die Natur / Peri physeōs 42 DISSOI LOGOI Dissoi logoi, ein sophistischer Traktat 44 XENOPHON Erinnerungen an Sokrates / Apomnēmoneumata Sōkratous 46 PLATON Frühe aporetische Dialoge 48 Die Verteidigung des Sokrates / Apologia Sōkratous 53 Kriton / Kritōn 55 Ion / Iōn 56 Protagoras / Prōtagoras 57 Euthydemos / Euthydēmos 59 Gorgias / Gorgias 61 Menon / Menōn 63 Kratylos / Kratylos 64 Phaidon / Phaidōn 66 Politeia / Politeia 68 Das Gastmahl / Symposion 72 Menexenos / Menexenos 74 Phaidros / Phaidros 75 Theaitetos / Theaitētos 77 Sophistes / Sophistēs 79 Der Staatsmann / Politikos 80 Parmenides / Parmenidēs 82 Philebos / Philēbos 84 Timaios / Timaios 86 Kritias / Kritias 88 Die Gesetze / Nomoi 89 ARISTOTELES Organon 92 Vorlesung über die Natur / Physikē akroasis 100 Zwei Bücher über Entstehen und Vergehen / Peri geneseōs kai phthoras 104 Vom Himmel / Peri ouranou 105 Meteorologie / Meteōrologika 106 Über die Seele / Peri psychēs 108 Metaphysik / Ta meta ta physika 110 Die Ethiken 115 Politik / Politika 119 Poetik / Peri poiētikēs 122 Rhetorik / Technē rhētorikē 128 Der Staat der Athener / Athēnaiōn politeia 131 EPIKUR Hauptlehren / Kyriai doxai 133 Briefe 135 KLEANTHES Zeus-Hymnos / Hymnos eis Dia 138 CICERO Philosophische Schrift en 139 LUKREZ Von der Natur / De rerum natura 144 SENECA Dialoge 147 Briefe an Lucilius / Epistulae morales ad Lucilium 151 Naturwissenschaft liche Untersuchungen / Quaestiones naturales 153 PLUTARCH Polemische philosophische Schrift en 155 Die unvernünft igen Tiere haben Vernunft / Peri tou ta aloga logō chrēsthai 156 EPIKTET Gespräche / Diatribai 157 Handbüchlein der Moral / Encheiridion 159 MARK AUREL Wege zu sich selbst / Tōn eis heauton biblia 161 SEXTUS EMPIRICUS Skeptische Schrift en 163 DIOGENES LAERTIUS Leben und Lehre der Philosophen / Bioi kai gnōmai tōn en philosophia eudokimēsantōn 166 PLOTIN Enneaden / Enneades 168 IAMBLICH Philosophische Schrift en 172 PROKLOS Parmenides-Kommentar / Commentarium in Platonis Parmenidem 175 AUGUSTINUS Musik / De musica 178 Über den freien Willen / De libero arbitrio 180 Bekenntnisse / Confessiones 181 Über den Gottesstaat / De civitate dei 184 BOETHIUS Trost der Philosophie / De consolatione philosophiae 187 Antike Philosophie Anna Schriefl Die Schule von Athen – Fundament unserer Kultur? Zu Beginn des 16. Jahrhunderts schuf Raffael ein Fresko für die Residenz von Papst Julius II., das heute meist »Die Schule von Athen« genannt wird. Es zeigt die bekanntesten Philosophen und Gelehrten der griechischen Antike. Viele können nicht zweifelsfrei identifiziert werden, doch die zentralen Figuren lassen sich eindeutig zuordnen. Im Fluchtpunkt stehen Platon und Aristoteles, beide anhand der Bücher zu erkennen, die sie in der Hand halten. Schräg vor ihnen sitzt der Philosoph Diogenes von Sinope auf der Treppe, der bekannt ist für seine radikal einfache Lebensweise: Er verachtet Besitz, wohnt in einem Fass und trägt nur den sprichwörtlichen Philosophen- 9 mantel. Auf der unteren Stufe sind die Vorsokratiker Pythagoras, Parmenides und Heraklit dargestellt, zudem Mathematiker wie G N Euklid oder Archimedes – hier ist die Zuordnung nicht mehr sicher – U T und der Astronom Aristarchos von Samos. Vereinzelt finden sich auch I E L Vertreter späterer Epochen, etwa der arabische Philosoph Ibn Rushd N I E und möglicherweise Kopernikus, den Raffael somit in eine direkte Verbindung zur antiken Philosophie stellt. Das Bild feiert die griechische Antike als Fundament der euro- päischen Wissenschaft en und Kultur. Diese hohe Wertschätzung genossen die Alten Griechen nicht nur in der Renaissance, zu Raff aels Lebzeiten. Bereits die Philosophen im römischen Reich hielten ihre Vorgänger aus Griechenland für überlegen, auch im Mittelalter galten sie als Autoritäten, und ihre Anziehungskraft wirkt bis in die Gegen- wart. Platon und Aristoteles gehören noch heute, über 2300 Jahre nach ihrem Tod, zu den meistgelesenen Philosophen überhaupt. Für die anderen Wissenschaft en hat die griechische Antike ebenfalls große Bedeutung. Die antiken Mathematiker zählen nach wie vor zu den Größen ihres Faches, und die antike Entdeckung von Argu- mentationsmethodik und Logik ist für alle späteren Wissenschaft en grundlegend. Die Griechen sahen sich selbst dagegen nicht unbedingt als Begründer der Wissenschaft en. Sie verstanden sich vielmehr auch als Erben älterer Kulturen, die außerhalb von Griechenland beheimatet waren, besonders im Nahen Osten und in Ägypten. Allein ihre Schrift verdankten sie den Phöniziern, von deren Schrift zeichen sich das griechische Alphabet ableitete. Die Bewunderung Ägyptens ist in den antiken Texten selbst greifb ar, vor allem bei den Geschichtsschreibern Herodot und Diodor. Der Platoniker Numenios und der Kirchenvater Eusebius behaupteten zudem, die Philosophie der Griechen stütze sich nicht nur auf ägyptisches Kulturgut, sondern auch auf hebräische Quellen. In den 1980er Jahren kritisierten daher einige Autoren das ver- breitete Bild von Griechenland als Wiege Europas. Es sei einseitig oder sogar rassistisch, weil es die Bedeutung nicht-europäischer Traditionen für die Entstehung der griechischen Philosophie und damit für die europäische Kulturgeschichte ignoriere. Martin Bernal behauptete 1987 in seinem Buch Black Athena sogar, die griechische Zivilisation sei wesentlich unter dem Einfl uss Ägyptens entstanden. Das Fundament der europäischen Kultur sei somit nicht von den Griechen gelegt worden, sondern beruhe im Kern auf einem afrikani- schen Kulturschatz. In der weiteren Debatte vertraten einige Autoren, meist Wissenschaft ler aus der Afrikanistik, noch radikalere Thesen. Sie behaupteten, die griechische Philosophie sei überhaupt nicht aus Eigenleistung entstanden, sondern insgesamt ein Diebesgut. Oder sie beharrten darauf, Sokrates sei afrikanischer Abstammung und somit schwarz gewesen. Kenner der antiken Kulturgeschichte haben in Bernals Buch methodische Fehler aufgedeckt und seinen Vorschlag als übertrieben kritisiert. Die Debatte, in der besonders die Altertumswissenschaft - lerin Mary Lefk owitz einiges zurechtrückte, war jedoch wichtig. Letzt- lich führte sie dazu, dass wir uns heute die griechische Antike vielfäl- tiger vorstellen können, als es Raff aels Fresko suggeriert. Die Griechen standen nicht nur wirtschaft lich, sondern auch kulturell in engem Austausch mit Völkern im Nahen Osten und dem gesamten Mittel- meerraum. Sie waren sich bewusst, von Kulturen umgeben zu sein, die älter waren als die eigene. Dennoch lässt sich die Entstehung der Philosophie nicht auf äußere Einfl üsse reduzieren. Derartige Versu- che werden den Griechen, aber auch – wie Mary Lefk owitz betont – den anderen Völkern nicht gerecht. Insbesondere bei griechischen Verweisen auf Ägypten ist Vorsicht geboten. Griechische Gelehrte stellten sich zwar häufi g in eine Tradition mit der ägyptischen Kultur, hatten von ihr aber nach heutigem Kenntnisstand ein recht unge- naues und verzerrtes Bild. Die Frage, ob bestimmte Griechen schwarz oder weiß waren, ist insgesamt eher irreführend. Die Griechen grenzten sich zwar gern von den ›Barbaren‹ ab. Doch als Hauptkriterium für die ethnische Identität zählte damals nicht die Hautfarbe, die erst mit der modernen Sklaverei zum wichtigsten Unterscheidungskriterium wurde. Maßgeblich war vielmehr vor allem die Sprache. Es steht zu vermuten, dass die antiken Philosophen weniger einheitlich und weniger zentral- oder nordeuro- päisch aussahen als auf Raff aels Fresko. Die Annahme, Sokrates sei afrikanischer Abstammung gewesen, ist dennoch extrem spekulativ. 11 Als Bürger Athens müssen seine Eltern Athener gewesen sein, und Hinweise auf eine ausländische Herkunft hätten seine Feinde sicher- G N lich für sich verbucht. U T In einer Hinsicht unterschlägt die Rede von der »Schule von I E L Athen« eindeutig die Bedeutung außereuropäischer Gebiete: Die N I E griechische Philosophie entstand nicht in Athen, sondern auf dem Gebiet der heutigen Türkei, nämlich in den griechischen Kolonie- städten an der kleinasiatischen Küste. Dort entwickelten die ersten Vorsokratiker die frühesten uns greifb aren wissenschaft lichen und philosophischen Welterklärungen. Möglicherweise nutzten sie gerade den Abstand zum griechischen Mutterland und die gute Vernetzung mit Babylonien, Ägypten und den Phöniziern, um mythische Welterklärungen durch philosophisch-wissenschaft liche Modelle zu ersetzen. Erst in der zweiten Hälft e des 5. Jahrhunderts v. Chr. verlagerte sich das intellektuelle Zentrum Griechenlands nach Athen.
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