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Kernphysik: Eine Einführung PDF

368 Pages·2002·11.955 MB·German
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Theo Mayer-Kuckuk Kernphysik Eine Einflihrung 7., Oberarbeitete und erweiterte Auflage Mit 115 Abbildungen 1m Teubner B. G. Teubner Stuttgart· Leipzig· Wiesbaden Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fOr diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhliltlich. Prof. Dr. rer. nat. Theo Mayer-Kuckuk Studium in Heidelberg, anschlieBend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck Institut fOr Kernphysik in Heidelberg, spliter am California Institute of Technology in Pasa dena. Habilitation in Heidelberg. 1964 wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Insti tutes fOr Kernphysik. Seit 1965 o. Professor an der Universitlit Bonn (lnstitut fOr Strahlen und Kernphysik). 1. Auflage 1970 6. Auflage 1994 7., Oberarbeitete und erweiterte Auflage April 2002 Aile Rechte vorbehalten @ B. G. Teubner GmbH, Stuttgart/Leipzig/Wiesbaden, 2002 Der Verlag Teubner ist ein Unternehmen der Fachverlagsgruppe BertelsmannSpringer. www.teubner.de (f) f Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschOtzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzullissig und strafbar. Das gilt insbesondere fOr Vervielfliltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wliren und daher von jedermann benutzt werden dOriten. Umschlaggestaltung: Ulrike Weigel, www.CorporateDesignGroup.de Gedruckt auf sliurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. ISBN-13: 978-3-519-13223-3 e-ISBN-13: 978-3-322-84876-5 DOl: 10.1007/978-3-322-84876-5 Vorwort Als im August 1845, so berichtet die Anekdote, Friedrich Wilhelm IV., Konig von PreuBen, die neuerrichtete Stemwarte der Universitat in Bonn besuchte und den Astronomen mit den Worten begrtiBte: ,,Na, Argelander, was gibt es Neues am Himmel?", erhielt er zur Antwort: "Kennen Majestat schon das Ahe?" Die kleine Geschichte beleuchtet ein Dilemma, dem zu allen Zeiten Lemende und Lehrende gleichermaSen gegenfiberstehen. Es ist deshalb die Hauptaufgabe eines einfiihrenden Lehrbuchs, das Alte im Hinblick auf das Neue zu vermitteln. Die Zielsetzung des vorliegenden Studienbuches ist es daher, eine Ubersicht fiber die etablierten Erscheinungen und Beschreibungskonzepte zu geben und die modeme ren Perspektiven erkennbar werden zu lassen. Das Buch befaSt sich weder mit ex perimentellen noch mit theoretischen Techniken. Der Text beginnt zur Einfiihrung mit der klassischen Behandlung elastischer Streuung anhand der Rutherford Streuung. Streuprobleme werden dann im Kapitel 4 ausfiihrlicher besprochen. Die Ergebnisse dienen als Grundlage ffir Kapitel 5 fiber Kemkriifte und Kapitel 7 fiber Kemreaktionen. In den Kapiteln 2 und 3 werden dazwischen die wichtigsten Grundzustandseigenschaften der Keme und die Bedingungen des radioaktiven Zer falls behandelt. Die Erscheinungen des ~-Zerfalls werden im Zusammenhang mit der schwachen Wechselwirkung im letzten Kapitel dargestellt. Entsprechend der Zielsetzung des Buches wurden Gegenstiinde wie etwa der Durchgang ionisieren der Strahlung durch Materie nicht besprochen. Sie sind zwar in der Kemphysik technisch sehr wichtig, gehOren aber der Problemstellung nach in die Atom- und Festkorperphysik. Zur Entlastung des Textes von Erlauterungen atomphysikalischer oder allgemeiner quantenphysikalischer Sachverhalte sind Hinweise auf entsprechende Stellen im Studienbuch ,,Atomphysik"l) eingefiigt, zitiert mit dem Buchstaben "A". Es be deutet also z.B. (A, Gl. (2.25» den Hinweis auf Gleichung (2.25) in der Atomphy sik. Diese Hinweise sind jedoch nur als Hilfe gedacht und sollen an der Unabhan gigkeit des vorliegenden Textes nichts andem. Voraussetzung fUr das Verstandnis des Buches ist eine Kenntnis der Grund lagen der klassischen Physik und der einfachsten Begriffe der Quantenmechanik. Von der Schrodinger-Gleichung wird ausfiihrlich Gebrauch gemacht. Ihr Verstand nis genfigt fiir den groBten Teil des Buches. Der Leser sollte neben den physikali schen Grundvorlesungen daher eine Einfiihrungsvorlesung fiber Quantenmechanik oder eine Vorlesung fiber Atomphysik gehOrt haben. Nicht benotigt wird die Alge bra der Drehimpulskopplung, relativistische Quantenmechanik sowie eine Kenntnis der formalen Streutheorie, auf die das Buch vielmehr vorbereiten will. An Einzelheiten fiber die Darstellung ist folgendes zu erwiihnen. Symbole und Bezeichnungen sind nach Moglichkeit so gewiihlt, wie es in der Literatur allgemein I) Mayer-Kuckuk, T.: Atomphysik. 4. Autl. Stuttgart: Teubner 1994. 4 Vorwort tiblich ist. Daher war die Benutzung des gleichen Buchstabens fur verschiedene GroBen nicht immer zu vermeiden1). Das Verzeichnis der Symbole solI helfen, Ver wechslungen vorzubeugen. Die Literaturangaben im Text und am SchluB der ein zelnen Abschnitte geben Hinweise auf einige wichtige zusammenfassende Artikel, auf Einzelarbeiten sowie auf historisch interessante Arbeiten. Vollstiindigkeit wurde dabei nirgendwo angestrebt. Am SchluB des Buches befmdet sich ein Anhang mit Einheiten und Umrechnungsfaktoren, der bei der Rechnung mit kon kreten Beispielen helfen solI. Die Formeln sind im allgemeinen als GroBenglei chungen geschrieben. In einigen Hillen ist eine Zahlenwertgleichung fur praktische Rechnungen angefugt (z.B. in (4.98)). Hierfiir sind dann spezielle Einheiten ange geben. Die vorliegende 7. Auflage wurde in vielen Einzelheiten neueren Erkenntnissen an gepaBt. Uberarbeitet wurde insbesondere die Darstellung der schwachen Wechsel wirkung. Neu hinzugefugt wurden Abschnitte tiber Kem-Astrophysik (7.10) sowie tiber neuere wichtige Neutrinoexperimente (8.7). Damit solI dem verstarkten Inter esse an Fragen der Kosmologie Rechnung getragen werden. Naturgemiill gibt es dabei sehr viele offene Probleme, so daB die Darstellung sich insofem von der bei konsolidierten Bereichen der Kemphysik unterscheidet, als mehr Details und hypo thetische Ansatze erwlihnt werden mtissen. Einige Leser haben durch Zuschriften und Fehlerverzeichnisse zur Verbesserung des Buches beigetragen. Ihnen mOchte ich hier besonders Dank sagen. Der Teubner Verlag hat in bereits bewlihrter Zusammenarbeit keine Mtihen ge scheut, allen Wtinschen Rechnung zu tragen. Bonn, im Dezember 2001 Th. Mayer-Kuckuk 1) Es ist beispieisweise in der Kernphysik iiblich, den Buchstaben T fiir foigende GroGen zu gebrau chen: Isospin-Quantenzahl, Transmissions-Koeffizient, kinetische Energie, Ubergangsamplitude bei direkten Reaktionen, Kerntemperatur, Operator fur Bewegungsumkehr. Inhalt 1 Einleitung 1.1 Was ist Gegenstand der Kernphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 9 1.2 Die Entdeckung des Atomkerns ............ , .................... 15 1.3 Einfache Streuprobleme ....................................... 16 2 Eigenschaften stabiler Kerne 2.1 Kernradien.................................................. 24 2.2 Kernmassen, Kernbausteine und Bindungsenergien .................. 30 2.3 Der Kern als Fermi-Gas, Zustandsdichte im Phasenraum .............. 40 2.4 Tropfchenmodell, Grenzen der Stabilitat. .......................... 47 2.5 Spin und Paritlit .............................................. 55 2.6 Magnetische und elektrische Momente ............................ 57 3 Zerfall instabiler Kerne 3.1 Zerfallsgesetz............................................... 67 3.2 Nattirliche Radioaktivitat, Datierungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 73 3.3 Alpha-Zerfall, Transmission durch Potentialbarrieren. . . . . . . . . . . . . . .. 76 3.4 Kernspaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 85 3.5 Elektromagnetische Ubergange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 90 3.6 Innere Konversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 98 3.7 Kernresonanzabsorption (MoBbauer-Effekt) ....................... 101 3.8 Kernspektroskopie an instabilen Kernen .......................... 106 4 Elastische Streuung 4.1 Problemstellung ............................................. 110 4.2 Stationlire Behandlung der elastischen Streuung .................... 111 4.3 Partialwellen-Zerlegung ...................................... 113 4.4 Ein einfaches Beispiel ........................................ 121 4.5 Streulange, effektive Reichweite ................................ 126 4.6 Die Bornsche Nliherung ....................................... 132 4.7 Elastische Streuung schwerer Projektile .......................... 137 5 Kernkrafte und starke Wechselwirkung 5.1 Eigenschaften des Deuterons .................................. 147 5.2 Nukleon-Nukleon-Streuung, Spinabhangigkeit der Kernkrlifte ......... 152 5.3 Ladungsunabhangigkeit der Kernkrlifte, Isospinformalismus .......... 155 5.4 Der Isospin von Kernen, Allgemeines tiber ErhaltungsgroBen ......... 161 6 Inhalt 5.5 Struktur der Kernkriifte ....................................... 170 5.6 Quarks und starke Wechselwirkung ............................. 175 6 KernmodeUe 6.1 Einteilchenzustande im mittleren Kempotential .................... 185 6.2 Einfache Vorhersagen des Schalenmodells ........................ 193 6.3 Zustande im deformierten Potential .............................. 198 6.4 Kopplung mehrerer Nukleonen ................................. 200 6.5 Restwechselwirkungen, Paarungskriifte und Quasiteilchen ............ 205 6.6 Kollektive Anregungen ....................................... 212 6.7 Weiteres zu kollektiven Anregungen: Coulomh-Anregung, Hochspin-Zustfulde, Riesenresonanzen ........................... 221 7 Kernreaktionen 7.1 Ubersicht fiber die Reaktionsmechanismen ........................ 232 7.2 Energieverhliltnisse, Kinematik ................................. 235 7.3 Phasenraumbetrachtungen, Reziprozitlitssatz ...................... 240 7.4 Resonanzen ................................................ 244 7.5 Compound-Kem-Reaktionen ................................... 252 7.6 Das optische Modell .......................................... 264 7.7 Direkte Reaktionen .......................................... 269 7.8 Kemreaktionen mit schweren Ionen ............................. 276 7.9 Energiegewinnung durch Kemreaktionen ......................... 282 7.10 Kem-Astrophysik ............................................ 290 8 P-Zerfall und schwache Wechselwirkung 8.1 Natur des Zerfallsprozesses, Neutrinoexperimente .................. 299 8.2 Energieverhliltnisse und Zerfallstypen ............................ 303 8.3 Form des Spektrums, Ubergangswahrscheinlichkeiten ............... 306 8.4 Zur theoretischen Beschreihung des Zerfallsprozesses ............... 312 8.5 Kemmatrixelemente, Kopplungskonstanten ....................... 318 8.6 Helizitlltsexperimente. ........................................ 321 8.7 Weiteres zu den Neutrinos ..................................... 331 8.8 Die elektroschwache Wechselwirkung, das Standard-Modell .......... 328 Anhang Einheiten, Konstanten, Umrechnungsfaktoren und Formeln flirkemphysikalischeRechnungen ................................... 353 Wichtige URL-Adressen ............................................ 356 Literaturverzeichnis ............................................... 356 Sachverzeichnis .................................................. 364 Verzeichnis der wichtigsten Symbole Bei mehrfach gebrauchten Symbolen ist in Klammern das Kapitel oder der Ab schnitt angegeben, in dem das Symbol in der angefuhrten Bedeutung auftritt. Grie chische Symbole am SchluB des Verzeichnisses. Hinweis. Verweise auf Gleichungen mit vorgestelltem "A", z.B. (A, Gl. (2.25», beziehen sich auf das Studienbuch "Atomphysik" (siehe Vorwort). Hinweise der Art [wI] beziehen sich auf das Verzeichnis von URL-Adressen. A Nukleonenzahl; Aktivitat (3.1) R Kernradius; Ro = Potentialradius a Streuliinge (4.5, 5.2); bei Halb- TO Konstante in Gl. (2.1) wertzeit: Jahr S Separationsenergie (2); resultieren- B Bindungsenergie; magnet. Induk- der Spindrehimpuls; spektroskopi- tion; reduziertes Matrixelement scher Faktor (7.7); Kern-Entropie fur elektromagnetische Ubergiinge (7.5); Seltsamkeit (Strangeness) b StoBparameter (5.4,5.6) c Lichtgeschwindigkeit s Spinquantenzahl E Energie T Isospin-Quantenzahl; Transmis- e Elementarladung sionskoeffizient (3 und 7); F Fermi-Funktion (8) Operator der kinetischen Energie f Streuamplitude t1l2 Halbwertzeit / logarithmische Ableitung (7.4-7.6) U Anregungsenergie des Compound- g Kopplungskonstante; g-Faktor kerns (7.5); optisches Potential H Hamilton-Funktion (7.6 und 7.7) Q7t' Helizitat u atomare Masseneinheit n h Plancksche Konstante; = hl21t u radiale Wellenfunktion I Kerndrehimpuls V Potential J Drehimpuls der Elektronenhtille v Teilchengeschwindigkeit j Teilchen-Stromdichte; Z Kernladungszahl Drehimpulsquantenzahl j = I + s K Rotationsquantenzahl (6.6) a Konversionskoeffizient (3.6) k Wellenzahl = 11 A; f3 vIc; Deformationsparameter L resultierender Bahndrehimpuls (6.6) I Bahndrehimpuls r Energiebreite M meist: Matrixelement r Dirac-Matrizen (8) m Masse; magnetische Quantenzahl A Laplace-Operator n Sommerfeld-Parameter (4.7, 7.8) 8 Paarungsenergie; Deformations- N Neutronenzahl parameter (2.6, 6.3, 6.6); P Wahrscheinlichkeitsdichte; Kronecker-Symbol; Streuphasen- Paritatsoperator verschiebung (4.5) p Impuls £ Gesamtenergie eines Elektrons Q Quadrupolmoment in der Einheit moc2 (8) 8 Verzeichnis der wichtigsten Symbole 11 Streuwellen-Amplitude; Elektro- p Ladungsdichte (2.1); nenimpuls in moe (8) Niveaudichte (7.5) tJ Winkel im Labor-System (J' Wirkungsquerschnitt; Spin- e Wmlcel im Schwerpunkt-System; Operator Kemtrligheitsmoment (6.6,7.5) 'r mittlere Lebensdauer; Integrations- A. Wellenllinge, A= Al21t; volumen; Isospin-Operator Zerfallskonstante 1fI Wellenfunktion /l magnetisches~oment !J Raumwinkel; Operator 1t Paritlitsquantenzahl CO Kreisfrequenz 1 Einleitung 1.1 Was ist Gegenstand der Kernpbysik? Pbilosopbie und Naturforschung haben sich seit friihesten Zeiten mit der Frage be schliftigt, was Materie sei. Vielleicht wird diese Frage nie in endgiiltiger Form be antwortet werden konnen. Jedoch haben sich fUr die Physiker im Laufe der Zeit immer tiefere Einsichten in die Struktur der Materie eroffnet, wobei sich freilich auch jeweils neue Problernstellungen ergeben haben. In den letzten 30 Jahren wur den im Bereich der Teilchenphysik ganz neue Strukturprinzipien der Materie aufge deckt, die im "Standard-Modell" der Teilchen und Wechselwirkungen ihren Aus druck gefunden haben (Abschn. 8.7). Danach sind Quarks (Abschn. 5.6) und Lep tonen die fundamentalen Bausteine der Materie und die Wechselwirkungen zwi schen ihnen werden durch Bosonen als Feldquanten verrnittelt. Das Modell erlaubt es, die Vielzahl der Erscheinungen, die bei Teilchen beobachtet werden, auf wenige einfache Strukturen zuriickzufiihren und es zeichnet sich durch Schonheit der Symmetrieprinzipien und eine ungewohnliche Vorhersagekraft aus. Allerdings kon nen Quarks aus prinzipiellen Griinden niemals als freie Teilchen beobachtet wer den. Das ist eine erkenntnistheoretisch interessante Situation, die vielleicht bedeu tet, daB man nun in der Tat keine noch elementareren Bausteine einfiihren kann. Von diesen kleinsten zu groBeren Strukturen fortschreitend, laBt sich die Materie in verscbiedenen Organisationsebenen beschreiben. Die nachsthOhere Organisations form bilden die Atomkerne, in denen sich Protonen und Neutronen durch die Kern kriifte zu Mehrteilchensystemen binden. Aber auch die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung sind im Atomkern wirksam. Kerne sind ihrerseits Bau steine der Atome, die sich wiederum zu Molekiilen und Festkorpern vereinigen, durch deren Eigenschaften unsere Umwelt unmittelbar bestimmt wird. Hier domi nieren die wohlbekannten elektromagnetischen Krlifte. Jede dieser Organisations formen der Materie hat ihre eigenen Gesetze und eine steigende Vielfalt an Er scheinungsformen, je groBer die einzelnen Strukturen werden, bis bin zu biologi schen Objekten. Hieraus bestimmt sich der Standort der Kernphysik: Kernphysik ist die Physik der kondensierten stark wechselwirkenden Materie. Das Faszinierende am Studium der Atomkerne besteht darin, daB die Eigenschaften dieses Vielteilchen systems von den leichtesten Kernen mit wenigen Nukleonen bis zu den schwersten Kernen liickenlos untersucht werden konnen. Das Studium von Vielteilchensyste men ist ein zentrales Thema in der modernen Physik. Die Kernphysik spielt bierbei insofem eine besondere Rolle, als sie mit Objekten zu tun hat, die einerseits genii gend komplex sind, urn eine Vie1falt kollektiver Phlinomene und Symmetrien zu zeigen, die aber andererseits binreichend elementar sind, urn scharfe Quanten zustlinde zu entwickeln, die mit groBter Prlizision vermessen werden konnen. T. Mayer-Kuckuk, Kernphysik © B. G. Teubner GmbH, Stuttgart/Leipzig/Wiesbaden 2002 10 1 Einleitung Die elementaren Krafte, die zur Wechselwirkung zwischen den Kembausteinen fUhren, sind von komplizierter Natur und bis heute nur naherungsweise bekannt. Auch ihre Aufklarung ist Gegenstand der Kernphysik. Die Feinheiten der Wech selwirkungen spielen jedoch im allgemeinen keine groBe Rolle, wenn es urn das VersUindnis der Kerneigenschaften unter normalen Bedingungen geht. Die Krafte, die zwischen zwei einzelnen Nukleonen wirken, sind durch Streuexperimente empirisch immerhin recht gut bekannt. Man konnte nun daran denken, alle Kern eigenschaften direkt auf die Kernkrafte zurUckzufUhren. Das ist jedoch wahrschein lich weder moglich, noch Hillt sich die Aufgabe der Kernphysik auf diese Frage re duzieren. 1m Rahmen des Vielteilchenproblems treten vollig neue Ordnungsprinzi pien auf, die als solche verstanden werden mtissen. Ein Vergleich mit der Molektil physik verdeutlicht das. Dort herrscht nur das Coulomb-Potential. Schon bei einfa chen Molektilen stellen sich unter seinem EinfluB ganz tiberraschende Symmetrien ein, z.B. die Ringstruktur des Benzols. Benzolringe sind aber ihrerseits Bausteine sehr viel komplizierterer geordneter Strukturen. Der Versuch, sie auf das Coulomb Gesetz zUrUckzufiihren, ist wenig sinnvoll. Bei aller Phantasie lieBe sich die Viel falt der chemischen Verbindungen nicht aus der Coulomb-Wechselwirkung vorher sagen. Noch unsinniger ware das Unterfangen, umgekehrt aus dem chemischen Verhalten der Molektile auf die Feinheiten des elektrostatischen Potentials schlie Ben zu wollen. Ahnlich ist die Situation bei Kernen. Auch dort bilden sich naherungsweise Sym metrien des Vielteilchensystems aus, die charakterisiert sind durch approximative Quantenzahlen. Hier stellt sich die Frage nach den Ordnungsprinzipien der Materie auf der Organisationsebene des Viel-Nukleonen-Systems und den daraus resultie renden GesetzmaBigkeiten. 1m Gegensatz zur Molektilphysik liegt ein komplexeres Problem vor, da die Kernkraft sehr viel komplizierter als die Coulomb-Kraft ist. Gerade deshalb stellt sich im Vergleich zur Molektil- und Festkorperphysik die Frage: Welches sind die prinzipiellen Unterschiede in den Ordnungs- und Sym metrieprinzipien von Vielteilchensystemen mit so verschiedener Wechselwirkung? Lassen sich diese verstehen? In dieser Beziehung steht die Kernphysik der Mole ktil-und Festkorperphysik viel naher als der Teilchenphysik. Werfen wir nun anhand von Fig. 1 einen genaueren Blick auf die Bausteine der Materie und die wirksamen Krafte. Die kleinsten bekannten Bausteine, die starke Wechselwirkung zeigen, sind die Quarks. Die Krafte zwischen ihnen werden durch Austausch· von masselosen Bosonen, den Gluonen, vermittelt. Die Theorie dieser Wechselwirkung heiBt Quantenchromodynarnik (QCD). Zur Bildung eines Nu kleons (Proton oder Neutron) mtissen sich drei Quarks binden. Hierbei werden die starken Krafte zwischen den Quarks weitgehend abgesattigt, so daB zur Bindung der Nukleonen untereinander zum Atornkern nur eine Art von Restwechselwirkung tibrigbleibt. Sie laBt sich in guter Naherung durch den Austausch von Mesonen beschreiben, wobei die Hauptanziehung zwischen zwei Nukleonen vom doppelten 1t-Austausch herriihrt. Es bewirkt eine Art starker van der Waals-Krafte. Diese Krafte sind bestimmend fUr die Kernstruktur unter norrna1en Bedingungen. 1m Rahmen wesentlich groBerer Distanzen wiederholt sich ein ahnliches Schema bei der elektromagnetischen Wechselwirkung, die zur Bindung von Kernen und Elek-

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