Peter Schulz Kapitalistische Subjektivation Sozialtheorie Peter Schulz (Dr. phil.) lebt und arbeitet in Jena. Nach dem Studium der Sozio- logie, Politikwissenschaft und Philosophie promovierte er am Institut für Sozio- logie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Peter Schulz Kapitalistische Subjektivation Das Subjekt des kybernetischen Kapitalismus zwischen Digitalisierung, Prekarisierung und Autoritarismus Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustim- mung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Verviel- fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6423-2 PDF-ISBN 978-3-8394-6423-6 https://doi.org/10.14361/9783839464236 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau- download Inhalt Kapitel1 Einleitung.....................................................................7 a. DerAusgangspunkt:DigitalisierungundAutoritarismus im BrennglasderCoronakrise............................................7 b. DerVorschlag:eineTheoriekapitalistischerSubjektivation..............16 c. DasProgrammderArbeit&Danksagungen..............................21 Kapitel2 Kapitalismusheute.......................................................... 25 a. Digitalisierung,Singularisierung,Metrisierung?......................... 25 b. InformatisierungundglobaleArbeitsteilung............................ 34 c. PluralisierteKulturindustrieundKybernetisierung...................... 42 d. AffektiveArbeitunddieLandnahmedesSozialen ...................... 55 e. SäkulareStagnationundverschärfteVerteilungskämpfe................ 60 Kapitel3 DieersteDimensionkapitalistischerSubjektivation– Anrufung und Verdinglichung................................................ 65 a. DasSubjektimKapitalismus........................................... 65 b. SubjektivationundWiderspruchimTausch............................. 83 c. SubjektivationundWiderspruchinderLohnarbeit...................... 89 d. SubjektivationundWiderspruchimRecht...............................97 e. IdentitätundWiderspruch.............................................101 Kapitel4 DiezweiteDimensionkapitalistischerSubjektivation–Sozialcharakter.......107 a. KapitalismusundCharakter............................................107 b. VomautoritärenzumnarzisstischenCharakter......................... 117 c. WandelderGeschlechtscharaktere.....................................124 d. CharakterundsozialerOrtimGegenwartskapitalismus.................133 e. Sozialcharaktereempirisch:ZweiAnnäherungen .......................140 Kapitel5 SubjektivationundSubjektivierungim kybernetischenKapitalismus..........159 a. Subjektivationheute–nichtneu,aberanders..........................159 b. SozialcharaktereimkybernetischenKapitalismus:Drei Thesen.........162 c. KritikundEmanzipation ...............................................173 Literatur ...................................................................187 Kapitel 1 Einleitung a. Der Ausgangspunkt: Digitalisierung und Autoritarismus im Brennglas der Coronakrise »Man erkennt die Strukturen deutlicher, die man in der spätmoder- nen Gesellschaft schon vorgefunden hatte und die sich nun noch einmal verstärken. Am Anfang der Coronakrise gab es sehr schnell denDiskursnachdemMottodes›alleswirdganzanders‹.Kurzfristig waresjaauchso.DannhießesmitBetonungaufderZukunft,›alles wird ganz anders werden‹. Das hatte mitunter den Unterton, dass auchallesanderswerdensollte.Größtenteilswardieswohl›wishful thinking‹«(ReckwitzinHesse2021). Als Fazit nach dem ersten Jahr der Coronakrise formulierte Andreas ReckwitzEndeFebruar2021mitdiesenWortenseinEingangsstatement ineinemInterviewinderFrankfurterRundschau.Ersprachdabeizwei fürdieseArbeitkonstitutivenFragenan:DieFragederKontinuitätund des Bruchs im sozialen Wandel einerseits, die Frage danach, ob alles ›ganzanders‹werdensollte,andererseits. Die erste Frage ist für die in dieser Arbeit vorgeschlagene Theorie kapitalistischer Subjektivation zentral, da die Stabilität oder zeitliche VarianzdieserSubjektivationandemjeweiligenVerständnisdessozia- lenWandelsunddamitdesWandelsdesKapitalismushängt.Diezweite Frage ist zentral,da die hier vorgestellte Theorie kapitalistischer Sub- jektivationbeansprucht,einekritischeTheoriezusein,alsoeineTheo- 8 KapitalistischeSubjektivation rie, die parteilich mit dem Anspruch ist, dass alles ganz anders wer- densollte.Undschließlich bildet das Zitat Reckwitz’einen geeigneten Ausgangspunkt,da folgend die Theorie kapitalistischer Subjektivation zentralauchinAuseinandersetzungmitseinerZeitdiagnosederGesell- schaftderSingularitätenentwickeltwird. DieGrundlagenundForschungfürdieseArbeitlagenjedochbereits vor, bevor SARS-CoV-2-Infektionen sich zu einer weltweiten Pande- mieausweiteten,dieauchdasArbeits-undAlltagslebeninDeutschland prägte.DieseArbeitberuhtaufeinerDissertation,dieimJahr2019ein- gereicht wurde und die die Rekonstruktion und Systematisierung der Theorie kapitalistischer Subjektivation zum Gegenstand hatte; ausge- hendvondenArbeitenKarlMarx’biszurKritischenTheoriedesInsti- tutsfürSozialforschungunddarüberhinaus–etwaderfeministischen Theorie Regina Becker-Schmidts oder der gegenwärtigen Rechtsextre- mismusforschung. Auch die Idee, diese Arbeiten auf Phänomene der Digitalisierungzubeziehen,bestand2019bereits. Die Pandemie und die mit ihr eintretende gesellschaftliche Kri- sensituationbildetemitihrerKombinationvonneuenElementen(der DisruptiondesAlltags,demAd-hoc-UmstellenaufdigitaleLehre)und vonBekanntem(etwadereigenenprekärenBeschäftigungsverhältnis- se) aber nicht nur die unmittelbaren Bedingungen,unter denen diese Arbeit geschrieben wurde. Sie spitzte auch diejenigen gesellschaftli- che Tendenzen zu und ließ sie zusammentreten, die auch in dieser Arbeit gemeinsam verhandelt werden: einerseits die Digitalisierung des Arbeits- und Alltagslebens, andererseits den Aufstieg autoritärer, antidemokratischerundirrationalistischerPolitik. Entsprechend dazu soll diese Arbeit einen Beitrag leisten, diese TendenzenalsPhänomeneeinergemeinsamengesellschaftlichenEnt- wicklungzuverstehen.DiePhänomenesinddabeinichtneuundnicht erstmitderCoronakriseaufgetreten:DigitalisierteArbeitundFreizeit, prekäreBeschäftigungsverhältnisseundautoritäreBewegungenwaren auchvorderCoronakrisezentraleThemenderakademischenundme- Einleitung 9 dialen Diskussion, aber auch der Lebenswirklichkeit des Autors,1 sie erscheinenaberunterder–Anfang2022immernoch–gegenwärtigen KrisewieuntereinemBrennglas. Mit der Coronakrise ging einerseits ein massiver Schub der Di- gitalisierung einher. Arbeit im home office, digitale Lehre in Schulen undHochschulen,Onlineshopping,StreamingunddasAufrechterhal- tenfreundschaftlicherundfamiliärerKontakteüberVideotelefoniedo- miniertenzumindestfürdieZeitderKontakt-undAusgangsbeschrän- kungen das soziale Leben. Zugleich wurde deutlich, dass der soziale Ort, insbesondere in Hinblick auf die Beschäftigungsverhältnisse, be- stimmendfürdieErfahrungwährenddessogenanntenLockdownswar: HeimarbeitgabesinderPflege,LebensmittelproduktionundLogistik nicht,stattdesseneinenmassivenAnstiegderArbeitslast–undinder Gastronomie bedeutete die Coronakrise entweder den Verlust der An- stellungoderebenfallsverdichteteArbeitsbelastungbeigleichzeitigem Infektionsrisiko,etwabeidenLieferdiensten. IndenMonatenundJahrenvorderCoronakrisewarenfürdieDis- kussionumAutoritarismuseinerseitsderAufstiegderAfDalsetablier- terBestandteilderpolitischenLandschaftinDeutschland,andererseits dieantisemitischenundrassistischenAnschlägevonHalleundHanau prägend.MitderCoronakrisetratendannmitsogenanntenCoronare- bellinnen2 beziehungsweiseQuerdenkerinneneinneuesMotivautori- tärer Proteste auf, das über das bisherige politisch-autoritäre Milieu 1 EineLebenswirklichkeitinThüringen,dieunmittelbarvordemDurchschlagen derPandemiemitderWahlThomasKemmerichszum(kurzfristigen)Minis- terpräsidentenThüringensauchdurchdieStimmenderThüringerAfDunter BjörnHöckeam5.Februar2020voneinerverschärftenDiskussionumautori- täreBewegungengeprägtwar. 2 DieseArbeitverwendetdasgenerischeFemininum,mitder-in(nen)-Endung sindalsojealleGeschlechtergemeint.InFällen,indenennursozial-männliche PersonenoderGruppenbezeichnetwerdensollen,findetdasgrammatische MaskulinumAnwendung.Fürnursozial-nichtmännlichePersonenoderGrup- penwirddasgrammatikalischeFemininumumeinSternchen(-in*/-innen*)er- gänzt. 10 KapitalistischeSubjektivation hinausmobilisierenkonnte.AuffälligwardieBeteiligungvonKleinge- werbetreibenden,derenUnternehmengastronomischeoderpersonen- bezogeneDienstleistungenanbotenunddievondenMaßnahmenwäh- rend des sogenannten Lockdowns spezifisch betroffen waren – auch hierwurdedeutlich,dassdersozialeOrtfürdieBereitschaft,sichpo- litischautoritärenBewegungenanzuschließen,vonBedeutungist. GleichzeitigspitzedieCoronakriseabernichtnurvorhandeneTen- denzenzu,sondernlegteauchneueEntwicklungenfrei.DiePandemie machteeinestochastischoperierendeBiopolitiksichtbar,inderInfek- tionsschutzmaßnahmendieVerbreitungswahrscheinlichkeitdesVirus reduzieren sollten.Anders als Jürgen Link (1997) es für die 1990er Jah- re beschreibt, wurden quantitative Entwicklungen medial nicht mehr in Bilder umgewandelt,wie er es unter anderem an der »Das Boot ist voll«-Metapher darstellt, die sich gegen die Aufnahme von Geflüchte- tenindenfrühen1990ernrichtete.Stattdessenwurdenmassenmedial unmittelbar Zahlen dargestellt, in Tabellen oder Graphen aufbereitet –teils mit der Option,sich logarithmierte Skalen zu anzeigen zu las- sen. Höchstens gefärbte Landkarten boten eine zahlenfernere visuelle Aufbereitung,dieaberimmernocheinerquantitativenLogikfolgt.Zu- gleichbrachendieKontaktbeschränkungenmiteinergesellschaftlichen Wirklichkeit,diealsErlebnisgesellschaft(Schulze2005)charakterisier- bar war: Die Arbeit lief, teils ins home office verlagert, einigermaßen weiter,dieFreizeitwurderadikalstillgestellt. DieCoronakriseerlaubtesoeinenBlickaufdieFrage,obdiegesell- schaftlichen Tendenzen seit den 1970er Jahren, die mit den Begriffen desPostfordismusundNeoliberalismusverbundensind,ungebrochen fortlaufen, oder genauer: Welche Tendenzen fortlaufen, und welchen einen Bruch erleben. Sie aktualisiert damit die Diskussionen im An- schlussandieWeltwirtschaftskrise2008darüber,obderKapitalismus dabeiist,ineineneuePhasemitneuenCharakteristikaüberzugehen– einUmbruchderverzögerterkennbarwird,ähnlichwiederUmbruch Anfangder1970erJahre,dererstinden1980ernnachdenWahlenMag- retThatchersundRonaldReagansgesellschaftlichsichtbarwurde. Um diese Fragen zu beantworten nimmt diese Arbeit ihren Aus- gangspunktbeisoziologische Zeitdiagnosen,diein denletztenJahren