1682 GERMANISTISCHE ABHANDLUNGEN KAFKA -POETIK DER SINNLICHEN WELT SUSANNE KESSLER Kafka - Poetik der sinnlichen Welt Strukturen sprachkritischen Erzählens J.B. METZLERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG STUTTGART GERMANISTISCHE ABHANDLUNGEN 53 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kessler, Susanne: Kafka-Poetik der sinnlichen Welt: Strukturen sprachkrit. Erzählens / Susanne Kessler. - Stuttgart: Metzler, 1983. (Germanistische Abhandlungen ; 53) ISBN 978-3-476-00528-1 ISBN 978-3-476-03176-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03176-1 NE:GT © 1983 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersehe Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 1983 VoRwoRT Die vorliegende Arbeit, die im Sommersemester 1982 in erweiterter Form von der Philosophischen Fakultät der Universität München als Dissertation angenommen wurde, geht auf eine langjährige und immer wieder aufgenommene Auseinandersetzung mit dem Werk Franz Kafkas zurück. Professor Dr. W alter Müller-Seidel hat durch ein Seminar zu FranzK afka im Sommer semester 1976 und in persönlichen Gesprächen die im Frühjahr 1982 abgeschlossene Dissertation mit dem Thema »Sprachkritik und Erzählstruktur. Studien zu Kafkas Poetik« angeregt und durch Gespräche, Fragestellungen und ein fortwährendes Ver trauen gefördert; ihm möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich danken. Mein Vater hat über Monate hin mit großer Geduld bei der Fertigstellung des Manuskripts unvergessene Hilfe geleistet; ihm bin ich besonders dankbar. Dank auch gilt Herrn Dr. Uwe Schwei kert, der mit nicht nachlassendem Interesse an der Arbeit Anteil genommen hat; ferner meinen Freunden für ihre Hilfe, vor allem aber meiner Familie für ihr Verständnis. Meinen Eltern soll das Buch gewidmet sein. München, im März 1983 S.K. INHALT Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einleitung .......................................... . I. KAFKA UND DIE LITERARISCHE TRADITION . . . . . . • . . . . • • . . . . • 5 1. Sprachkritik und Sprachskepsis als Erscheinung der jahrhundert- wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2. Kafkas Kritik der literarischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 -Das Problem mit den Metaphern 11-Die Verlogenheit der Allegorie 15-Histori- sche Motive 17->Von den Gleichnissen< 18-Das Tier im Denken Kafk.as 20 II. NARRATIVE STRUKTUREN: DIE FUNDAMENTALEN GRUNDLAGEN- »AMERIKA« • . . . • . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Cartesianische Poetik-Reduktion und Radikalisierung . . . . . . . . . 24 - Die >Einsinnigkeit< und ihre poetologischen Implikationen 24 - Das Subjekt und seine Subjektivität 29 2. Mimesis, Realität und Sprachkritik. ZurIdentität einer Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 -Zur Frage der Mimesis: Sprache, Erzählen und Objektivität 33-Von der Objekti- vität zur Wirklichkeit - methodische Zwischenreflexion 37 - Sprache, Denken, Wirklichkeit. Kar! Roßmann in Amerika 38 - Epische Wirklichkeit und historische Wahrheit 42 VIII Inhalt III. SPRACHKRITISCHES ERZÄHLEN-» DER PROZESS« 53 1. Struktur und Logik des Bewußtseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1.1. Bewußtseinskonstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 -Wörter, Werte, Normen. Der Anfang vom Ende 57- Das Ende der Freiheit: Die Verhaftung 59-Freiheit, Pflicht, Notwendigkeit. Das Ende 63 1.2. Argumentationsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 -Lüge, wenn sie allgemeine Ordnung ist, heißt Vernunft 64-vernünftig gegen die Wahrheit denken 66 1.3. Zur Logik des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 - Der Satz vom Widerspruch 70 - Die Türhütergeschichte 75 - Logik, Leben, Ethik 79 2. Bewußtsein und Welt 83 2.1. Phänomenologie des Prozeßverlaufs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 -Die Sprach-und Bewußtseinsverschiebung 84-Exkurs: Die exterritoriale Einsam- keit 88 - Der progressive Identitätsverlust 89-Ausgesparte Erkenntnis 91 2. 2. Jenseits der Lüge. ZurIdentität sogenannter Leerformen . . . . . . . . . 93 -»alte, abgegriffene Bücher«: Das Gesetz 94-Wahrheit, Täuschung und Notwen digkeit: Das Gericht 96-Die Schuld 98 3. Derpoetologische Aufbau der Welt 103 3 .1. Die Poetik der verschachtelten Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 - Konstruktionsprinzipien 103-Sprache und Wirklichkeit 109-Verflechtungsstrate- gien 111-Nichts als ein Wahn? 114 3.2. Die sprachkritische Auflösung von Begriffu nd Bedeutung . . . . . . . . 116 3.3. Formen sprachskeptischen Erzählens: >Ästhetik< der »sinnlichen Welt« 119 - Die Poetik von Andeutung und Verweisung 119- Die Indizien: Perspektive, Referenzen und Accessoires 122 IV. STRUKTUREN DES MIKROKOsMos-» DAs ScHLOSS« 127 1. Überleben im Winter: Der ewige Landvermesser . . . . . . . . . . . . . 127 -Nach dem Prozeß: »Das Schloß« 127-Die Konstruktion des Exterritorialen 128- Die endlose Reise. Zur Geschichte K.s 133-Der Verrat 139-»Sie sind nichts.« 142 2. Erzählen mit gespaltener Sprache. Poetische Verfahrensweisen . . . . 145 -Figuren 146-Ohne Worte: Zur Bedeutung von Mimik und Geste 152-»Dinge, die man sonst nicht auszusprechen wage«: Handlungsstrukturen 154 Inhalt IX V. SPRACHE UND WAHRHEIT. REFLEXIONEN zuR KuNST. . . . . . . . . . . 156 -Aspekte des Schaffens 156-Zur Ästhetik der poetischen Sprache 158-Wirklichkeit und Sprache 160 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 EINLEITUNG >>Kafka und kein Ende?« [1] lautete schon vor Jahren der Titel eines Aufsatzes von Hans Mayer, der gleichsam unter der Last der bis dahin erschienenen Literatur stöhnt. Inzwischen ist deren Umfang um ein Vielfaches angewachsen und kaum noch überseh bar. Die Kafka-Forschung spiegelt mittlerweile auch die Wissenschaftsgeschichte eines Faches, das in den letzten Jahren zunehmend von Krisen heimgesucht und durch Methodenfragen erschüttert wurde. Kafkas Texte gerieten dabei zum Probierstein des gerade Modernen, an dem Strömungen und Weltanschauungen geprüft, Methoden geschliffen wurden. Wo die immanente Textanalyse an Grenzen stieß, traten existentiali stische, theologische, soziologische und psychoanalytische Deutungen mit ihrem Voka bular zur Klärung der Texte an.[2] So vielfältig die Deutung war, so strapaziert wurden die Texte wie kaum bei einem Dichter der Moderne. Adaptierbar offensichtlich für alles und jede Weltanschauung folgte die Kafka-Rezeption seit 1945 getreulich jenen Strömungen und Tendenzen geistiger Auseinandersetzung, die den Zeitraum gekennzeichnet haben, so daß die Forschungstradition ungewollt auch ein Bild der Nachkriegsgeschichte vermittelt, wie sie öffentlich und akademisch stattgefunden hat. »Kafka und kein Ende?«-die Frage der Legitimation stellt sich heute bei jeder Arbeit, die sich nicht damit zufrieden geben will, weiter zu liefern, was ohnedies in Überfülle vorhanden ist. Weder aus der wissenschaftlichen Situation heraus läßt sich eine weitere Arbeit rechtfertigen, noch durch die jüngst deutlich feststellbare Resignation und Methodenmüdigkeit, daß Texte eben endlos zu interpretieren seien. Sicher geht es in der folgenden Arbeit darum, eine Forschungslücke zu füllen, eine allerdings, die sich aus dem Gegenstand und nicht der Lücke motivieren läßt. Es geht um ein Problem, das wie ein roter Faden die Wissenschaftsgeschichte der Kafka-Forschung durchzieht, das aber seinemWesennach eine Eigenschaft der Texte ist. Der Faden, der die noch so unterschiedlichen Deutungen zusammenhält, entpuppt sich als das Problem der Verstehbarkeit Kafkascher Texte. Das aufgeworfene Problem um Verstehbarkeit war gewiß auch das der Methodenfrage im allgemeinen, speziell aber betraf es die Hermetik der Texte Kafkas, und als solches war es Problem vor allem der Übersetzbarkeit: Wie sollte die hermetische Sprache des Dichters aufgebrochen werden, wie seine Verschlossenheit in verstehbare Sprache überführt werden. Man griff so ziemlich zu allem, was hätte einen Schlüssel abgeben können, und die Interpretationen unterschieden sich im wesentlichen nur durch ihre verschiedenen hermeneutischen Schlüssel und Ansätze. Darüber hinaus aber war es offensichtlich nicht möglich, Krite- 2 Einleitung rien der Beurteilung aus den Texten selbst zu gewinnen, denn die blieben nach wie vor rätselhaft, ohne daß sie durch die wissenschaftliche Diskussion etwas von der Herausfor derung des faszinierend Unbekannten eingebüßt hätten. Das Forschungsdilemma ist damit umrißhaft beschrieben, zu dem des Methodischen bleibt noch einiges zu sagen. So bleibt die Frage nach dem Grund, denn es kann kaum von ungefähr kommen, daß gerade Kafka zum ungelösten Rätsel geworden ist, während man sich bei aller Differenz der Deutungen über Goethe, Schiller oder Thomas Mann weit einiger ist und dem Detail zuwendet. Die Methodenvielfalt stand ja auch da zur Auswahl, und doch hat sich kein Streit in gleicher Weise entwickelt. Also, so muß man folgern, liegt es an den Texten. Und daran liegt es auch. Denn die Schwierigkeit Kafkascher Texte, wie sie sich in der Vielfalt sich widersprechender Deutungen kund gibt, erklärt sich aus ihrer Sprache. Man kann sehr bald erkennen, daß die Hermetik Kafkascher Texte im radikalen Bruch mit den traditionellen poetischen Formen beruht. Was der Deutung als Verschlossenheit und Rätselhaftigkeit zu schaffen macht, ist die Verwendung der Sprache selbst. Denn sowohl der strengen Exaktheit der Sprache Franz Kafkas wie seiner Ästhetik der poetischen Formen liegt eine dermaßen radikale Sprachkritik zugrunde, daß tradierte ästhetische Theorien und herkömmliche Deutungsmuster versagen müssen. Diesen Zusammenhang von Sprachkritik und Ästhetik aufzuzeigen, ist Ziel dieser Untersu chung. Dabei sollen Form und Funktion der poetischen Sprache analysiert, beschrieben und auf ihre Ursachen hin untersucht werden, wobei sich zeigen wird, wie und warum sich die poetischen Formen aus Kafkas Sprachkritik ergeben und von hier aus auch verständlich werden. Durch die Begriffe >poetische Sprache< und >Sprachkritik< ist die allgemeine Spanne der Fragestellung abgegrenzt, die fünf Teilbereiche umfaßt, von denen jeder unabdingbar mit dem anderen verknüpft ist. Obwohl Kafka sprachlich vorhandene Möglichkeiten des Ausdrucks anders verwen det und neue, bis dahin ungebrauchte Aussageformen wählt, sind es nicht Schöpfungen gleichsam aus dem traditionslosen Nichts. Im Gegenteil. Kafka desavouiert und demon tiert Formen der Tradition, weil sie keine Ausdrucksmöglichkeiten mehr bieten und das Mitzuteilende mit den traditionellen Mitteln nicht mehr ausgesagt werden kann, sondern zwischen Gegenstand und ästhetischer Überlieferung eine Differenz sich gebildet hat, die Kafkas der Wahrheit verpflichtetes Denken nicht zuließ. Sprachkritik als Kritik an der literarischen Tradition, dem wird die erste Studie gewidmet sein. Zu untersuchen sind einzelne Figuren poetischer Aussage wie Allegorie, Gleichnis und Metapher, ihre Verwendung im Kontext Kafkascher Texte und sie wieder im Kontext der Tradition. Daß Kafka mit seiner sprachkritischen Traditionskritiktrotz seiner Einzigartigkeit nicht aus dem zeitgenössischen Rahmen derJahrhundertwende fällt, ist in diesem Zusammen hang aufzuzeigen. Denn Sprachkritik und Sprachkrisen sind um 1900 eine Erscheinung, die nicht nur den Wendepunkt einer literaturhistorischen Epoche markiert, sondern Wendepunkt in der Dialektik des abendländischen, wenn nicht überhaupt des Denkens ist. Heimgesucht und von Krisen erschüttert wurde nicht nur die Literatur, sondern Wissenschaft und Philosophie gleichermaßen. Mit der Beschreibung dessen, was in Fragestellungen, Motiven und Problemen beide Bereiche verband, die ohnedies nicht unabhängig voneinander waren, beginnt diese Studie.