Conditio Judaica 7 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Itta Shedletzky Kabbala und Romantik Herausgegeben von Eveline Goodman-Thau, Gerd Mattenklott und Christoph Schulte Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kabbala und Romantik / hrsg. von Eveline Goodman-Thau ... - Tübingen: Niemeyer, 1994 (Conditio Judaica ; 7) NE: Goodman-Thau, Eveline [Hrsg.]; Conditio Iudaica ISBN 3-484-65107-5 ISSN 0941 -5866 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren Inhalt Vorwort VII Christoph Schulte: Kabbala in der deutschen Romantik. Zur Einleitung 1 I. Prädispositionen und Vorgeschichte Aleida Assmann: Schriftspekulationen und Sprachutopien in Antike und früher Neuzeit 23 Gedalyahu G. Stroumsa: Gnosis and Judaism in 19th Century Christian Thought 43 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Einführende Bemerkungen zu Schelling und Rosenzweig 59 II. Christliche Kabbala. Theosophie. Philosophie Horst Folkers: Das immanente Ensoph. Der kabbalistische Kern des Spinozismus bei Jacobi, Herder und Schelling 71 Christoph Schulte: Zimzum bei Schelling 97 Volker Roelcke: Kabbala und Medizin der Romantik: Gotthilf Heinrich Schubert 119 Christoph Schulte: "Die Buchstaben haben...ihre Wurzeln oben". Scholem und Molitor 143 III. Kabbalisten und jüdische Romantiker Werner J. Cahnman: Friedrich Wilhelm Schelling and the New Thinking of Judaism 167 VI Inhalt Raphael Straus: The Baal Shem of Michelstadt. Mesmerism and Cabbala 207 Rivka Horwitz: On Kabbala and Myth in Germany in the 19th Century: Isaak Bernay s 217 Eveline Goodman-Thau: Meyer Heinrich Hirsch Landauer - Eine Brücke zwischen Kabbala und aufgeklärtem Judentum 249 IV. Wissenschaft des Judentums Eliezer Schweid: Halevi and Maimonides as Representatives of Romantic versus Rationalistic Conceptions of Judaism 279 Roland Goetschel: Peter Beers Blick auf die Kabbala 293 St6phane Weiss: Wissenschaft des Judentums und Kabbala 307 Personenregister 331 Vorwort In seiner bekannten Abhandlung Die letzten Kabbalisten in Deutschland hatte Gershom Scholem den Niedergang originärer kabbalistischer Literatur in den deutschsprachigen Ländern auf das Jahr 1800 datiert. "Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts bricht die kabbalistische Tradition in Deutschland ziemlich abrupt ab." Im 19. Jahrhundert finde man sie, gleichsam unterirdisch, nur noch vereinzelt bei einigen Nachzüglern. Damit hatte Scholem ein Machtwort gesprochen, das für alle neueren For- schungen bestimmend wurde. Seiner These mußte sich auch unser Projekt Kabbala und Romantik stellen. Wurde Kabbala in der Romantik wirklich so selten? Und wenn, welche Rolle spielte sie noch? Im Ergebnis stehen die Beiträge von Kabbala und Romantik zu Scholems Feststellungen in einem komplementären Verhältnis. Denn das Abbrechen der kabbalistischen Tradition bedeutete keineswegs ihr Verschwinden. Vielmehr ist ein Prozeß der Transformation von Kabbala zu beobachten. Dem von Scholem konstatierten Verebben kabbalistischer Literatur in hebräischer Sprache steht ein ungeheures Anwachsen der Bezugnahme, Wertschätzung und Erforschung von Kabbala in deutschsprachigen Texten gegenüber, und zwar nicht nur bei jüdischen, sondern auch bei christlichen Autoren. Dem Bruch mit der kabbalistischen Tradition Ende des 18. Jahrhunderts entspricht sonach ihre fast gleichzeitige Vermittlung und Transformation im religiösen, sprachlichen und kulturellen Kontext der deutschen Romantik. Dabei ist Kabbala mehr als Metapher oder Trope. Die Kenntnisse ihrer Leh- ren und Texte bei ihren Anhängern wie bei ihren Gegnern sind vergleichs- weise gut. Auch wenn also keine berühmten kabbalistischen Traktate in Hebräisch mehr geschrieben wurden (was übrigens nicht nur für Deutschland gilt), so zeigt doch die Transformation von Kabbala in der deutschen Roman- tik an, daß das Wissen über sie so wenig wie das Interesse an ihr schlagartig verschwindet. Was es mit der Kabbala in der deutschen Romantik im einzelnen auf sich hat, war der Gegenstand von internationalen Kolloquien in Kassel und Jeru- salem in den Jahren 1991 und 1992. Deutsche, französische und israelische Wissenschaftler haben dort in ihren Vortragen aus ihrer jeweiligen Fachper- spektive heraus zu einem Mosaik von Forschungsergebnissen beigetragen. Die Veröffentlichung einiger dieser Vortrage in diesem Band soll nur einen VIII Vorwort Anfang machen, anregen und ein neues Feld interdisziplinärer Forschung abstecken. Die Herausgeber danken den Verantwortlichen und Mitarbeitern der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Philosophische Grundlagenprobleme an der Gesamthochschule Universität Kassel (Prof. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik und Prof. Gottfried Heinemann) sowie des Franz Rosenzweig-Zentrums für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte (Prof. St6phane Mosfcs), des Department of Comparative Religion (Prof. Gedaliahu G. Stroumsa) und des Institute of Jewish Studies an der Hebräischen Universität Jerusalem für die materielle und intellektuelle Unterstützung unseres Projekts. Besonderen Dank schulden wir Prof. Renate Schlesier (Universität-Gesamthochschule Paderborn) für ihre von Anfang an hilfreiche Mitarbeit bei der Planung unseres Projekts und Prof. Hans-Otto Horch (RWTH Aachen) für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe Conditio Judaica. Eveline Goodman-Thau Gert Mattenklott Christoph Schulte Christoph Schulte Kabbala in der deutschen Romantik. Zur Einleitung In der Geschichte von Philosophie und Politik, Theologie und Literatur bedeutete Aufklärung zumeist einen Bruch mit religiöser Orthodoxie. Dem Exodus aus der Orthodoxie folgt jedoch - individuell wie sozial - nicht selten eine Rückbesinnung auf andere, heterodoxe und mystische religiöse Traditio- nen, die in neuen Konstellationen mit dem Gedankengut der Aufklärung amalgamiert werden. Dieser Figur einer nachaufklärerischen Wiederanknüp- fung an religiöse Traditionen, die im Fall der Kabbala-Rezeption der deut- schen Romantik prägnant aufscheint, soll hier nachgegangen werden. Die Aufnahme der Kabbala durch die deutsche Romantik steht von vorn- herein vor einem Paradox. "Denn die Welt der Kabbala war der jüdischen Aufklärung des 19. Jahrhunderts in der Tat verschlossen" (Gershom Scholem1). In eben den Jahren, in denen im Zeichen jüdischer Aufklärung und Emanzipation eine Wissenschaft des Judentums sich konstituiert, sind es christliche Romantiker, die Kabbala sich anzueignen beginnen. Ihr gegen die religiöse "Kahlheit der Aufklärerei" (Hegel2) gerichtetes Interesse an Natur- philosophie, Magie, Mythos und Pantheismus, an mystischer Sprachtheorie und Symbolik, an Kosmogonie und Theogonie wird von der Kabbala angezo- gen und befeuert. In der romantischen Naturphilosophie und in Baaders Theosophie ebenso wie in Schellings "Metaphysik des Bösen" (Heidegger3), der Freiheitsab- handlung von 1809, und in seiner Weltalter-Philosophie wird Kabbala in den Bildern von Ein-Sof und Zimzum nicht nur metaphorisch, sondern konzeptu- ell bestimmend. Molitor lernt und kommentiert jahrzehntelang Kabbala und entwickelt in seinen Werken "Ideen und Anschauungen, die wirkliche Ein- sicht in diese Welt verraten" (Scholem4). Die Wirkung solcher erstaunlichen Wertschätzung von Kabbala erstreckt sich jedoch weit über Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft hinaus bis in die romantische Literatur, Naturwissenschaft und Medizin. Auf der anderen Seite bleibt der Widerstand des aufgeklärten deutschen Judentums gegen die Kabbala auszuleuchten. "Die großen jüdischen Gelehr- 1 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 19S7, S. 2. 2 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hg. v. Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. Hamburg 1975. Vorrede zur 2. Ausgabe, S. 16. 3 Martin Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hg. v. Hildegard Feick. Tübingen 1971, S. 125 u.ö. 4 Scholem, Die jüdische Mystik (Anm. 1), S. 2. 2 Christoph Schulte ten des vorigen Jahrhunderts, deren Auffassung der jüdischen Geschichte noch in unseren Tagen vorherrscht, Männer wie Graetz, Zunz, Geiger, Luz- zatayto und Steinschneider, hatten, um es sehr maßvoll auszudrücken, wenig Sympathie für die Kabbala" (Scholem5). Im Gestus der Aufklärung werden dabei Magie und Mystik, Pantheismus und Mythologie aus dem Bild des jüdischen Monotheismus entfernt. Die geheimen politisch-theologischen Motive solcher Elimination sind sorgsam zu entschlüsseln. Denn die neu ent- stehende Wissenschaft des Judentums wird so eindringlich auf Aufklärung und Emanzipation eingeschworen, daß Kabbala und ihre kritische Erforschung wissenschaftlich abseitig, ihre Praxis einigen traditionellen Rab- binen und deren Anhängern vorbehalten bleibt. Daß der Widerstand der Wis- senschaft des Judentums gegen die Kabbala sich nicht nur aus einem zur Ideologie geratenen Rationalismus und damit aus einer Dialektik der Aufklä- rung speist, sondern sich bis hin zu Scholem prinzipiellen Schwierigkeiten des Anspruchs auf reine Wissenschaftlichkeit und Methode bei Phänomenen lebendiger Religiosität verdankt, ist die These von Stöphane Weiss' Beitrag "Wissenschaft des Judentums und Kabbala" am Ende dieses Bandes. Im Vergleich zum viel beachteten Streit zwischen jüdischer Reform und Neo-Orthodoxie führte Kabbala nur ein wissenschaftlich bis heute fast unauf- gearbeitetes Schattendasein. Während nämlich die Kabbala-Rezeption durch christliche Romantiker blühte, blieb sie bei jüdischen Romantikern eher die Ausnahme. Es gibt, wie das Beispiel von Salomon Ludwig Steinheim zeigt, eine gegen die Aufklärung gerichtete, romantische jüdische Spiritualität und Religiosität ganz ohne Kabbala, so wie ja auch nicht-kabbalistische Formen der Frömmigkeit durch die Jahrhunderte fortexistieren. Eliezer Schweid macht in seinem Beitrag zu diesem Buch einerseits auf die sozialen und intellektuellen Hindernisse romantischer Kabbala-Rezeption in jüdischen Kreisen aufmerksam und schlägt andererseits vor, die Bezugnahme auf Maimonides als Kriterium rationalistischer, die Bezugnahme auf Jehuda Halevi (und nicht auf Kabbala) hingegen als Kriterium romantischer Den- kungsart zu nehmen. Dennoch ist, wenn auch in kleinen Kreisen, eine Kabbala-Rezeption im deutschen Judentum der Romantik zu vermerken und zu erforschen; eine Rezeption, die teilweise noch ganz aus der traditionellen rabbinischen Ver- mittlung und Praxis der Kabbala, wie etwa beim "Baalschem von Michel- stadt" Seckel Löb Wormser, hervorgeht.6 Während auf christlicher Seite die Rezeption von Kabbala gegen den Theismus der Aufklärung lediglich den Rückgriff auf ein für wichtig oder sogar für religiös unverzichtbar erachtetes, mystisches Traditionsgut der jüdischen, d.h. einer anderen Religion und 5 Scholem, Die jüdische Mystik (Anm. 1), S. 1. 6 Vgl. Gershom Scholem, "Die letzten Kabbalisten in Deutschland", in: ders., Judaica 3. Frankfurt/M. 1970, S. 218-246.