Form, Information, Potentiale Form, Information, Potentiale1 Das Fehlen einer allgemeinen Theorie der Humanwissenschaften2 und der Psychologie spornt die Reflexion an, nach den Bedingungen einer möglichen Axiomatisierung zu suchen. In Hinblick auf diese Arbeit, in die notwendigerweise ein gewisser Anteil eigener Erfindung einfließen muss, die also nicht das Ergebnis einer reinen Synthese des Bestehenden sein kann, ist es angebracht, die wichtigsten Begriffssysteme wieder zutage zu fördern, derer man sich bedient hat, ohne dabei den jüngsten unter ihnen den Vorzug zu geben: Auch die Entdeckungen, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der theoretischen Chemie gemacht wurden, haben atomistische Schemata wieder aufgegriffen, die bereits zweitausend Jahre zuvor definiert worden sind und sie um den eigenen Beitrag der Gewichtsanalyse bereichert. Analog dazu könnte man die Prinzipien der unbestimmten Dyade, des Archetyps und von Stoff und Form wieder aufgreifen, um sie mit den jüngsten Erklärungsmodellen der Gestaltpsychologie sowie der Kybernetik und der Informationstheorie in Verbindung zu bringen und schließlich auch der Physik entlehnte Konzepte wie jenes des Potentials einzubeziehen.Wirmochtenzeigen,dasseineaxiomatischeSkizzederHumanwissenschaften oder zumindest der Psychologie möglich ist, wenn man versucht, die drei Begriffe Form, Information und Potential gemeinsam zu fassen. Voraussetzung dafür ist allerdings, zu ihrer Verbindung und Organisation die Definition eines bestimmten Typs der Operation hinzuzufügen, der auftritt, wenn es Form, Information und Potential gibt: die transduktive 1Anm. M. C.: „Forme, informacion, potentiels“ ist das Manuskript eines Vortrags, den Simondon am 27. Februar 1960 vor der Société Française de Philosophie gehalten hat und der als Vorarbeit zu seiner umfangreichenDoktorarbeitzurIndividuationgeltenkann.DerTextwurdezunächstinL’individuation psychique et collective à la lumière des notions de forme, information, potentiel et métastabilité, Paris 1989,demerstpostummitmehralsdreißigjährigerVerspätungveröffentlichtenzweitenTeilvonGilbert Simondons Individuationsbuch abgedruckt. Die Herausgeber placierten es dort als zweiten Teil der Einleitung. In der ersten vollständigen Ausgabe des Individuationsbuchs, L’individuation à la lumiere des notions de forme et d’information, Grenoble 2005, ist der Text im Anhang wiederabgedruckt (S. 531–551). Dieser Fassung folgt die Übersetzung. Für eine kurze Einführung zu Simondon mit Literaturhinweisen vgl. Michael Cuntz: Individuation, Werden und Kollektiv. Gilbert Simondon und seine‚ErgänzendeBemerkungzudenKonsequenzendesIndividuationsbegriffs‘,in:IlkaBecker/Michael Cuntz/Astrid Kusser (Hg.): Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht, München 2008, S. 37–43 sowieders.:Mésalliances–DieRestitutiona-modernerRelationenbeiGilbertSimondon,MichelSerres, Bruno Latour und Gabriel Tarde, in: Rainer Zaiser (Hg.): Literaturtheorie und sciences humaines. Frankreichs Beitrag zur Literaturwissenschaft (1960-200), Berlin 2008, S. 87–106. 2AnmM.C.:DamitistdiefranzösischeAuffassungderscienceshumaines gemeint,nichtdiebezeichnende Verengung des Menschen auf seinen biologisch-genetischen Status, die das Konzept in jüngster Zeit erfahren hat. 2 Operation. 1. Der Begriff der Form spielt in allen Theorien, in denen er auftaucht, konstant die gleiche funktionale Rolle: diejenige eines strukturellen Keims, der eine bestimmte Lenkungs- und Organisationskraft besitzt; er setzt einen grundlegenden Dualismus zwischen zwei Typen von Wirklichkeit voraus: die Realität, die die Form empfangt und diejenige, die Form ist oder diese Form birgt. Dieses Privileg der Form liegt in ihrer Einheit, Totalität und wesensmäßigen Kohärenz mit sich selbst. Selbst in der Gestaltpsychologie*3 bewahrt die Form, obwohl keinem Stoff mehr vorgängig, ihre Überlegenheit als Ganzheit*, und es gibt eine Hierarchie der Formen (gute Form, beste Form). Ob immanent oder transzendent, der Formgebung [prise de forme]4 vorgängig oder gleichzeitig mit dieser Operation entstehend: Sie bewahrt ihr Privileg der Überlegenheit gegenüber dem Stoff oder den Elementen. Das Fundament jeder Theorie der Form, ob archetypisch, hylemorph oder gestaltpsychologisch, ist die qualitative, funktionale und hierarchische Asymmetrie zwischen der Form und dem, was Form annimmt. 2. Der Begriff der Information isthingegenderSchlusssteinjederLehrederReziprozität, der Äquivalenz oder gar der Reversibilität zwischen aktivem und passivem Term innerhalb des Austauschs. Sender und Empfänger sind die homogenen Extremitäten einer Linie, auf der die Information mit maximaler Sicherheit dann übertragen wird, wenn die Operation reversibel ist; es ist nicht allein die Kontrolle, sondern schon die Bedingung der Verständlichkeit selbst, für die Reversibilität und Eindeutigkeit die Voraussetzung bilden. Encodierung und Decodierung verlaufen nach Konventionen, die dem Sender und dem Empfänger gemeinsam sind: Nur ein Inhalt kann übertragen werden,keinCode.MankannderInformationstheoriejedenErklärungstypzurechnen, der die Symmetrie und Homogenität der Elemente annimmt, die sich durch einen additiven Prozess der Gegenüberstellung verbinden und Form gewinnen – allgemeiner gesagt lassen sich quantitative Phänomene der Masse und der Bevölkerung, die der Theorie des Zufalls unterliegen, und die Symmetrie der Elemente (und ihrer Beschaffenheit, wie immer diese auch sei) im Rahmen der Informationstheorie denken. 3. Die transduktive Operation wäre die Ausbreitung oder Fortpflanzung (propagation) einer Struktur, die sich, von einem strukturellen Keim ausgehend, Stück für Stück in 3Anm. M. C.: Mit Asterisk markierte Begriffe deutsch im Original. 4Anm. M. C.: Wörtlich also ,Annahme der Form’, eine Nuance, die sich im deutschen Begriff schwer wiedergeben lässt, die aber im Zusammenhang mit der Kritik an der klassischen Zuweisung der aktiven und passiven Rolle an Form und Stoff im archerypischen wie im hylemorphen Modell alles andere als nebensächlich ist: Es ist der nun nicht mehr passive Stoff, der sich die Form nimmt. 3 einem Feld ausdehnt, so wie eine übersättigte Lösung ausgehend von einem kristalli- nen Keim kristallisiert. Dies setzt voraus, dass sich das Feld in einem metastabilen Gleichgewicht befindet und folglich eine potentielle Energie birgt, die nur durch das Hervortreten einer neuen Struktur freigesetzt werden kann, die gleichsam die Lösung des Problems ist. Dann aber ist die Information nicht mehr reversibel, sie ist die Richtung der Organisation, die auf kurze Distanz vom Strukturkeim ausstrahlt und sich im Feld ausdehnt: Der Keim ist Sender, das Feld Empfänger, und die Grenze zwischen Sender und Empfänger verschiebt sich kontinuierlich, während die Operation der Formgebung sich Schritt für Schritt ereignet; man könnte sagen, dass die Grenze zwischen Strukturkeim und strukturierbarem, metastabilem Feld ein Modulator ist. Es ist die aus der Metastabilität des Felds resultierende Energie, die es der Struktur, also der Form, erlaubt vorzudringen, die Potentiale wohnen dem Stoff inne und die Grenze zwischen Form und Stoff ist ein verstärkendes Relais. Massenphänomene sind dabei keineswegs zu vernachlässigen, doch muss man sie als BedingungenfürdieAkkumulationpotentiellerEnergieineinemFeldbetrachtenundgenau genommen als die Bedingungen der Schaffung des Felds als Bereich, in dem Transduktivität möglich ist, was eine relative Homogenität ebenso voraussetzt wie die [gleichmäßige] Verteilung der energetischen Potentiale auf alle Teile des Felds. Es kommt somit zur Transposition der Beziehung Stoff-Form in eine transduktive Beziehung, eine progressive Beziehung des von Strukturierendem und Strukturiertem gebildeten Paars über eine aktive Grenze, die zur Informationspassage wird. Es besteht eine gewisse Relation zwischen einer Untersuchung des technischen Objekts und dem hier vorgestellten Problem von Form, Information und Potentialen. Gleichwohl ist das technische Objekt nur dazu bestimmt, als Modell, Beispiel, viel leicht als Paradigma zu fungieren um – auf eine Weise, die wir nicht als neu darzustellen trachten, für die wir aber in Anspruch nehmen, dass sie die Problematik entfaltet – das Problem der Beziehungen zwischen dem Konzept der Form in seinen verschiedenen Ausprägungsformen, dem Konzept der Information und schließlich demjenigen des Potentials oder der poten- tiellen Energie zu interpretieren. Es ist der Wille, den Ausgangspunkt einer Axiomatik der Humanwissenschaften zu finden, der uns den Entschluss fassen ließ, eine Korrelation zwischen Form, Information und Potentialen zu suchen. Heutzutage spricht man von den Humanwissenschaften und es gibt viele Techniken des human engineering, aber dieses Wort Humanwissenschaften steht immer im Plural. Dieser Plural bedeutet wahrscheinlich, dass es nicht gelungen ist, eine einheitliche Axiomatik zu definieren. Warum gibt es Hu- manwissenschaften, wahrend es eine Physik gibt? Warum sind wir stets gezwungen, von Psychologie, Soziologie und Psycho-Soziologie zu sprechen: Warum sind wir gezwungen, 4 verschiedene Forschungsfelder innerhalb der Psychologie, der Soiologie und der Sozialpsy- chologie zu unterscheiden? Und dabei sprechen wir noch überhaupt nicht über die anderen möglichen Humanwissenschaften. Greifen wir nur die drei genannten heraus, also diejenige, die zum Ziel hat, Gruppen zu erforschen, diejenige, deren Ziel es ist, das individuelle Wesen zu untersuchen und diejenige, welche die Korrelation zwischen Individuum und Gruppen erklärt, so finden wir eine Vielzahl von Feldern und eine beinahe unendliche Aufsplitterung der Forschung. Dies offenbart, dass selbst für eine einzige dieser Human- wissenschaften die Suche nach einer Einheit äußerst problematisch ist und dass man eine Theorie begrüßen muss, die häufig reduktionistisch ist, um innerhalb jeder einzelnen dieser Wissenschaften zu einer Einheit zu gelangen. Eher lässt sich eine Einheit der Tendenzen beobachten als eine Einheit der erklärenden Prinzipien. Wenn wir die aktuelle Situation der Humanwissenschaften mit derjenigen der Naturwissenschaften vergleichen, wie sie sich in der Antike, im 16. Jahrhundert oder zu Beginn des 19. Jh. darstellte, stellen wir fest, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Chemie und, von dieser getrennt, eine Physik, vielleicht sogar mehrere Physiken und Chemien gab. Hingegen haben wir zu Beginn des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich große Theorien entstehen sehen, die Möglichkeiten der Axiomatisierung geliefert haben. So hat man auf dem Gebiet der Elektrizität und des Magnetismus um 1864 Maxwells elektromagnetische Theorie des Lichts hervortreten sehen, die eine exemplarische Form der schöpferischen Synthese ist und immer bleiben wird: Synthese, weil sie die alten Elemente der verschiedenen Forschungen über die Wechselwirkungen von Strömen und Feldern und über die Phänomene der Induktion vereint, und schöpferisch, weil sie ein neues Konzept hinzufügt, mittels dessen die Synthese möglich wird und ohne die es keine Axiomatisierung gäbe: die Verschiebungsströme. Aus diesen Verschiebungsströmen ist dann die Ausbreitung des elektromagnetischen Felds geworden, wie sie Hertz zwanzig Jahre später im Experiment sichtbar gemacht hat. Könnte man das gleiche Werk nicht in den Humanwissenschaften vollbringen? Könnte man nicht die Humanwissenschaft begründen, und zwar so, dass man selbstverständlich die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten respektiert, aber wenigstens über eine gemeinsame, auf alle Gebiete anwendbare Axiomatik verfügt? EsistderBlickaufdieEntwicklungderNaturwissenschaften,dieunsantreibt,sozuhandeln. PhysikundChemieexistiertenvoneinandergetrennt,jetztgibteseinephysikalischeChemie und wir können sehen, wie die Korrelationen zwischen Physik und Chemie immer stärker werden. Müsste man nicht zwischen den beiden Extremen der Theorie der Gruppen, also der Soziologie und der Theorie des Individuums, also der Psychologie, ein mittleres Glied [moyen terme] finden, das gerade das aktive und gemeinsame Zentrum einer möglichen Axiomatisierung wäre? Wir beobachten tatsächlich in mehren Fällen, dass selbst wenn wir 5 die individuelle Psychologie in ihren ‚monografischsten‘ und interioristischen Ausprägungen nehmen, selbst wenn wir die Soziologie der größten Mengen nehmen, wir immer zur Suche nach einer Korrelation angehalten sind, die durch den Umstand notwendig wird, dass es weder in der Soziologie die Gruppe aller Gruppen gibt noch in der Psychologie, innerhalb des Individuums, ein Element, ein Atom des Denkens, das sich isolieren ließe, um aus ihm das Analogon eines einfachen chemischen Körpers zu machen, und das es erlauben würde, alles durch Kombinationen mit anderen einfachen Elementen wieder zusammenzusetzen. Die Isolierung einer Monade als psychologisches Atom oder einer menschlichen Gruppe, die eine Totalität, d. h. eine Art soziales Universum bilden würde, erweist sich als unmöglich. Es gibt in der Soziologie nicht eine ‚Menschheit‘ und es gibt in der Psychologie kein letztes Element, wir bewegen uns immer auf einer Ebene der Korrelationen, ganz gleich, ob wir uns auf die Suche nach Elementen innerhalb des Individuums machen oder auf die Suche nach den umfassendsten gesellschaftlichen Gruppen. Unter diesen Umständen halten uns die Lehren, die wir aus der Entwicklung der Na- turwissenschaften ziehen können, dazu an, die ältesten Prinzipien der Erklärung wieder aufzugreifen, die innerhalb der Humanwissenschaften vorgeschlagen worden sind, sofern es sich bei diesen Prinzipien um Prinzipien der Korrelation handelt. Dies ist also der Grund, weshalb wir glauben, Begriffe wie Form, Information und Potential wählen zu können und dabei vom Begriff der Form auszugehen. Dieser Begriff ist wahrscheinlich einer der ältesten, der überhaupt von Philosophen formuliert worden ist, die sich für das Studium menschlicher Probleme interessiert haben. Zwar hat er starke Veränderungen durchgemacht, aber wir finden ihn im platonischen Archetyp, dann in der Beziehung Stoff-Form bei Aristoteles und im Schema des Hylemor- phismus, wir stoßen nach einem langen, bisweilen platonischen, bisweilen aristotelischen Weg wieder im Mittelalter und im 16. Jahrhundert auf ihn und wir finden ihn schließlich ganz am Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert in der Gestaltpsychologie* wie- der, welche die Wiederaufnahme alter Vorstellungen unter neuen Einflüssen darstellt. Die Gestaltpsychologie* erneuert die Vorstellung der Form und schafft gleichsam die Synthese der archetypischen platonischen Form und der aristotelischen hylemorphen Form dank eines erläuternden und exemplarischen Begriffs, den sie der Naturwissenschaft entnimmt: den des Felds. Wir werden versuchen zu zeigen, dass der Begriff der Form notwendig ist, für sich genommen aber nicht ausreicht, um eine Axiomatik der Humanwissenschaften zu begründen, wenn man ihn nicht innerhalb eines Systems präsentiert, das auch die Begriffe der Information und der Potentiale im Sinn potentieller Energie einschließt. Ich werde also versuchen, eine historische Entwicklung des Formbegriffs von seiner archetypischen über seine hylemorphe bis zu seiner gestaltpsychologischen Ausprägung nachzuzeichnen. 6 Dann werde ich versuchen zu zeigen, in welcher Hinsicht er ungenügend für unser axioma- tisierendes Vorhaben ist. Ich werde dann einige Erwägungen zur Information anschließen und abschließend werde ich versuchen darzulegen, was es erlauben würde, den Begriff der Form mit dem der Information zu vereinen: Es handelt sich um das, was ich transduktive Operation oder auch Modulation genannt habe und was ausschließlich in einem Bereich der Wirklichkeit existieren kann, der sich in metastabilem Zustand befindet und potentielle Energie enthält. Eine kurze Erklärung zum Ausdruck der Modulation ist nötig. Dieses Wort wird hier nicht im weiten technischen Sinn verstanden, den es hat, wenn man von der Modulation der Endstufe eines Senders spricht, sondern im engeren Sinn, der die Operation bezeichnet, die sich in einem Verstärkerrelais vollzieht, das eine unendliche Zahl von Zuständen erlaubt, wie zum Beispiel eine Röhre mit heißer Kathode – Triode, Tetrode, Pentode – oder ein Transistor. Es handelt sich um die Operation, durch die ein schwach energetisches Signal, wie dasjenige, das man auf das Steuergitter einer Triode schickt, mit einer bestimmten Anzahl möglicher Freiheitsgrade die potentielle Energie aktualisiert, die vom Anodenkreis und dem Effektor, der die äußere Ladung dieses Anodenkreises ist, geliefert wird. Der Ausdruck eignet sich nicht vollkommen, denn er ist etwas zweideutig, und zwar deswegen, weil man unter Modulation auch den wechselseitigen Einfluss zweier Energien versteht, wobei die eine, beispielsweise eine hochfrequente Oszillation, der zukünftige Träger der Information ist, und die andere bereits durch ein Signal informierte Energie, wie bei- spielsweise der niedrigfrequente Strom, der eine hochfrequente Oszillation in der Prozedur der anodischen Modulation von Sendern moduliert. Es gibt hier also eine semantische Präzisierung, die man direkt zu Anfang vornehmen muss, um diesen Typus physischer Interaktion zu definieren. Wenn die reine Psychologie und die reine Soziologie unmöglich sind, weil es kein letztes Element der Psychologie und keine Menge aller Mengen in der Soziologie gibt, ist es notwendig zu sehen, wie die Psychologen oder die Soziologen der Antike die Prozesse der Interaktion und des Einflusses behandelt haben. Gehen wir dabei zunächst von der ebenso bedeutsamen wie komplementären Opposition zwischen archetypischer Form bei Platon und hylemorpher Form bei Aristoteles aus. Die Form als Archetyp bei Platon ist das Modell all dessen, was, einem Modell vertikaler Interaktion folgend, überlegen, ewig und einzig ist. Der Archetyp, von archè, Ursprung, und typos, Abdruck, ist der primäre Existenzmodus der Substanz. Das Wort bezeichnet den Prägestempel, mittels dessen man Münzen prägen kann, die Münze, wie man später sagen wird. Typos ist der Abdruck, aber auch der Schlag. Mit einem Stück graviertem Stahl kann man Buchstaben oder Züge [caractères] auf eine kleine Edelstahlplatte pressen und dieser Archetyp erlaubt es, dieselbe 7 Figur, dieselbe Konfiguration, die er selbst trägt, auch dem verformbaren Stoff zu geben, den die Metallplatte darstellt. Wenn der Archetyp aus gutem Stahl besteht, sind alle mit der gleichen Münzpräge geschlagenen Münzen untereinander gleich und wiedererkennbar, weil sie kausal aus der gleichen Modulationsoperation hervorgehen, die im Archetyp ihren Ausgangspunkt hat. Zwar kann der Archetyp verderben [se degrader] , doch muss man seine ontologische Überlegenheit festhalten: Verliert man eine Münze, verliert man lediglich Metall, wahrend man bei Verlust des Archetyps ausgehend von der Münze einen neuen schneiden muss, und es kann passieren, dass die Münze weniger vollkommen ist als der Archetyp, der zweite Archetyp wird also dem ersten nicht vollkommen gleichen. Anders gesagt, zwischen einer geprägten Münze und der nächsten gibt es eine gewisse Anzahl aleatorischer Fluktuationen – ein Staubkorn, eine Unebenheit im Metall – die von einer zentralen Tendenz kaschiert werden: Diese zentrale, normative und überlegene Tendenz wird von der ersten Form der Präge, des Archetyps repräsentiert. Wir finden hier das Modell eines Interaktionsprozesses, der kaum den Namen Interaktion verdient, der aber einen Extrempunkt für alle anderen möglichen Typen der Interaktion markiert: es ist die nicht reziproke, irreversible Interaktion ohne Umkehr zwischen der Münze und dem Archetypen, die eine grundlegende Asymmetrie in sich birgt: Der Archetyp ist der Münze überlegen; es gibt keine Komplementärbeziehung, denn der Archetyp bedarf derMünzennicht,umzuexistieren.Eristebensovorgängigwieerüberlegenist:Erexistiert vor jeder Münze. Dies ist das Modell der Ideen bei Platon: tà eidon, die Formen, die wie die Archetypen sind und es erlauben, die Existenz der sinnlich wahrnehmbaren Dinge zu erklären. Diese wahrnehmbaren Dinge sind Münzen vergleichbar, die mit Münzprägen, den Ideen, geprägt worden sind. Die Prägen sind unveränderlich, sie existieren jenseits der Sphäre der Fixsterne und können nicht verderben. Das gezeugte Wesen, welches in der génesis und in der phtorá, dem sinnlich Wahrnehmbaren ist, kann verfallen, doch die Form, tò eidos, verdirbt nicht. Sie ist auch keines Fortschritts fähig. Dies führt zu einer Erkenntnistheorie, in welcher der Mensch sich anlässlich des Zusammentreffens mit dem sinnlich Wahrnehmbaren und der Schwierigkeiten, die aufkommen, wenn das erkennende Subjekt sich dem sinnlich Wahrnehmbaren nähert, lediglich an die Form erinnern kann. Er kann sich nur an die Vision der Formen erinnern und das sinnliche Erfahrbare ausgehend von dieser Vision, ohne echtes induktives Verfahren des Denkens, interpretieren. Warum? Weil die ganze Perfektion der Form, die ganze Perfektion des strukturellenInhaltsbereitsursprünglichgegebenist.Platonkonstruierteinmetaphysisches Universum und ein epistemologisches System, in denen die Vollkommenheit am Ursprung gegeben ist. Die Vollkommenheit, die größte strukturelle Fülle, weilt in jener Welt Jenseits derSphärederFixsterne,diealso,selbstewigundtranszendent,keinemVerfall[dégradation] 8 und keinem Fortschritt ausgesetzt ist. Der Verfall charakterisiert nur das, was gezeugt ist. Was ausgehend von der im Exemplarismus gedachten Relation5 hervorgebracht wird, kann entwederverderben,oderaberdieSeelekann–allerdingsnurindemMaße,wiesieSchwester der Ideen ist – den Wiederaufstieg zur ursprünglichen Vollkommenheit steuern [gouverner]: Dies ist der erste Platonismus, in dem es die Intention der Philosophie ist, aus dem Grab der Götter, in dem wir uns befinden – dieser Ausdruck wird Sokrates zugeschrieben – wieder zu jener Welt emporzusteigen, in der wir die Archetypen wiederfinden werden. Wollten wir anhand eines Zugs diese Art beschreiben, die Form zu betrachten, würden wir sagen, dass, da die Form ja von Anbeginn an vollkommen war, der Platonismus ein System der Erhaltung und des Respekts gegenüber der ein für allemal gegebenen Idee oder der Rückkehr zur Idee bildet. Die Wissenschaft ist eine Erinnerung, eine anámnesis, sie ist auch eine Schau, sobald man wiederentdeckt hat, woran die Seele sich erinnert, denn sie ist adelphè ton eidon, Schwester der Ideen. Die individuelle Moral ist konservativ, sie ist auf die Erhaltung der Struktur des Individuums ausgerichtet, durch die sie die Idee des Menschen verwirklicht; sie zielt auf die Erhaltung der Beziehung ab, die eben zwischen nous [Intellekt], thymós [Gemüt] und epithymia [Begehren] bestehen muss, einem Prinzip der Gerechtigkeit (aber tatsächlich müsste man Reinheit sagen), die das strukturelle System bewahrt, welches das Individuum prägt. Nun eignet sich die überlegene und unveränderliche Form, wie sie der Platonismus entwi- ckelt, perfekt zur Repräsentation der Struktur der Gruppe und begründet eine implizite Soziologie, eine politische Theorie der idealen Gruppe. Diese Gruppe ist stabiler als die Individuen und sie ist mit so viel Trägheit ausgestattet, dass sie als beständig erscheint; übrigens wird die relative Beständigkeit von Platon so betrachtet, als sei sie wirkliche Unbeweglichkeit oder sollte es zumindest sein: Wir wissen, dass der ideale Stadtstaat sich nicht verändern soll. Der Philosophenherrscher, der die Zahl der Bewohner des Stadtstaats und das Maß kennt, das die Verhältnisse zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Klassen bestimmt, so wie er das Verhältnis zwischen den Tugenden und dem Individuum kennt (von nous, thymós und epithymía), dieser Philosophenherrscher hat die Aufgabe, über die Verfassung zu wachen. Es ist das Gesetz, das dem Stadtstaat erlaubt, sich nicht zu verändern, und dies in einer Weise, deren Invarianz uns an die physikalischen Gesetze erinnert. Platon hat tatsächlich das Invariante entdeckt, nun wissen wir aber durch das Beispiel der Naturwissenschaften, dass man Invarianz als charakteristisch für eine physika- lische Theorie erachten kann: Erhaltung der Energie, Erhaltung der Materie, Erhaltung der von Energie und Materie gebildeten Gesamtheit. Für Platon ist die Idee die Invariante 5Anm. M. C.: Also der Relation, in der die erzeugten Dinge ihren ontologischen wie epistemologischen Grund in den Ideen (Gorres) haben. 9 – aber diese Idee gleicht der Struktur der Gruppe, und sie begründet eine metaphysische Soziologie – eine reine Soziologie, die zur Metaphysik geworden ist. Eine solche Auffassung von Form führt zu einem realistischen Idealismus und zur Zurückweisung jeder Möglichkeit eines logischen Empirismus oder einer physikalischen Kombinatorik, die der Leukipps oder Demokrits vergleichbar wäre, welche das Sein ausgehend von Elementen und einer dem Zufall geschuldeten unerwarteten Begegnung konstituiert. Vermutlich war Platon mit seiner Lehre nicht gänzlich zufrieden, denn wir sehen anhand dessen, was Aristoteles uns in den Büchern M und N seiner Metaphysik hinterlassen hat, dass Platon an seinem Lebensende in seiner initiatorischen Unterweisung eine Formel finden wollte, mit der sich das Werden erklären lässt: Anstatt zu versuchen, ganz dem Hier und Jetzt zu entfliehen, wollte er sich in der Sphäre des sinnlich Wahrnehmbaren unsterblich machen. In der Lehre von den Zahlen-Ideen zeigt sich vielleicht das Verlangen, im Werden einen genaueren und wesentlicheren Sinn zu entdecken. Gleichermaßen lässt sich auch das Konzept der unbestimmten Dyade (des Großen und Kleinen, des Heißen und Kalten) – die es erlaubt, das métrion (das begrenzte Maß) mit größerer Genauigkeit zu erklären –, besser als das eidos auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge, ihre Entwicklung und ihr Werden anwen- den. Dennoch ist die archetypische Form das Wesentliche der platonischen Inspiration (zumindest, was die Form anbelangt, die an die Nachwelt übermittelt wurde und zum Platonismus geworden ist), d. h. die Erklärung und Präsentation eines Einflussprozesses, der die vollständige Struktur vor allen und über allen hervorgebrachten Wesen ansiedelt. Hingegen ist die Form im hylemorphen Schema, wie sie sich bei Aristoteles dargelegt findet, eine Form innerhalb des individuellen Wesens, im synholon, dem gesamtheitlichen Ganzen [tout-ensemble], welches das individuelle Wesen bildet. Sie ist génesis und phthord (Wandel, dem Wandel unterworfener Stoff ), Entstehung und Verfall [dégradation] , weder vorgängig noch überlegen, sie ereignet sich innerhalb des Spiels der Interaktion zwischen Struktur und Stoff, innerhalb des sinnlich wahrnehmbaren Wesens. Zudem ist sie streng genommen nicht ewig oder jedenfalls nicht unwandelbar, denn ihr Übergang von der Virtualität zur Aktualität vollzieht sich innerhalb des Individuums. Es gibt sie nicht ohne Verbindung zum Stoff: Den Stoff zieht es zur Form wie das Weibliche zum Männlichen – es gibt also Tendenzen innerhalb des Belebten, das sich als Feld wechselseitiger und komplementärer Interaktion erweist. Wir haben es also nicht mehr länger, wie bei Platon, mit einer vertikalen Relation zwischen dem individuellen Wesen und der Form zu tun, sondern mit einer ‚horizontalen‘ Relation, und diese verbietet es, das Individuum von der Gestalt der Gruppe her zu denken – als einen Mikrokosmos, der das Analogon zum Stadtstaat bildet. In dieser Lehre wird dem individuellen Wesen ausgehend von einer impliziten oder expliziten Biologie Bedeutung verliehen. Steht Platon für eine reine, zur Metaphysik gewordene 10